Folge 35

Die Liebe im frühen 21. Jahrhundert und andere Dummheiten

Unser Kolumnist Rocko Schamoni hat beobachtet, dass in den Köpfen öfter mal Ebbe ist, wenn die Herzen überflutet sind

Ich stehe in der Königsallee in Düsseldorf und beobachte Menschen. Schaue mir ihre alltäglichen Handlungen an. Männer und Frauen verhalten sich unterschiedlich, was mit gesellschaftlicher Konditionierung aber auch mit persönlicher Veranlagung zu tun haben mag. Beim Shopping treten diese Unterschiede unverblümt zu Tage.

Wohlhabende Frauen schleppen ihre Männer zum Beispiel gerne in die teuren Einkaufspassagen der Innenstädte. Vielleicht, um sich beraten zu lassen. Vermutlich eher, um einen willfährigen Träger dabei zu haben. Hier bleiben die Männer häufig vor den Schuh-, Mode- oder Schmuckgeschäften stehen und warten gelangweilt, bis die Frauen ihrem Kaufrausch genüge getan haben. Sie swipen solange auf ihren Handys und träumen von modernen Elektro SUVs und coolen Digitaltools. Manchmal stehlen sie sich auch davon und lungern vor den Auslagen von teuren Uhrengeschäften herum.

Beim Betrachten weiterer Passanten und ihrer Verhaltensweisen fallen mir neue Begriffe ein, die man anbringen könnte – zum Beispiel Sprachdummheit und Raumdummheit. Männer scheinen eher sprachdumm und Frauen eher raumdumm. Was wie ein klassisches Geschlechterklischee klingt, erweist sich in dem Moment als wahr, wenn sich eine raumdumme Frau im öffentlichen Raum verirrt hat und mit irritierter Miene nach dem Weg fragt. Denn dann hat der sprachdumme Mann größte Probleme ihr zu helfen. Er kennt zwar den Raum um ihn herum sehr gut, weiß aber nicht, wie er das sprachlich abbilden kann. Das nennt man eine klassische lose-lose situation.

Über den Stadtgraben im Zentrum Düsseldorfs führt eine kleine Brücke, an deren Metallgitter einige Schlösser festgemacht sind. Ich attestiere eine weitere Unterform des menschlichen Unvermögens: die amouröse Dummheit. Früher musste ein Großteil der Menschen, um sich ein Leben lang streiten und drangsalieren zu können, erst mal heiraten. Da Heirat heute als altmodisch gilt, gehen viele, die sich für‘s Leben binden möchten, zu einer Brücke und schließen dort ein Schloss mit ihren Namen darauf fest.

Das erste Mal habe ich das in Köln beobachtet, auf dieser riesigen Brücke über den Rhein. Man konnte über die Jahre dabei zusehen, wie die Brücke langsam aber sicher zuwuchs. Wie da, wo man früher aus dem Zug einen schönen Blick auf den Rhein werfen konnte, nun ganz langsam eine Wand aus Metall anwuchs, eine Wand aus Metall und Liebe.

Das gibts ja mittlerweile in fast allen Städten: Brücken, die statische Probleme kriegen, durch all die Liebe. Selbst in kleinen Städten werden Metallgitter für diese Möglichkeit missbraucht, und auf Dörfern konnte ich beobachten, wie die Menschen ihre Beziehungen sogar an Zäunen festketteten. Das ist modern love, das ist Hochzeit 2023. Und ich kann es verstehen. Der ganze nervige und kostspielige Aufwand mit den Anwälten, den Eheverträgen, den teuren Festlichkeiten und den abscheulichen Familienfeiern – all das kann man jetzt endlich weglassen: Brücke-Schloss-feddich!

Auch die Schlossindustrie hat durch diese Modernisierung einen Riesensprung nach vorne gemacht, in jedem Schlossgeschäft gibt es mittlerweile „Love Goals“, es werden hunderttausende Schlösser mehr verkauft, das bedeutet Arbeitsplätze und letztlich ein höheres Bruttosozialprodukt.

Wer war wohl der/die Erste war, der/die damit begonnen hat, das muss ein:e echte:r Visionär:in gewesen sein.

Andere, die keinen freien Platz mehr an diesen Brücken finden, schließen ihre Schlösser an denjenigen fest, die zuerst da waren. Das sind also Beziehungen, die an anderen fremden Beziehungen festgekettet sind. An einem Originalschloss aus der ersten Generation hängen dann manchmal bis zu sieben weitere Schlösser dran, das sind – wenn man‘s genau nimmt – Liebesschmarotzer. Beziehungsparasiten. Und wenn heute jemand ihr/sein Schloss von so einer Brücke losmacht und an ihrem/seinem hängen dann noch diverse weitere Schlösser dran, dann sind diese Beziehungen natürlich auch sofort aufgelöst, ob sie wollen oder nicht, das ist eine sprichwörtliche Kettenreaktion.

In kommenden Jahrhunderten wird man müde den Kopf schütteln über die mit Namen übersäten korrodierten Metallklumpen die man unter den Brücken unserer Städte in den Flüssen finden wird und wird wissen:  So ging die Liebe im frühen 21. Jahrhundert.

 

Rocko Schamoni: Liebe & Humor
Rocko Schamoni: Liebe & Humor

P.S. Alle Werke sind geprintet und gerahmt hier bestellbar.

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