Die Mutter der Coolness

An der Schnittstelle zwischen Punk und Pop wurde Debbie Harry in den 70er-Jahren zur Ikone. Koks, Krankheiten und Pleiten konnten den Mythos nicht zerstören. 2011 klingen Blondie angriffslustiger denn je, wie man auf dem Album hört, das diesem Heft beiliegt.

Ich muss mein halbes Leben lang Blondie-Platten gehört haben, hatte sie aber nie auf der Bühne gesehen. Bis neulich. Es war ein Benefiz-Konzert im Londoner Hammersmith Apollo, ins Leben gerufen für eine neuartige Krebstherapie. Headliner waren The Who, davor hatte Jeff Beck eine halbe Ewigkeit seine Gitarre malträtiert, bis schließlich eine ältere Dame mit Sonnenbrille und Leder-Mini auf die Bühne spazierte und anfing, „Heart Of Glass“ zu singen. Die hohen Noten, die die Melodie eigentlich ausmachen, fielen allerdings unter den Teppich.

Ich hätte den Song nicht mal erkannt, wenn nicht das Publikum beim Gesang eingestiegen wäre. Ich dachte nur: „Oh Gott, hätte ich Debbie Harry doch nie live gesehen.“ Aber dann sang sie „Hanging On The Telephone“, und es war hervorragend, und dann „One Way Or Another“, und es war brillant. Ihre Stimme ist inzwischen viel tiefer, heiserer, eher eine Jazz-Stimme – sie wird am 1. Juli immerhin 66 -, aber in gewisser Weise sogar noch besser als zu Blondies Glanztagen. Und sie hat noch immer diese nonchalante „Ihr könnt mich mal“-Attitüde, die Fotograf David LaChapelle dazu animierte, sie als „definition of cool“ zu bezeichnen.

Am nächsten Tag traf ich sie im Savoy-Hotel, wo sie gerade eine Fotosession über sich ergehen ließ. Mit ihrem weißen Bademantel und den eingelegten Haaren sah sie wie eine etwas füllige Omi aus, während Unmengen junger, schöner Menschen um sie herumzwitscherten: Fotograf, Assistentin, Fotoredakteur, Hair-Stylistin, Make-up-Artist, Outfit-Stylistin, PR. Das Wort, das mir im Zusammenhang mit Debbie Harry immer wieder über die Lippen kommen will, ist „mütterlich“ – was etwas paradox ist, weil sie nie eine Mutter war. Aber sie strahlt so etwas wie eine wohlige Teekannen-Wärme aus: Man fühlt sich versucht, ihr alles zu beichten – im Wissen, dass man anschließend wohltemperierte Ratschläge zu hören bekommt. Eingebildet ist sie mit Sicherheit nicht – jeder, der irgendwann mal mit ihr gearbeitet hat, bestätigt, dass sie nie unfreundlich ist.

Auch für ihre Fans hat sie ein Herz: Sie macht sich Sorgen, weil sie draußen im Regen stehen, und fragt auch schon mal, ob sie für die Nacht überhaupt ein Dach über dem Kopf haben. Als die Fotosession beendet ist, bedankt sie sich persönlich bei allen Beteiligten – nicht nur beim Fotografen, sondern jedem einzelnen Assistenten, bevor unser Gespräch beginnt.

Ich lerne schnell, dass Interviews mit Debbie Harry kein Zuckerschlecken sind. Sie weicht keiner Frage aus, ist aber knochentrocken, hat kein Talent zum Plaudern und gibt sich oft mit einsilbigen Antworten zufrieden. Ein typischer Wortwechsel sieht dann so aus: „Laut Wikipedia hatten Sie intime Beziehungen zu Männern und Frauen. Zu wem neigen Sie mehr?“ Antwort: „Männer.“ Und das war’s dann auch schon. Man stellt eine Frage – und bekommt eine Antwort. Was will man mehr? Einmal entschuldigt sie sich dafür, so „unverblümt“ zu sein. Ich sage: Nein, nein, „unverblümt“ ist prima, aber ich wünschte mir schon, sie wäre einen Hauch gesprächiger.

Bald wird sie wieder nach New York fahren, wo sie in Chelsea lebt (in dem riesigen Apartment-Komplex, in dem Hitchcock „Das Fenster zum Hof“ gedreht hat) und sich ständig Songs für Blondie ausdenkt. Sie schreibt die meisten Lyrics, Chris Stein schreibt die meisten Songs, aber auch Beiträge der anderen Musiker sind willkommen. Ich frage sie, auf welches Lied sie am stolzesten ist – und sie nennt ein neues, „Mother“. „Der Text ist kurz und knapp. Es sind nur zwei Verse und dann der Chorus, ganz einfach., Mother, mother, in the night, where are you, where are you, where are you tonight.‘ Es ist nicht gerade Haiku – dafür ist es schon zu lang, aber es ist ganz bewusst reduziert.“ Der Song befindet sich auf „Panic Of Girls“, dem neuen Album, das sie in Eigenregie – und hier im ROLLING STONE – veröffentlichen, weil sie keinen Deal mit einer etablierten Plattenfirma haben.

„Diese Industrie hat sich so unglaublich verändert. Früher gingen wir auf Tour, um ein neues Album zu promoten. Heute sind Konzerte einfach unsere reguläre Arbeit. In gewisser Weise ist es dadurch auch unkomplizierter geworden.“ Verspürt sie so etwas wie Mitleid für diesen geschundenen Industriezweig? „Nein, irgendwie haben sie ihre verdiente Abreibung bekommen.“

Sie sagt, dass ihr Erfolg weit hinter ihrem Bekanntheitsgrad zurückbleibe – was wahrscheinlich stimmt. Andererseits hat sie sich auch nie dermaßen um den Erfolg gerissen wie – sagen wir – Madonna. Blondie verkauften mehr als 40 Millionen Platten, aber Harry war auch völlig zufrieden damit, jahrelang mit einer obskuren Avantgarde-Band namens Jazz Passengers zu singen – und mit ihnen im Mini-Van zu touren oder in der Holzklasse zu fliegen. Mit jüngeren Kolleginnen wie Kelly Osbourne oder Lily Allen tritt sie manchmal bei Spontan-Gigs auf – nur so, einfach zum Spaß.

Seit Jahren redet sie davon, eine Autobiografie zu schreiben, aber als ich sie darauf anspreche, lacht sie nur und schüttelt den Kopf. „Ich habe damit angefangen, aber weil ich nie Tagebuch geführt habe, saß ich nur dumm da, kratzte mich am Kopf und fragte:, Was ist wirklich passiert?‘ Es ist einfach so viel passiert, dass kein Mensch sich daran erinnern kann. Chris hat sicher ein besseres Gedächtnis als ich, und ich war, glaube ich, auch gar nicht daran interessiert, irgendetwas festzuhalten.“ Obwohl mehrere Biopics angedacht waren (in einem Film sollte Kirsten Dunst sie spielen), hat sich bislang nichts konkretisiert.

Es wäre allerdings ein Jammer, wenn ihr Leben nicht dokumentiert würde. Es gibt eine inoffizielle Fan-Biografie namens „Platinum Blonde“ von Cathay Che, die aber bereits 1999 endet. Immerhin buddelte Che einige interessanten Details über Harrys frühe Jahre aus: Sie wurde 1945 in Miami geboren und drei Monate später von Catherine und Richard Harry adoptiert, die in Hawthorne, New Jersey, einen Krämerladen betrieben.

Harry wusste zwar immer, dass sie adoptiert worden war, hatte aber keine Informationen über ihre leiblichen Eltern. 1991 oder 1992 heuerte sie einen Privatdetektiv an, der ihre Mutter auftrieb (der Vater war bereits gestorben), die aber an einem Kontakt kein Interesse hatte. Ihre genauen Worte waren: „Bitte gehen Sie mir nicht noch mal auf die Nerven. Ich möchte meine Ruhe haben.“ Harry vermutet, dass ihre Mutter früh schwanger wurde und dann feststellte, dass ihr Liebhaber verheiratet war und schon sieben oder acht Kinder hatte. Theoretisch hätte sie ihre Stiefgeschwister ausfindig machen können, aber darauf hat sie verzichtet. „Ich sehe keinen Sinn darin. Wie sollte ich mich ihnen gegenüber verhalten? Ich habe Martha, von meinen Eltern (sie meint ihre Adoptiveltern), und sie ist meine kleine Schwester.“

Aber sie räumt ein, dass es sie immer gestört habe, adoptiert worden zu sein – und dass dieses Thema in ihrer langjährigen Therapie auch entsprechend umfangreich zur Sprache kam. „Ich glaube schon, dass es eine Quelle von Angst, auch von Wut war. Ich kann diese beiden Gefühle eh nicht auseinanderhalten, sie scheinen miteinander verwandt zu sein.“ Wut auf ihre Mutter, dass sie ihre Tochter weggegeben hat? „Mag sein, auch wenn sich das nie so direkt geäußert hat. Ich weiß nur, dass es für mich ein zentrales Ereignis war – und dass es passiert sein muss, bevor ich es artikulieren konnte. Ein Trauma in der Kindheit … Von der Mutter verlassen zu werden hinterließ bei mir einen Nukleus von Angst und Verletzbarkeit, den ich nie genauer identifizieren konnte. Ich hatte immer diese Gefühlserinnerungen, die ich nicht einordnen konnte, aber als ich den Ausgangspunkt dieser undefinierten Angst ausmachen konnte, lernte ich auch, damit umzugehen.“

Die Harrys (beide inzwischen verstorben) zogen Debbie groß und erwiesen sich dabei als rechtschaffene, wenn auch strenge und strenggläubige Eltern. Was kein Problem war, als sie noch jung war – sie sang im Kirchenchor -, doch für dicke Luft sorgte, als sie in die Pubertät kam. Sie sei „over-sexed“ gewesen, erzählte sie einmal, nicht wirklich „ein Luder“, sondern eher „ein Freigeist, der seine Überzeugungen auch auslebte“.

Nach dem College zog sie mit 20 nach Manhattan und nahm Gelegenheits-Jobs als Kellnerin und Kosmetikerin an. Ein interessanteres Arbeitsumfeld fand sie in Max’s Kansas City, wo sie unter anderem Andy Warhol kennenlernte. (Das Siebdruck-Porträt, das er von ihr anfertigte, ist immer noch in ihrem Besitz.)

Nach einem kurzen Intermezzo mit einer Folk-Gruppe namens Wind In The Willows trat sie der Mädchenband The Stilettos bei, die regelmäßig in der Boburn Tavern auftrat. Dort lernte sie 1973 dann auch Chris Stein kennen. Sie war 28, er 23 und Kunststudent. Er fragte sie, ob er sie für ein Punk-Magazin fotografieren könne – als „Punkmate of the month“. Sie verliebten sich und wurden ein Paar. Stein schlug vor, selbst eine Band zu gründen, die Blondie heißen sollte.

Sie veröffentlichten ihr erstes Album 1976, aber es war das dritte Album „Parallel Lines“, das wirklich einschlug und mit „Heart Of Glass“ 1979 ihren ersten Nummer-eins-Hit abwarf, gefolgt von einer ganzen Reihe weiterer Ohrwürmer wie „Call Me“. Stilistisch war die Band kaum einzuordnen – ein bisschen Punk, ein bisschen Pop, ein bisschen Elektro -, doch was sie so besonders machte, war dieses unglaubliche Aushängeschild namens Debbie Harry. Jeder Mann im Publikum muss fantasiert haben, was sie wohl mit diesen irren Lippen anstellen konnte. Sie sah so engelsgleich aus – doch gleichzeitig waren da ihre zerrissenen Kleider, die dunklen Haarwurzeln, die sie so gefährlich wirken ließen. Man glaubte damals, dass es Chris Stein war, der Blondie „gemacht“ habe, der ihr Svengali gewesen sei, aber er bezeichnete die Theorie immer als kompletten Blödsinn. „Es war Debbie, die mir immer sagte, was zu tun sei. Und manchmal tut sie das auch heute noch.“

Stein kümmerte sich um die geschäftlichen Belange, Harry war die Botschafterin der Gruppe: Sie konnte die Medien und die Konzertveranstalter umgarnen. Die Situation führte fast zwangsläufig zu Spannungen mit den anderen Bandmitgliedern, die wenig davon begeistert waren, dass alle Aufmerksamkeit von Harry magnetisch angezogen wurde – es ging so weit, dass sie sogar Buttons mit dem Slogan „Blondie is a group“ trugen. Der Stress des ständigen Tourens und Aufnehmens zehrte an ihren Nerven, und dann kam auch noch Chris Steins Erkrankung hinzu.

Es war 1982 – sie tourten gerade, um ihr sechstes Album „The Hunter“ zu promoten -, als er nach einer Show zusammenbrach. Er hatte seit Monaten ständig Gewicht verloren und wog nur noch 65 Kilo; zeitgleich hatten sich auf seiner Haut hässliche Blasen gebildet. Pemphigus vulgaris wurde schließlich bei ihm festgestellt – eine Immunkrankheit, die in der Zeit vor Steroiden als tödlich galt. Stein verbrachte Monate im Krankenhaus und erholte sich erst nach vier Jahren. Harry pflegte ihn, schlief sogar in der Klinik neben ihm, aber beide können nur lachen, wenn man suggeriert, sie habe ihre Karriere für ihn „geopfert“. Sie waren ein Paar, folglich kümmerte sie sich um ihn. Mehr nicht. Er hätte das Gleiche für sie getan.

Tatsache aber bleibt, dass in der Zeit seiner Krankheit auch Blondies Karriere auf Grund lief. Madonna hatte 1983 beim gleichen Label einen Vertrag unterschrieben und schlüpfte nahtlos in Debbies Schuhe. (Noch heute verzieht sich Harrys Gesicht, wenn der Name Madonna fällt.) Stein musste derweil feststellen, dass sich ihr gesamtes Geld wegen eines obskuren Fonds in Luft aufgelöst hatte. Stein und Harry mussten ihr Haus in New York verkaufen, und der Rest der Band suchte mit leeren Händen das Weite.

Ende der Achtziger war man endgültig im Jammertal angelangt. Harry nennt sie ihre „Eiscreme-Jahre“, in denen sie völlig außer Fasson geriet. „Ich hatte eine ausgewachsene Depression. Unsere Plattenfirma ließ uns fallen, unser Manager ging von Bord, das Finanzamt kam an Bord – und Chris war noch immer nicht auf den Beinen. Alles zerfiel in seine Bestandteile – und ich fiel mit. Aber die Eiscreme war super.“

Und dazu gehörten natürlich auch die Drogen. Als sie einmal gefragt wurde, was die Droge ihrer Wahl gewesen sei, lachte sie nur: „Ich habe viele Drogen gewählt.“ Sie erzählt mir, dass sie zu Blondies Glanztagen nie Drogen genommen habe – „wofür ich sehr dankbar bin, weil ich sonst eine komplette Idiotin aus mir gemacht hätte“ -, wohl aber in den Jahren danach, als Stein ans Bett gefesselt war. War sie ein klassischer Junkie? „Absolut. Für ein paar Jahre.“ Sie machte schließlich einen Entzug, und „Chris machte ihn gleichzeitig. Wir hatten beide das Gefühl, dass der Punkt gekommen sei“. Ist sie danach noch einmal in Versuchung gekommen? „Nein. Es gab noch mal eine kurze Phase mit Koks, aber ernsthaft bin ich nie wieder reingeraten.“ Und Alkohol? „Überhaupt nicht. Ich habe dafür nicht die Konstitution. Wenn ich etwas trinke, wird es ein kurzer Abend – kurz und billig.“

Gemeinsam hatten Harry und Stein diese Achterbahn – Erfolg, Absturz, Krankheit, Drogen, Entzug – hinter sich gebracht, nur um sich dann trotzdem zu trennen. Warum? „Ich weiß es nicht. Die Intensität dieser Zeit … Wir waren 15 Jahre lang Tag und Nacht zusammen, waren in Beruf und Liebe verbunden, und am Ende waren wir wohl einfach erschöpft und mussten ausbrechen. Wir standen unter so viel Druck, und alles ging kaputt. Ich werde ihn aber immer lieben, er ist ein wundervoller Mensch.“ War er die Liebe ihres Lebens? „Bislang – ja.“

Nach der Trennung von Stein versuchte sie sich an einer Solo-Karriere, konnte aber nie an den Blondie-Erfolg anknüpfen. Sie spielte in mehr als 30 Filmen mit – wenn auch nur die Rolle als Mutter in John Waters‘ „Hairspray“ in Erinnerung bleibt. (Waters erinnert sich, dass Harry – als er gerade verzweifelt versuchte, Sonny Bono für die Rolle ihres Gatten zu gewinnen – ihm spontan riet: „Sag ihm, ich würde ihm einen blasen.“) Sie machte sogar Werbespots, unter anderem einen für „Sara Lee Cakemix“. Sie sang mit den Jazz Passengers, war aber nicht gerade überlastet, als ein Manager namens Harry Sandler anrief und vorschlug, Blondie sollten sich wieder zusammentun. Es schien allerdings aussichtslos, da einige der anderen Bandmitglieder noch immer verbittert fragten, wo eigentlich ihr Geld geblieben sei.

Aber Sandler hatte schon bei anderen, anfangs ebenso hoffnungslosen Reunions ein Händchen und einen langen Atem bewiesen und holte einen nach dem anderen zurück an Bord. Ihr Comeback-Album war 1999 „No Exit“, das mit „Maria“ auch gleich wieder eine Nummer eins abwarf. Und trotzdem gab es in der Band noch offene Wunden. „Die Schatten der Vergangenheit waren noch immer da, aber wir verstehen, was wir einander bedeuten.“

1998 erzählte sie Cathay Che: „Es war immer meine Philosophie, dass ich irgendwie durc**alten muss … Ich habe mir immer eine Karriere vorgestellt, die nicht schon nach fünf Jahren beendet ist.“ Ein Ziel, das sie erreicht hat. Glaubt sie, dass sie auf diesem Weg auch Fehler gemacht hat? „Tausende und Tausende und Tausende.“ In ihrer Karriere oder im Privatleben? „In allem. Wenn mich früher Leute fragten, ob ich etwas bedaure, sagte ich:, Oh nein, ich bereue gar nichts.‘ Aber inzwischen tue ich es. Ich erinnere mich an Situationen und denke mir:, Gott, hätte ich das doch nur anders gemacht.‘ Was nun nicht bedeutet, dass ich deswegen anfange zu flennen. Immerhin habe ich wundervolle Freunde.“

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