Die neuen Welten

Der äußerst produktive niederländische Autor Arnon Grünberg erfindet sich mit seinem Roman „Mitgenommen“ wieder einmal neu.

Der niederländische Autor Arnon Grünberg ist ein unruhiger Geist. Mit 17 flog er von der Schule, versuchte sich als Schauspieler, gründete seinen eigenen Verlag, schrieb mit 23 den biografisch gefärbten Bestseller „Blauer Montag“, wurde mit Preisen überhäuft, legte sich ein Pseudonym zu (Marek van der Jagt) und bekam die gleichen Preise noch einmal. Er schreibt Kolumnen und Blogs, Theaterstücke und alle zwei Jahre einen großen Roman und holt sich dafür immer wieder Inspirationen im Alltag. In den letzten Jahren verbrachte er einige Wochen als embedded journalist in Krisengebieten, arbeitete als „Zimmermädchen“ in einem Hotel in Murnau, als Masseur, Kellner und Bahnangestellter. „Ich habe eine sehr große Sympathie für den amerikanischen Mythos, dass man sich immer wieder neu erfinden kann“, erklärt der 39-Jährige, der seit 1994 in New York lebt. „Auch wenn das natürlich nicht immer funktioniert. Man hat ja sein Gedächtnis, das kann man nicht so einfach löschen. Aber man kann neue Erfahrungen machen. Es ist schön, nicht nur Schriftsteller zu sein. Wenn sich alles nur noch um Lesereisen, Konferenzen und Schreibtisch dreht, wird die Welt etwas eng und besteht am Ende nur noch aus Papier.“

Sein neuer Roman „Mitgenommen“ erzählt – inspiriert von einer wahren Begebenheit – von Anthony, einem Major der Armee eines südamerikanischen Landes im Bürgerkrieg. Da ihm der Kinderwunsch ob seiner Zeugungsunfähigkeit verwehrt blieb, adoptiert er die Tochter eines von seiner Truppe unbeabsichtigt ermordeten, staatsfeindlichen Ehepaares. Seine Ehefrau ist davon nicht begeistert, das Kind fremdelt, und irgendwie kommen die drei Protagonisten, die sich eigentlich alle das gleiche wünschen – eine Familie -, nicht zusammen. Als Leser wird man buchstäblich gefangen genommen von Anthonys soldatischer Logik, die ausweglos und absurd zugleich erscheint. Grünberg ließ sich hier von seinen Begegnungen mit niederländischen Soldaten in Afghanistan und US-Truppen im Irak inspirieren, über die er für niederländische Zeitungen schrieb. „Anthony ist eine Mischung aus vielen Offizieren, denen ich begegnet bin – dieses Sich-verantwortlich-Fühlen gepaart mit der Angst vor dem Ungewissen. Sie treffen Entscheidungen über Leben und Tod, und zugleich haben sie das Gefühl, ihr Handlungsspielraum sei äußerst klein. Aus dieser Denkweise kommt Anthony auch in seinem Privatleben nicht mehr heraus.“

Was im Kriegszustand einigermaßen folgerichtig erscheint, wirkt im Privaten vollkommen lächerlich. Von dieser Frontstellung lebt „Mitgenommen“ (Diogenes, 22,90). Doch als Anthony schließlich von Aufständischen gefangen genommen und zum Tode verurteilt wird, geht dem Roman die Spannung aus. Etwas unmotiviert folgt Grünberg im weiteren Verlauf den Geschichten von Anthonys Frau Paloma und der adoptierten Tochter Lina, die schließlich ausbüchst.

Was einen als Leser nach Anthonys Ableben über die restlichen der insgesamt 750 Seiten rettet, ist einerseits Grünbergs Fähigkeit, geradezu filmische Szenarien aufzuziehen, vor allem aber der sogartige, durch pointierte Dialoge angetriebene Sprachfluss, der all seinen Romanen – auch in den deutschen Übersetzungen – eigen ist. „Für Leute, die kein Holländisch sprechen, ist das ja keine schöne Sprache. Sie hören nur chrr chrr chrr“, erklärt Grünberg amüsiert seinen süchtig machenden Stil. „Aber es gefällt mir, dass man über diese Beschränkung hinwegkommen kann, indem man Rhythmus und Musikalität in den Text hineinbringt.“

Maik Brüggemeyer

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