Die Schmach von Köln

Gefüllte Stadien und Kolossal-Kulissen, euphorische Medien und beschämende Ego-Blessuren: Wolfgang Doebeling erlebte die Stones-Tour 1981/82 u.a. in Köln.

Es hätte ein toller Tag werden können, der 4. Juli 1982. Begonnen hatte er eigentlich programmgemäß, so wie alle vor einem Stones-Konzert. Die üblichen Begleiterscheinungen stellten sich frühzeitig ein. Die Spannung, das Kribbeln, der Adrenalinstau, dessen schlagartige Entladung später zuverlässig dafür sorgen würde, dass sich dieses spezifische Hochgefühl einstellt, dieses Schweben auf Wolke Neun, von dem man schrecklich schwer wieder herunterfindet in die Niederungen des Alltags, von dem sich dort aber eine ganze Weile zehren lässt. Und es war nicht nur die anstehende Show, die zu Vorfreude Anlass gab. Ich hatte einen Termin mit Bill Wyman. Wochen zuvor vereinbart, nachdem meine Interview-Gesuche Mick und Keith betreffend abschlägig beschieden worden waren. Bill indes, so hatte mir sein Büro mitgeteilt, würde sich gern über seine Solo-Platten unterhalten. Gut, dass ich in meinem Schreiben darauf abgehoben hatte. Zum Thema Stones, so hieß es weiter, wünschte er nicht befragt zu werden. Nun, wir würden ja sehen. Jedenfalls ließ sich der Tag äußerst vielversprechend an. Hätte ich geahnt, wie unrühmlich und peinlich er für mich werden sollte, wäre ich nicht am Seiteneingang des Müngersdorfer Stadions vorstellig geworden, um den für mich hinterlegten Backstage-Pass abzuholen. Ich wäre besser zuhause geblieben. Aber der Reihe nach…

Köln war meine fünfte Station auf dieser Tour, nach Berlin, München, London, Frankfurt: Waldbühne, Olympiastadion, Wembley, Festhalle. Die Transformation der Stones von Saal-Artisten zu Massen-Dompteuren unter freiem Himmel war noch nicht abgeschlossen und wurde medial dennoch schon als Sensation gewertet. Rock’n’Roll als Stadien-füllendes, globales Phänomen, Tourneen mit in die Millionen gehenden Ticketverkäufen: eine neue Dimension, wenige Jahre zuvor kaum vorstellbar. „Stones Smash All Records“, schlagzeilte „Newsweek“, der „Spiegel“ titelte „Größte Show der Welt“. Natürlich versäumte kein Kommentator, auf das hohe Alter der Musiker hinzuweisen und auf den schier unglaublichen Umstand, dass diese Band bereits 20 Jahre auf dem Buckel hatte. Und natürlich waren sich die Auguren einig, das Ende der Fahnenstange sei erreicht. Noch älter, lauter, gigantischer? Undenkbar.

Ich war überpünktlich, wurde zuerst in ein Zelt geführt und dort von Bills Assistentin abgeholt. Sie war freundlich, aber sichtbar nervös. Bill sei nicht mit der Band eingetroffen, erklärte sie, sondern in Wien geblieben, um das Opfer eines Verkehrsunfalls, den sein Fahrer verursacht hatte, im Krankenhaus zu besuchen. „Zum Soundcheck wollte er hier sein“, sagte sie, „aber das war vor einer Stunde. Vermutlich hat sein Flieger Verspätung. Du musst dich also leider noch gedulden.“ Kein Problem, war ja erst 18 Uhr, und die Stones würden nicht vor 21 Uhr anfangen.

Also wartete ich in der „Hospitality Area“, wie ein großer, weiß getünchter Raum genannt wurde, in den Katakomben des Müngersdorfer Stadions. Keine Hochstapelei, wie sich schnell herausstellte, denn man kümmerte sich rührend um mich. Belegte Brötchen, Kaffee, Obst, nur vom Feinsten. Und alle 20 Minuten steckte die persönliche Managerin von Mr.Wyman den Kopf herein, um denselben zu schütteln, das hübsche Gesicht von Mal zu Mal besorgter. „Look“, seufzte sie gegen halb acht, „I’m terribly sorry, Bill is not gonna make it for the interview. We’re lucky if he turns up in time for the show.“ Das sei sehr schade, log ich nicht. Sie nickte und sagte, ich könne selbstverständlich hier bleiben und mich am Büffet schadlos halten so lange ich wolle. Was ich dann auch tat.

Keine fünf Minuten später- ich hatte mir gerade ein Käse-Gurken-Sandwich in den Mund geschoben, öffnete sich die Tür schon wieder, und herein kam Mick Jagger. „Hi, I’m Mick“, informierte er mich und streckte mir die Hand hin. Die ich nicht ergreifen konnte, weil ich in der einen das Sandwich hielt, in der anderen eine Tasse. An eine Antwort war ebenfalls nicht zu denken, solange ich den Mundvoll hatte. Also kaute ich schneller, während Mick meine Verlegenheit charmant überspielte, indem er einfach weiterredete. Er habe gehört, dass ich auf Bill warte, der ja nun definitiv nicht für ein Interview zur Verfügung stünde. Aber vielleicht würde ich ja mit ihm vorlieb nehmen, ein paar Fragen könne erbeantworten, zu mehr fehle leider die Zeit. Gern, wollte ich erwidern und: Das wäre wirklich nett. Etwas in der Art. Aber das Käseding war noch nicht ganz geschluckt. Nur Sekunden noch, gleich bekäme er einen verbalen Ausdruck meiner Zustimmung zu hören. Ich legte mir schon die Worte zurecht. „I really appreciate this“, so wollte ich beginnen, indessen Jaggers Lächeln ob der Kalamität mitleidiger wurde. Dann sagte er: „Ich will mich natürlich nicht aufdrängen, vielleicht bist du ja mehr an Bills Meinung interessiert?“ Der Gedanke schien ihn zu amüsieren, denn seine Lippen öffneten sich zu einem breiten, provozierend süffisanten Grinsen, und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Bei mir muss darüber die Hirntätigkeit für einen Moment ausgesetzt haben, denn kaum hatte ich endlich geschluckt, hörte ich mich sagen: „Yeah, but thanks anyway“. Mick Jagger zeigte sich völlig unbeeindruckt, lächelte nun wieder verbindlich und wandte sich zur Tür. „Enjoy the show!“, sagte er noch, dann war er weg, ließ mich stehen wie den letzten Deppen. Was für ein Eigentor. Unverzeihlich.

Lange saß ich da, hörte wie oben ein gellendes Pfeifkonzert signalisierte, dass Maffay auf der Bühne muckte. Erst als Duke Ellingtons „A-Train“ durch die Decke drang, verließ ich langsam den Ort meiner Schmach, erreichte die Tribüne nach dem fünften Song, zwischen „Neighbors“ und „Black Limousine“. Alan Bangs, der neben mir stand, bemängelte den Sound. Mir war’s herzlich egal, mich quälte etwas anderes.

Erst ab Mitte der Show hatte ich mich etwas gefangen, versuchte mich auf die Musik zu konzentrieren. „Time Is On My Side“ klang merkwürdig verhalten, fast distanziert, „Beast Of Burden“ eher schwerfällig. Keiths „Little T & A“ nicht halb so frivol, wie es gemeint war. Nicht einmal das Finale aus „Jumpin Jack Flash“ und „Satisfaction“ holte mich aus der Reserve, das Feuerwerk wirkte wie Hohn. Dies war nicht mein Gig, nicht mein Tag. Abhaken, vergessen. Ging aber nicht.

Als ich die Begebenheit 15 Jahre später Bill Wyman erzählte, sprang er auf, umarmte mich und sagte: „Du hast etwas gut bei mir.“

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