Die Romantik der Illegalität

Der US-Autor William T. Vollmann durchquerte den Westen der USA in Hobo-Manier auf Güterzügen.

Auf den ersten Blick scheint der amerikanische Schriftsteller William T. Vollmann ein ziemlich harter Hund zu sein. Seine Reisen in Kriegs- und Krisengebiete auf der ganzen Welt sind schon fast Legende. Bereits mit 23 zog es ihn Anfang der Achtziger nach Afghanistan, wo er den Mudschaheddin im Kampf gegen die Besatzungstruppen der Roten Armee helfen wollte. Mitte der Achtziger lebte er drei Jahre lang im Tenderloin District von San Francisco zwischen Nutten, Zuhältern, Dealern und Abhängigen und rauchte mit ihnen Crack. Bordelle in Thailand und Kambodscha gehörten genauso zu seinen Reisezielen wie eine verlassene Wetterstation am magnetischen Nordpol, wo er sich zwei Wochen lang fast zu Tode fror, um sich in John Franklin und seine Mannschaft einfühlen zu können, als die bei der Suche nach der Nordwestpassage im Eis krepierten.

Wenn William T. Vollmann in seinen Texten, die fast immer Romane, Essays und Reportagen zugleich sind, von Kriegen und Gewalt, von Drogen und Prostitution, den kriminellen Milieus und Kill Zones erzählt, scheint er immer mitten drin zu sein, denn er hat die Fähigkeit, mit seiner Sprache und Beobachtungsgabe Nähe und Authentizität zu inszenieren, wie kaum ein anderer. Nichts wirkt wie kühl am Schreibtisch erdacht, alles riecht, pulsiert, ist von Schmutz und Sünde überzogen. Die Welt ist ein Drecksloch, scheint er zu sagen, da ist kein Platz für kostbare postmoderne Vexierspielchen.

Man könnte ihm fast Naivität und Machismo vorwerfen, bekäme diese Haltung nicht immer wieder Risse und Sprünge, durch die der Leser sehen kann, worum es Vollmann eigentlich geht. Seine Obsession mit Huren etwa erklärt er damit, dass sich in ihnen drei der existenziellen Prinzipien des Menschseins vereinen: Sex, Liebe und Geld. Er nutzt seinen Körper als Experimentiertfeld, um seine persönlichen Ängste zu überwinden und zugleich Antworten auf die großen Fragen nach Identität und den Bedingungen einer menschenwürdigen Existenz zu finden. Ausgangspunkt ist also immer die Person, ja, der Körper des Autors, ganz egal, ob es—wie in seinem Romanzyklus „Seven Dreams: A Book of North American Landscapes“ — um die Besiedlung Nordamerikas geht, oder um die Frage nach der Rechtfertigung von Gewalt gegen sich und andere, die ihn in seiner weit über 3000-seitigen Abhandlung „Rising Up And Rising Down“ beschäftigt.

Vollmann nähert sich seinen Gegenständen nie mit einer vorgefertigten These oder Meinung – seine Texte leben von einer kaum zu stillenden Neugier und einer moralischen Grundhaltung; was sie an Struktur manchmal vermissen lassen, macht Vollmann durch eine direkte poetische Sprache und seine Fähigkeit zur Empathie wieder wett. Selbst einem vielfach analysierten und beschriebenen Thema wie den autoritären Regimes in Deutschland und der Sowjetunion Mitte des 20. Jahrhunderts gewann er in „Europe Central“, das 2005 mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, neue, zutiefst menschliche Aspekte ab.

Nun erscheint unter dem klischeehaften Titel „Hobo Blues. Ein amerikanisches Nachtbild“ (Suhrkamp, 19,80 Euro) die erst dritte deutschsprachige Übersetzung eines Vollmann-Werks.

In dieser literarischen Reportage, die im Original den Titel „Riding Toward Everywhere“ trägt und 2008 erschien, macht der Autor sich auf die Suche nach der großen individuellen Freiheit, die zum amerikanischen Mythos gehört wie der Highway und der Tellerwäscher. In den Zeiten der Bush-Regierung und Post-9/11-Hysterie, in denen „Hobo Blues“ entstand, war diese Freiheit nur noch in der Romantik der Illegalität zu finden, so Vollmann. „Wenn wir als Amerikaner im Namen des Amerikanismus schikaniert werden, weil wir uns die Freiheit zum Handeln nehmen, die uns immer gehört hat, was dann? Nun, klettere auf einen Güterzug und fahr nach Überall.“

Ein kleiner orangefarbener Eimer hilft Vollmann dabei, trotz einiger kleinerer Schlaganfälle, die seinen Gleichgewichtssinn störten, und einem nach einem Bruch immer noch schmerzenden Becken, die Güterwaggons zu besteigen, auf denen er mit seinem treuen Weggefährten Steve den amerikanischen Westen durchquert. Immer auf der Suche nach der alten Verheißung von Freiheit und Abenteuer, die er in den Texten all derer entdeckt hat, die zuvor über dieses Land geschrieben haben — von Jack London bis Jack Kerouac.

Schon in „Whores for Gloria“ (dt. „Huren für Gloria“), einem Roman von elegischer Poesie, den man am liebsten laut vorlesen möchte, stellt Vollmanns Protagonist, der Vietnam-Veteran Jimmy, seiner unerfüllten Sehnsucht nach und bittet Huren, ihm heitere Geschichten aus ihren Leben zu erzählen, um sich daraus die Frau seiner Träume zusammenzusetzen. Doch Jimmv scheitert, weil die Stories, die er zu hören bekommt, nicht mit seiner Sehnsucht korrespondieren, sondern von Gewalt, falschen Hoffnungen und Trostlosigkeit geprägt sind.

Und so wie Jimmy den Huren andächtig lauschte, hört nun Vollmann den Entrechteten und Outlaws. Verlierern und Aussteigern zu, die er während seines Trips an Gleisen und auf Güterzügen trifft, und muss am Ende feststellen, dass sein Sehnsuchtsort, das gelobte Land des amerikanischen Mythos, nur noch in wenigen dieser Stimmen existiert.

Er reist durch ein seltsam traumloses Land, das ihn immer wieder auf sich selbst zurückwirft, auf sein Verhältnis zum Schreiben, seine eigene Geschichte und vor allem seine ungestillten Sehnsüchte. So ist „Hobo Blues“ letztendlich ein Dokument des Scheiterns, so holprig und uneben, ratternd und rumpelnd wie eine Zugfahrt – Metaphern laufen ins Leere, die Sprache versagt, die Gedanken brechen ab, die Träume versiegen. Doch wenn man aus dem offenen Waggon schaut, sieht man dieses fremde schöne Land mit anderen Augen.

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