Die Stille nach den Schüssen

Februar 2008 Nach acht Jahren, 74 Stunden und 86 Folgen war endgültig Schluss für den Vorstadt-Paten Tony Soprano und seine ehrenwerte Fernsehfamilie. Eine Grabrede mit der Anleitung eines Überzeugungstäters, wie man noch heute zum Süchtigen wird.

Erfahren wir über das filmische oder literarische Objekt unserer Neugier nicht oft zu früh viel mehr, als uns später lieb ist? Durch dieses Trailer-Dauerfeuer überall? Oder wenn Kulturjournalisten die schönsten Stellen von A bis Z nacherzählen, sodass wir beim späteren Schauen oder Lesen frustrierende Déjà-vu-Erlebnisse haben?

Warum verraten manche Kollegen gar kostbare Pointen? Aus Furcht, Büttel der Kulturindustrie zu sein, solange sie ihre Werkanalysen nicht dergestalt zurechthobeln, dass vom Werk selbst nur Späne bleiben? Aus Gedankenlosigkeit? Oder aufgrund des Gedankens, Fiktion sei a priori kindisch genug – Kunst hin, Kunst her -, um damit nach Belieben verfahren zu dürfen? Oder etwa aus jener Art von „Spaß“, die sonst nur Spielverderber kennen: gespeist aus Neid auf Kreativität, deren Zergliederung sie als Ratio verkaufen – und zugleich auf dass die Einsamkeit des Spielverderbers kompensiert werde, als Bedürfnis der Rezeptionsgemeinde?

Na, na! Na ja, ist doch wahr. Oder höchstens knapp daneben, oder?

Es geht mir um die TV-Serie „Die Sopranos“. Ich liebe sie. Nach rund acht Jahren Laufzeit brutto ging sie 2007 zu Ende. Fünf Staffeln à 13 Episoden sowie eine sechste à zwölf (= Staffel 6.1) plus neun Sonderfolgen (= 6.2). Ich sah die synchronisierte Fassung von 6.1 auf DVD, während im US-Originalsender HBO bereits 6.2 lief. Wochen später war ich nur eine Sekunde zu aufmerksam beim Lesen der „SZ“, und schon gelang es ihrem New Yorker Kulturkorrespondenten, meine Vorfreude auf 6.2 zu trüben (sowie das spätere, unmittelbare Vergnügen daran): Die Überschrift seines Artikels war unverfänglich, nicht so zwar die Unterzeile („Nach 86 Folgen endet das Sozialepos, Sopranos‘ in den USA“), doch der Reflex, einen Blick auf die ersten beiden Sätze zu werfen, war nicht mehr aufzuhalten. Gleich am Anfang das Ende verraten – toller Einfall, Herr Häntzschel.

So, und damit mir bei der „Proselytenmacherei“ (wie Michael Rutschky den sopranofanspezifischen Überzeugungsdrang in der „Taz“ treffend nannte) etwas so Dämliches nicht auch unterläuft, habe ich DisMo4 entwickelt: ein vierstufiges Diskretionsmodell, abgestimmt auf den Kenntnisstand von Interessenten, Anfängern, Fortgeschrittenen und Absolventen.

Sie haben schon davon gehört, aber noch nie eine Folge geschaut – trotz Ihres Faibles für das Kriminalgenre und intelligente Serien? Diese degradiert (knapp, aber definitiv) selbst „Fitz“ zum Vize! Vertrauen Sie mir. Und wenn nicht mir und bis zu 18 Millionen Nordamerikanern, die der jeweils aktuellen Episode folgten, dann dem neulich verstorbenen Norman Mailer, der „Die Sopranos“ als das bezeichnete, was dem great american novel in der heutigen Kultur am nächsten komme. Oder meinetwegen „Vanity Fair“, die von „the greatest show in TV-history“ sprach. Oder Kritikern, die gar den epischen Atem von Balzac und Dickens beschworen, ja, in der Charaktergestaltung Shakespeare’sche Kraft erkannten. Oder unzähligen Jurymitgliedern: Beim Scrollen der Liste von eingeheimsten Emmys und Golden Globes krampft der Mausfinger. Betreten Sie gar nicht erst Stufe 2 des DisMo4, sondern besorgen Sie sich die erste Staffel zur Probe.

Aber Achtung: Der Genuss kann süchtig machen, und sämtliche bei Amazon erstandenen Boxen kosteten mich 248,59 Euro. Dafür schwelgen Sie 74 Stunden lang in Puschenkino des höchsten Spannungs-, Erzählkunst- und Humorniveaus. Ob Sie Urlaub nehmen und sich von der Heizdecke nur zum Popcornbraten entkoppeln oder aber den Vorrat an jenen Polycarbonatscheiben diszipliniert dosieren, bis plötzlich der Sommer vor der Tür steht: Spätestens nach der dritten Folge werden Sie bereits beim Vorspann zittrig. Diese flüchtige Auto-/Kamerafahrt … ein Tunnel, die Skyline von New York, die Twin Towers (rausgeschnitten ab Staffel 4) … die Mautstation New Jersey Turnpike, Hochstraßen, von Weitem die Freiheitsstatue … trostlose Industriearchitektur, ein Friedhof, die Fassade eines Pizzaland … und die Auffahrt zu einer typischen Neureichenvilla.

Dort steigt der Kerl aus, von dem man auf der Fahrt ebenso flüchtige Impressionen sammeln konnte: ein Profil, das an einen Gorillaschädel gemahnt, ein behaarter Unterarm mit Goldkette, eine Faust mit qualmender Zigarre. (Gut, manchmal ist eine Zigarre einfach nur eine Zigarre, wie Freud sich selbst relativierte; meistens aber eben mehr – siehe Bill Clinton …) Dazu die fantastische Erkennungsmusik von Alabama 3. Dieser Bass! Dieser Drive! „Woke up this morning/ Got yourself a gun/ Your mama always said you’d be/ The chosen one/ She said: You’re one in a million/ You’ve got to burn to shine/ But you were born under a bad sign/ With a blue moon in your eyes.“

Als Anfänger machten Sie im Jahr 2000 vielleicht eine Weile den Eiertanz des ZDF mit und mussten nach dem oft eh überzogenen „Sportstudio“ auch noch eine läppische Folge „Eurocops“ oder so abwarten, bis Sie tief in der Nacht die nächste „Sopranos“-Folge genießen durften. Sie wissen also durchaus, worum’s geht, hatten jedoch in irgendeiner jener Nächte mal anderes vor – und waren raus. War man schnell: Eine Folge versäumt, schon verstand man die nächste nicht mehr vollständig. „Denn“, um nochmals Rutschky zu zitieren, „‚Die Sopranos‘ folgen in punkto Erzähldichte den großen Romanen des 19. Jahrhunderts. Anders als die TV-Serien, die man so kennt, bildet jede Folge ein Kapitel innerhalb eines großen Erzählzusammenhangs, den die Staffel als Ganzes entwickelt.“

Entsinnen Sie sich, wie alles begann …? Im Sessel der Psychoanalytikerin Dr. Jennifer Melfi saß dieser Kaventsmann aus dem Vorspann. Steckbrief: Anthony „Tony“ Soprano, um die 40. Größe: 1,84 Meter. Geschätzte zweieinhalb Zentner Muskeln, Bauchspeck, Eier. Dennoch, er wirkte fast harmlos, schlimmstenfalls knuffig. Lag’s an der fehlenden Zigarre? Als Beruf gab er „Berater in der Abfallwirtschaft“ an. Das heißt, er rangierte ganz oben in der Cosa-Nostra-Hierarchie von New Jersey. Kippte allerdings neuerdings ab und zu aus den teuren Pantinen: Panikattacken, mit anschließenden Ohnmächten.

Ohnmacht! Per definitionem das Gegenteil „unserer Sache“. Hat sich was mit „Der Pate,“ Teil IV. Der Mobster der Jahrtausendwende geht zur Therapie und kriegt Prozac verpasst. Und wen die Grundidee „Mobster in midlife crisis“ an „Reine Nervensache“ erinnert, dem gibt Tony persönlich die passende Antwort: „Aber das ist doch ’ne scheiß Komödie!“

Seit dem Siegeszug der Psychoanalyse grassiert das Klischee, dieselbe gebe „die Schuld an allem“ der Mutter. Mit einer solch abgewetzten Schablone eine so frische, höchst komische und plausible Geschichte zu bebildern, das ist einer von etlichen Geniestreichen des Erfinders David Chase (auch Drehbuchautor von „Detektiv Rockford: Anruf genügt“ und „Ausgerechnet Alaska“). Außer in ihren Geschäften, die jeweils historische Anpassungen erforderten, dachte die „ehrenwerte Gesellschaft“ schon immer stockkonservativ – kein Wunder, sicherte doch vor allem das Bewahren ihrer 150-jährigen Struktur aus Hierarchie, Omertà (dem Gesetz des Schweigens) und flankierendem Sittenkodex ihr Überleben. Ebenso wenig verwunderlich also, wenn das einzige der zehn Gebote, das Tony als braver Italo einhält, lautet: Du sollst deine Mutter ehren.

Obwohl Livia Soprano ganz offensichtlich mehr Haare auf den Zähnen hat als Tony am Arsch. Was dessen Generationen altes Über-Ich selbstverständlich leugnet – buchstäblich ums Verrecken. Zumindest bis zum Ende der ersten Staffel. „Sie ist doch nur ’ne kleine alte Lady!“, heult der Topmobster auf, als Dr. Melfi ihm die Augen öffnen will. Doch wenn die ihn nach einer schönen Erinnerung an seine Mutter fragt, fällt ihm bloß ein, wie herzlich sie lachen konnte, als sein Vater einmal die Treppe runterfiel.

Natürlich nicht das einzige Konfliktpotenzial, dem Tony sich in 86 Episoden (je 45 bis 70 Minuten lang) ausgesetzt sieht. Mit derselben Liebe, Klugheit und Akribie schneidet Chase eine Fülle von gesellschaftlichen, sozial- und tiefenpsychologischen, aber auch anthropologischen und philosophischen Aspekten an, gebrochen im Prisma der mafiösen Sondermoral. Die nicht nur Tony betrifft, sondern viele weitere großartige Haupt- und Nebenfiguren. Statt punktuell ihre Charaktermasken abzufilmen, lotet Chase sie langfristig aus, bis in die Untiefen ihrer gebeutelten Psyche, präzise porträtiert und so hinreißend gespielt von jedem und jeder Darsteller(in), dass wir ständig zwischen Hass und Zuneigung, Mitleid und Verachtung, Angst und Abscheu schwanken – mitunter fast so intensiv, wie es Nachbarn täten.

Nancy Marchand etwa ist als Ausbund von Verbitterung und Niedertracht in ihrer Rolle der matriarchalischen Strippenzieherin so hassenswert, dass man intervenieren möchte wie als Kind vorm Kaspertheater. Dass die Lorraine Bracco hinter der filigran nuancierten Dr. Melfi ein und dieselbe ist wie hinter der lauten Gattin des „Good-Fellas“-Protagonisten zehn Jahre zuvor, mag man kaum glauben. Und ist übrigens ein hübsches Beispiel für den Insiderhumor. Wie auch Michael Imperiolis Casting, der in demselben Meisterwerk Scorseses nur dazu dient, dass Joe Pesci ihm erst in den Fuß schießt und dann überallhin: Er darf als Tonys Neffe nicht nur „Good Fellas“-Fan sein, sondern reichlich selber rumballern. Christopher Moltisanti ist in seiner Dreistigkeit, seiner Faul- und Borniert-, doch cineastischen Ambitioniertheit (er schreibt an einem Drehbuch!) eine meiner Lieblingsfiguren, genau wie jener Paulie „Walnuts“ Gualtieri des Tony Sirico (Nebenrolle in „Der Pate II“), ein herrlich subalterner, strohdummer, bauernschlauer, mittelalterlich abergläubischer, geiziger und eitler Capo aus Tonys Mannschaft, dessen pomadisierte Silberschläfen den Flügeln am Helm des Merkur ähneln. (Einmal wird er denn auch als „Götterbote“ bezeichnet – und sie sind alle wie die Götter der Antike, die ehrenwerten Herren von der Cosa Nostra: omnipotent, doch angekränkelt von aller menschlichen Unzulänglichkeit.)

Tonys Consigliere (Berater, rechte Hand) Silvio Dante (sic!) gibt chargierend (und zwar angemessen chargierend, weil der Charakter die Charge ist!) ein gewisser Steven Van Zandt, Gitarrist in Bruce Springsteens E Street Band. Vor Dominic Chianese (Nebenrolle in „Der Pate II“) als Onkel Junior möchte man niederknien, so schnörkellos bravourös spielt er den infamen, präsenilen Interimsboss, der kurz nach der Angstblüte rapide vertrottelt. Tonys geplagte, patente Gattin Carmela verkörpert Edie Falco mit adäquatem Vorstadtcharme, mal süßlich und sentimental, mal herb und derb, und ihre beiden auf unterschiedlichen Stufen pubertierenden Kinder A.J. (Anthony jr.) und Meadow spielen Robert Iler und Jamie-Lynn Sigler optimal.

Ganz zu schweigen von Tony Soprano. Der Begriff „Sopran“ kommt aus dem Italienischen und bedeutet „der Obere“. Um die höchste Tonlage der menschlichen Singstimmen als Metapher aufzugreifen: In seinem Spiel schafft James Gandolfini sämtliche Umfänge locker. Er nimmt seine Figur derart hauteng in Besitz, dass er in Hintergrundinterviews eher gekünstelt rüberkommt. Ja, er agiert so variabel, dass man nie drauf käme, seine Figur in all ihrer Widersprüchlichkeit für unwahrscheinlich zu erklären, sondern für umso überzeugender.

Der einstige Türsteher und bis dato Zweitliga-Schauspieler (heute ein Star, der zuletzt eine Million Dollar pro Folge kassierte) bringt alles unter einen Hut: das leidenschaftlich leichtlebige Lächeln eines Richard Gere (wenn er Frauen charmiert) und den finsteren Ernst eines Al Pacino (wenn er sie belügt); die diabolische Entschlossenheit eines Alain Delon (wenn er eine „Ratte“ mit der Garotte behandelt – und danach den Halspuls prüft wie ein Arzt) und die liebenswürdige Schluffigkeit eines Walter Matthau (wenn er im Bademantel zum Kühlschrank tapert), ja, eine geradezu Oliver-Hardy-hafte Verlegenheit (wenn Dr. Melfi ihn bei einem Selbstbetrug ertappt).

Er könnte die Ikone zum Lemma Hawthornes sein, das auf der Vestibültafel eines Colleges steht, an dem Meadow sich bewirbt: NO MAN CAN WEAR ONE FACE TO HIMSELF AND ANOTHER TO THE MULTITUDE WITHOUT FINALLY GETTING BEWILDERED AS TO WHICH MAY BE TRUE.

Vielleicht haben Sie Ihren Status quo beim Bezahlsender Premiere erworben? (Der nahm ja eines Tages das Heft in die Hand und strahlte „Die Sopranos“ verdienstvollerweise komplett aus.) Oder vielleicht wie ich via DVD? Jedenfalls haben Sie aus wiewohl unverständlichen Gründen noch nicht mitbekommen, dass die Abschlussstaffel 6.2 in deutscher Synchronisation längst bei Premiere läuft und bereits als DVD-Box zu haben ist. Wie auch immer, vorsichtshalber schalte ich Stufe 3 des DisMo vor.

Sind Sie eigentlich drangeblieben, weil „Die Sopranos“ eine Mafiaserie ist oder trotzdem? Oder wäre ‚gleichwohl‘ das Umstandswort? Auf der schöpferischen Seite ist die Motivation jedenfalls klar wie Anisette: Seit seiner Kindheit sind wise guys die Obsession des Mister Chase, geboren 1945 als David DeCesare, aufgewachsen in New Jersey. „These lawless tough guys“, so Chase im „Stanford Magazine“, „were Italian and as a kid, I liked that idea.“ 1931 hatte „The Public Enemy“ (mit James Cagney in der Hauptrolle) ein weiteres großes amerikanisches Kinogenre neben dem Western begründet: den Gangster- oder Mafiafilm. Diese Gattung wird in den „Sopranos“ leitmotivisch reflektiert: Nicht nur, dass „Reine Nervensache“ und „Good Fellas“ erwähnt werden – darüber hinaus verfolgt Tony „The Public Enemy“ im TV. Verlangt von seinem Consigliere, ihn aufzuheitern, der sodann aufs Schmierentheatralischste den Al Pacino in „Der Pate“ mimt. Und sich, zum besonders bezaubernden Beispiel, anhand eines Handlungszitats desselben an seinen Nachbarn rächt.

Diese Cusamanos gehören zum Schlag jener Ärzte und Anwälte, Makler und Broker, die einen dekadenten Kick erleben, wenn sie ihre Saturiert- und Gediegenheit aufs intellektuelle Spiel setzen (ein bisschen wie wir auf der Couch – der Fernsehcouch, versteht sich). In trauter Runde wetteifert man beim Flirt mit dem Bösen, in Abwesenheit gesprächsweise vertreten durch den berüchtigten Nachbarn Soprano. Süffisant klatscht man über dessen „neues Auto jede Woche“, die „Bar mit dem furchtbaren Murano-Glas“ und so weiter – und gruselt sich dabei aufs Geilste.

„The greatest appeal of, The Sopranos“‚, so die „New York Times“ 2007, sei von Beginn an ihr „context“ gewesen: „Organized crime as a low-life milieu that attracts high-minded people.“ Auch in dieser Hinsicht wird die Mattscheibenbarriere durchlässig: Jener high-minded Cusamano samt Statusgenossen lädt Low-life-Tony eines Tages in den exklusiven Golfclub ein. Und dort, so klagt Letzterer in der nächsten Therapiesitzung, habe er sich vorgeführt gefühlt „wie ein beschissener Tanzbär“. Und so sehen wir ihn alsbald daheim ein Päckchen schnüren. Auf Carmelas Frage nach dem Inhalt erwidert Tony: „Sand.“ Für Dr. Cusamano. „Ich sage ihm“, und dann imitiert er den heiseren Tonfall des größten Dons der Filmgeschichte, „er soll es eine Weile für mich aufbewahren …“

Kann man ein Zitat schöner, effizienter einsetzen? Denn natürlich ist es auch als solches gedacht, und zwar als Zitat einer Schlüsselszene in Puzos „Pate“ (dito in Coppolas Verfilmung), als der junge Vito Corleone ein Bündel mit „fünf sorgfältig geölten Revolvern“ für Clemenza verwahrt, was ihm seine Initiation beschert. Dr. Cusamano auch? Dreimal dürfen wir raten.

Mit postmoderner, womöglich tarantinoesker Zitierfreude haben Chases Bezüge allerdings wenig zu tun. Bei Tarantino adaptiert die Kunst die Kunst (bzw. Kolportage), bei Chase ganz traditionell die Kunst das Leben. Denn das Leben der Mobster hat die Kunst adaptiert. Als Identitätstrophäe, wie in Roberto Savianos Bestseller „Gomorrha. Eine Reise ins Reich der Camorra“ nachzulesen: Ob Soldat oder Boss, es sei gang und gäbe, die architektonischen, gestischen und modischen Ideen der Filmkünstler teils fanatisch nachzuahmen. Einer habe für märchenhafte Unsummen den Palast aus „Scarface“ detailliert nachbauen lassen; die Leibwächterinnen der weiblichen Bosse trügen knallgelbe Overalls wie Uma Thurman in „Kill Bill“; die Killer, so wird ein Polizist aus Neapel zitiert, haben „nach Tarantino aufgehört, ordentlich zu schießen! Sie halten den Lauf nicht mehr gerade, sondern schräg und flach“, und dabei werde sinnlos viel Blut vergossen.

Dass der Nihilismus die Hülle als das Wesentliche begreift, wen wundert’s – zumal in unserer neoliberalen, stinkreichen und stetig verarmenden, wertlosen Welt des 21. Jahrhunderts, wo die Vorherrschaft des „Style“ längst besiegelt scheint. Chase macht das zum Thema, und zwar ex negativo: Zwar taugt Tony, trotz seiner von allem Anbeginn einbeschriebenen Gebrochenheit, durchaus zum charismatischen Boss – zu nichts weniger aber als zur Stilikone. Wie seine Mannen ist auch er ein Spießer. Typologischer Wiedergänger von Kater Karlo, kann er einem pferdeschwänzigen Pop- beziehungsweise Pulpcoolness-Träger schwerlich das Duftwasser reichen. Bei Puzo wäre er auf dem Weg zum „alten Schnurrbartpeter“, und seine Herkunfts- und Wirkungsstätte New Jersey setzt seiner Weitläufigkeit enge Grenzen. Aus dieser provinziellen Perspektive bezieht Chase das Potenzial für seine „funkelnde Satire auf die westliche Welt“ („FAZ“): Er spielt zum Beispiel nicht einfach Wertkonservativismus gegen Progressivität aus, sondern die positiven Seiten des Ersteren gegen die negativen des Letzteren. Und zwar von einer verqueren Warte aus – denn der Wertkonservative ist per Sozialisation ein Nihilist: Tony!

Herrlich bigott, wie er im Medikamentenrausch eine „schöne Isabella“ halluziniert, die von den Zitrusdüften der alten Heimat schwärmt! Düften, die de facto der strenge Blutgeruch der Geschichte übertönt, denn in den Zitronenplantagen Siziliens entstand sie, die Mafia: Mitte des 19. Jahrhunderts boomte der Export jener Früchte, und die Bäume machten „hohe Investitionen notwendig“, weil empfindlich und vandalismusanfällig. „Diese Kombination aus Gefährdung und hohen Profiten war ein hervorragendes Umfeld für die Schutzgelderpressung“ (John Dickie, „Cosa Nostra. Die Geschichte der Mafia“).

Vielleicht bewirken gerade die Vielschichtig- und Widersprüchlichkeit, dass der britische Journalist David Southwell in seiner „Geschichte des organisierten Verbrechens“ die Tony-Figur als „sehr glaubhaft“ zu bezeichnen vermag. Als Attribut zeitgenössischer Ästhetik würde es recht altmodisch anmuten. Und doch darf man es getrost auf alle Variablen des Werks übertragen, ohne dass es als Ganzes auch nur im Geringsten altmodisch wirkt. Im Gegenteil.

Wobei eben nicht Tarantino Pate stand, sondern ein anderer großer Name. In den „Sopranos“ hat Blut nie dekorative Aufgaben wie etwa, in geradezu sakramentaler Manier, auf der Stirn einer Uma Thurman. Bei Chase bleibt Blut eine „Sauerei“; unvermeidlich, lästig wie die gesamte Knochenarbeit auf der Werkbank der Metzgerei Satriale’s, wenn Widersacher in entsorgungsfähige Portionen tranchiert werden müssen. Nein, ikonografischer Zirkus ist Chases Sache nicht – sehr wohl aber die Poesie eines David Lynch.

Sowieso war es laut Eigenauskunft „Twin Peaks“, was Chase die Augen öffnete für das Potenzial des Mediums TV. „There is mystery in everything David Lynch does“, erklärte Chase mal. „This sense of the mystery, of the poetic, that you see in a great painting. I think there should be visuals on a show, some sense of mystery to it, connections that don’t add up.“ Damit meint er unter anderem die grandiose Folge „Verschollen im Schnee“, bei der sich jener von Chris und Paulie verfolgte Russe in seiner Eigenschaft als sibiriengehärteter Repräsentant der gefürchteten Nachfolgekonkurrenz im Moment der vermeintlichen Vernichtung quasi in Luft auflöst – und so als ständige Bedrohung erhalten bleibt. „I think there should be dreams and music and dead air and stuff like that goes nowhere. There should be, God forgive me, a little bit of poetry.“

Wunderbar, dieses „God forgive me“, oder? Und noch wunderbarer, wie er sein Postulat umsetzt. Schon die Wahl des Titelsongs – „I believe that you’re feeling fine (shame about it)/ Born under a bad sign/ With a blue moon in your eyes.“

Was Poesie bei mir vermag, ist unter anderem Impulsgebung für Assoziationsblitze. Ist die Evokation eines vagen, aber in einer tieferen Bewusstseinsschicht vielleicht doch bedeutsamen Erlebnisses aus der Kindheit. Einer Familie von Jägern entstammend, kann ich mich noch bildhaft an den ersten Anblick eines erlegten Rehbocks erinnern. Das Einzige, was in seinen erloschenen Augen noch schimmerte, war – ja, eine Art blauer Mond.

A little bit poetry? Ja …, aber: Die Figuren, die Plots und Szenen werden keineswegs versponnen dargestellt, stimmt’s? Nein, trotz ausführlicher Traumszenen, trotz all der Musik und stuff like that goes nowhere herrscht ein bodenverhafteter, unbestechlicher Realismus mit oft satirischen, mal bloß grotesken Spitzen vor. Keine Chance für Glorifikationen, ob à la Coppola alt- oder à la Tarantino neubacken.

Gezeigt wird in Motivschleifen, die durch ihre humorgesättigte Anschauungskraft wirken, wie sehr die im System zwingend nötige Dauerbeugung jeder Wahrheit und Wahrhaftigkeit jedem Mitglied jener „gewissen italoamerikanischen Subkultur“ (NY-Boss Johnny Sack) in Fleisch und Blut übergeht.

Gezeigt wird fast algebraisch genau die ontogenetische, zersetzende Gier nach dem Mammon. Bei Anteilen und Zinseszins hört nicht nur die Freundschaft, sondern fast alles auf. Geld ist die fixe Idee „unserer Sache“. Sie vermag selbst die Liebe zu Frau und Kindern anzuknacksen.

Gezeigt wird en detail das hoffnungslos überalterte Wertesystem. „Unser Ding ist ’ne Pyramide“, erteilt Tony in einer rezessiven Phase nach 9/11 seinen Capos Nachhilfeunterricht in Cosa-Nostra-Historie, „und zwar seit ewigen Zeiten. Die Scheiße fließt nach unten, das Geld nach oben.“ Tja, aber als Berater für Hollywood verdienst du viel schneller, mehr und angenehmer, wie Youngster Chris zu seinem steten Kummer über die endlose Karriereleiter argwöhnt. Die Omerta? Gut und schön, aber als Berater für Hollywood … Ansonsten bleibt alles beim Alten: Respektlosigkeiten? Ausknipsen. Schwul? Ausknipsen. Cunnilingus? Schwul. Ausknipsen.

Gezeigt wird aber auch, wie all die Winkelzüge und Untaten zehren. Schlichte Gemüter wie Paulie werden von okkulten Phänomenen heimgesucht, die jüngere Generation von Drogensucht, etwas feinfühligere Seelen wie Tony von psychosomatischen Attacken und Depression. Und wenn etwa der dicke, hüftlahme Capo Vito Spatafore durch seine Schwulitäten watschelt wie ein Pinguin, ficht einen da nicht etwas wie Mitleid an mit diesem kaltblütigen Killer? Oder wenigstens Ekel mit schlechtem Gewissen?

Das ist im Kern die große Leistung der „Sopranos“: den uralten Kampf zwischen Gut und Böse in all seiner oft hoffnungslosen Komplexität zu zeigen – ihn zu entnazifizieren, indem eine wenngleich nicht unkluge, aber eben naive Psychoanalytikerin auf ganzer Linie scheitert und ihren Patienten nach acht Jahren Behandlung in der 85. Folge zum Teufel jagt, obwohl ihr Ex-Mann ihr schon in der achten prophezeit hatte, dass Soziopathen so nicht heilbar sind.

Als Vertreterin der Aufklärung hat Dr. Melfi zwar ihre Erfolge. Immer wieder geraten Tony Sopranos altüberlieferte Überzeugungen während der Therapie ins Wanken. Doch Fortschritte aus der berühmten kantischen „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ durchzusetzen ist auch als Boss höchst problematisch: Sie werden als Führungsschwäche ausgelegt. Und die ist in diesem darwinistischen System tödlich.

Wer also wird siegen? Wie lautet die Wahrheit? Man weiß es nicht, das ist die Wahrheit. Die Wahrheit ist die Poesie. Und die Poesie, Gott vergib auch mir, ist noch in den schrecklichsten Dingen: Das spurlose Verschwinden einer Person zum Beispiel, in Sizilien bezeichnet es der Volksmund als Mord mit der lupara bianca, der weißen Flinte.

David Chase hält dieses poetische Prinzip von der ersten Folge bis zur letzten Sekunde der 86. durch. Vom bewegenden Bild der Stockenten, deren Nestflucht Tony den ersten Zusammenbruch beschert, bis zu der atemberaubend inszenierten allerletzten Szene – Tony, der den Journey-Song „‚Don’t Stop Believin'“ in der Music-Box drückt; der Mann, der vor A.J. ins Lokal geht und kurz vorm Filmriss noch zur Toilette (wie es einst Al Pacino in „Der Pate“ tat, um eine deponierte Waffe aus dem Spülkasten zu ziehen); Meadows Rangierereien vorm Lokal; Tonys letzter Blick – Ping! Die Türglocke. Und Filmriss. Abspann, diesmal ohne Musik.

Ja, Ping. Nicht Peng.

Ein Schluss, der in US-amerikanischen Bars, Büros und Blogs bis heute diskutiert wird. Ich finde ihn großartig, eben weil so zutiefst poetisch, gerade in seiner exakt choreografierten Vagheit.

Denn wenn es eine endgültige Wahrheit gibt, dann die: Filmriss, Stille – während woanders noch jener Song läuft (Oh, the movie never ends/ it goes on and on and on and on …). So wie es die Wahrheit ist, dass wir alle geboren werden unter dem bösen Zeichen des blauen Mondes in unseren Augen.

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