Die Toten Hosen – Ein kleines bisschen Möbelschau

Im April feiern Die Toten Hosen ihr 30-jähriges Jubiläum mit einer Tournee durch die Wohnzimmer ihrer Fans. Im Gegenzug haben wir die Düsseldorfer Band zu Hause besucht - und mit Campino über Promi-Partys, Hermann Hesse, das Älterwerden und das neue Album "Ballast der Republik" gesprochen.

Am Ende muss wieder alles auf einmal gemacht werden. Die Platte, die Anfang Mai erscheinen soll, will fertig gemischt, ein Video zur Single „Tage wie diese“ gedreht werden. Dazwischen steht der ROLLING STONE vor der Tür und möchte Fotos schießen. In seiner Küche bereitet Campino erst einmal auf seine übliche Art Kaffee zu (Pulver in den Becher, sacken lassen – und den letzten Schluck lieber nicht trinken), Milch muss erst noch organisiert werden, der Sänger war länger nicht zu Hause in Düsseldorf. Er ignoriert ungeöffnete Post und den Kalender, der auf Dezember 2011 aufgeblättert ist, und kümmert sich um das Wesentliche: Erstmals spielt er jetzt das neue Studiowerk vor, das eigentlich aus zwei Alben besteht. „Eineinhalb Stunden Die Toten Hosen ist schon hart, oder?“, sagt der Sänger fast mitleidig.

Ach, was! Immerhin hat die Band allen Grund, auf den Putz zu hauen – und „Ballast der Republik“ tut genau das. Der Albumtitel mag nach schwerer Last klingen, und es gibt natürlich wieder viel Nachdenkliches – das Flüchtlingsdrama „Europa“, die Vater-Sohn-Geschichte „Draußen vor der Tür“ und andere Stücke, die vom Hindernislauf namens Leben erzählen -, aber auch richtige Kracher: „Zwei Drittel Liebe“ erforscht das Verhältnis von Wodka und Leidenschaft, „Schade, wie kann das passieren?“ thematisiert Niederlage und Revanche, „Reiß dich los“ ist ein Appell gegen die Routine. Insgesamt haben die Hosen im 30. Jahr wieder ordentlich Fahrt aufgenommen. Und Mut beweisen sie mit einem zweiten Album, das der Special-Edition von „Ballast der Republik“ beiliegen wird. Auf „Die Geister, die wir riefen“ gibt es 15 Coverversionen – doch wer jetzt an einen zweiten Teil des Punk-Cover-Albums „Learning English“ (1991) denkt, liegt falsch. Die bekanntermaßen anglophilen Hosen haben sich nur Deutsches ausgesucht – und dabei ein extrem breites Spektrum gewählt (Hesse! Kästner! Falco! Kraftwerk!). Aber dazu später mehr.

30 Jahre Tote Hosen also – und fast ein Doppelalbum, eines, das ihre Ausnahmestellung unterstreicht. Kein nostalgischer Rückblick einer Band, die es von der krakeelenden, dilettantischen Punkcombo aus der „Modestadt Düsseldorf“ zu einer deutschen Rock-Instanz gebracht hat, die immer noch die größten Hallen füllt und jederzeit den Headliner bei „Rock am Ring“ geben kann. Seit mehr als 15 Jahren halten sie dieses Erfolgsniveau, das gelingt nicht vielen – und liegt auch daran, dass sie immer noch und mehr als andere bereit sind, sich zu quälen. Auch die 16 Stücke, die zu „Ballast der Republik“ wurden, entstanden in einem mächtig anstrengenden Arbeitsprozess, der wohl noch strapaziöser war, als sie es ohnehin gewohnt sind. „Wir haben uns schon sehr unter Druck gesetzt“, gibt Campino zu. „Zum 30-Jährigen gibt es nun mal eine gewisse Aufmerksamkeit – es sei denn, man beschließt, sich komplett zu verziehen. Aber wenn man schon mal was rausbringt, auf die Tröte haut und eine Wohnzimmer-Tour macht und so weiter, dann wird einem auch auf die Finger geschaut. Da muss man etwas abliefern. Gleichzeitig wird man immer mit diesem Rückblick konfrontiert, mit unserer Geschichte – und will doch nicht wehmütig werden. Letztendlich muss man nach vorne schauen. 30 Jahre? Scheißegal, wir wollen jetzt Spaß haben.“

In mehreren Runden machten sich die Hosen ans Songschreiben und Aufnehmen und verwarfen immer mehr, als sie behielten – Campino schätzt, dass sie um die 150 Ideen und Ansätze hatten, er nennt es eine „Materialschlacht mit viel mediokrem Scheiß“, die sich lange hinzog. Auch, weil die Musiker inzwischen ein Leben neben den Hosen haben und damit eine andere Zeitrechnung: „Bevor ich einen Sohn hatte, war ich hundertprozentig für die Band da. Drei Monate Üben hieß da drei Monate Üben. Jetzt geht da mindestens ein Drittel der Zeit weg, in der ich bei meinem Jungen bin, und Vom und Kuddel geht es mit ihren Familien genauso. Dazu liegen die Ferien in Berlin oft anders als die in Nordrhein-Westfalen, und plötzlich wird ein Jahr sehr kurz.“ Zum Schluss wurden alle ein wenig nervös – was wahrscheinlich nötig ist, um das letzte Quäntchen Kreativität herauszuholen. Einen echten Helfer fanden sie in Vincent Sorg, der schon beim vorigen Album „In aller Stille“ (2008) die Regie übernahm, nachdem die Band sich von ihrem langjährigen Produzenten Jon Caffery getrennt hatte. Alle sprechen nur in höchsten Tönen von Sorg, der Geduld und Kritik mitbringt, zurückhaltend und sensibel ist, immer das Richtige zu sagen weiß. Nur ein paar Mal geriet er im Studio mit Campino aneinander – „aber da ging es dann nicht um unsere Songs, sondern darum, wer mehr Einfluss auf die Rockmusik hatte, Queen oder die Sex Pistols. Ich muss jetzt wohl nicht erwähnen, wer welche Position eingenommen hat! Da sind wir uns nachts um zwei fast an die Gurgel gegangen. Er kam immer mit Verkaufszahlen, und ich sagte, das kann kein Argument sein. Was hat, We Are The Champions‘ schon in der Welt bewegt, außer eine Feiermelodie zu sein? Bei diesem Thema gehen wir uns jetzt lieber aus dem Weg. Ansonsten läuft alles sehr konstruktiv ab.“

Wenn man langsam betriebsblind wird, wer teilt einem dann ehrlich mit, ob die Stücke gut sind oder nicht, wie die Arrangements noch zu verbessern sind? Auf Augenhöhe, wie man so schön sagt? Als Vincent Sorg im Herbst vergangenen Jahres sehr mit anderen Produktionen beschäftigt war, fanden die Hosen in Tobias Kuhn neue Verstärkung. Die Wahl scheint erst mal überraschend: Ein sanfter Songschreiber, der mit Miles und Monta kleine Erfolge gefeiert hat – und große als Produzent der Sportfreunde Stiller, von Tomte und Thees Uhlmann. Campino traf ihn – es klingt wie ein Klischee – auf einer Gartenparty von Wim Wenders, bei der Kuhn (der schon die Musik zu Wenders‘ Film „Palermo Shooting“ komponierte, in dem Campino die Hauptrolle spielte) auftrat.

Als „schön und selten“ bezeichnet Campino die Erfahrung, dass sie bei diesem Album gleich drei Leute fanden, mit denen sie sofort problemlos zusammenarbeiten konnten. Es kommt ja eher selten vor, dass sich eine etablierte Band eingesteht, dass sie Beistand brauchen kann – und dass Kritik von außen häufig mehr bringt als die ewige Selbstkritik. Die Hosen wollen nicht permanent im eigenen Saft schmoren – und lassen sich dennoch natürlich auch gern daran erinnern, dass sie ja Meister ihres Fachs sind, wie Campino zugibt: „Wenn wir denken:, Nicht schon wieder ein Oh-oh-Chor!‘, dann sagen die:, Warum nicht, das ist doch euer Trademark!‘ Es schadet nicht, sich auch mal wieder an die Hand nehmen zu lassen, wenn man gerade ein bisschen Orientierungsprobleme hat.“

Doch der erstaunlichste Neuzugang ist sicher der dritte externe Mann: Marten Laciny, bekannt als Rapper Marteria oder Marsimoto, hat Campino bei ein paar Texten unterstützt. Wie so oft war Campino zunächst unzufrieden mit seiner eigenen Arbeit, das ist er eigentlich immer, aber diesmal war es wohl besonders schlimm: „Ich habe vor allem einen Austausch vermisst – jemanden, mit dem ich über die Texte sprechen kann. Das ist in der Band bedingt möglich, aber das sind nicht die Pingpongspieler, die ich brauche. Irgendwann kam mir eine Marteria-Platte unter, und ich fand die Texte super.“ Ein Freund Campinos, der Berliner Radiomoderator M.C. Lücke, organisierte ein Treffen, die beiden verstanden sich sofort und verabredeten sich prompt zum Gedankenaustausch.

Auf den ersten Blick ja eine kuriose Verbindung: Der robuste Rostocker HipHopper, der bei Hansa fast Profi-Fußballer geworden wäre und zwischenzeitlich als Model arbeitete, und der geradlinige Düsseldorfer Punkrock-Papa, der seit 1982 (Lacinys Geburtsjahr!) mit den Toten Hosen um die Welt zieht. Aber lange darüber nachgedacht haben sie nicht. Möglicherweise hätten sie sonst auch überlegt, ob die konservativen Hosen-Hörer von der Vorstellung, dass plötzlich so ein junger Rapper bei ihren alten Helden mitmischt, abgeschreckt werden könnten. Doch sein Instinkt sagte Campino, dass er hier einen Verbündeten gefunden hatte. Also fingen die beiden einfach an, Songs zu entwerfen, andere zu überarbeiten. Im Nachhinein wundert sich Campino selbst ein wenig, wie gut das klappte: „Man braucht ja unheimliches Vertrauen und muss auf einer Wellenlänge sein. Ich habe das vorher noch nie erlebt – dass ich so intensiv mit jemandem zusammensitze und die Bälle hin- und herspielen kann. Einmal sind wir nach Liverpool geflogen – Liga-Cup-Halbfinale, gegen Manchester City – und haben in der Maschine, mit einem Rekorder zwischen uns, Zeilen hin- und her geschossen und so, Ballast der Republik‘ geschrieben.“

Der Titelsong ist das Herzstück des Albums – und war gleichzeitig einer der schwierigsten: „Wir hatten beide das Gefühl, dass wir etwas über die Stimmungslage in Deutschland schreiben wollen, ohne dass es etwas wird, das morgen schon wieder überholt ist. Das Tagesgeschehen kann man als Band ja schlecht kommentieren. Es ging also um ein Gefühl, das länger Bestand hat. Und die Kombination war ja schon witzig: Marten aus Rostock und Andreas aus Düsseldorf behandeln das Thema, Wie fühlt man sich in dieser Republik?‘. Letztendlich tragen alle, ob aus dem Osten oder Westen, nach wie vor diese Geschichte herum, das spielt sich immer noch in den Köpfen ab. Ob Wirtschaftswunder oder 1. Mai – alles hat denselben Ursprung, alles ist die Konsequenz der Geschichte. Dass man das bis heute spürt und das alles noch lange nicht verarbeitet ist – darum geht es.“

Überraschenderweise führte die Zusammenarbeit mit Laciny dazu, dass auf dem Album nun noch mehr Campino zu finden ist. Im Song „Das ist der Moment“ gibt es einige Zeilen über seinen Alltag als Vater – die er selbst vielleicht verworfen hätte, aber dann fragte er Marten nach dessen Meinung, und der ließ das Argument „Das ist ja nun gar nicht Rock’n’Roll“ nicht gelten: „Er sagte: ‚So ist es doch in deinem Leben.‘ Man kauft die zweite Strophe, in der es über die Vorbereitung auf ein Konzert geht, genau wegen diesem Kontrast – weil erst mal klargestellt wird, dass man ein Leben wie alle anderen lebt und aber eben noch diese schönen Momente hat, in denen man den dicken Hans machen darf. Für die Platte ist das auch deshalb wichtig, weil wir nicht irgendwas darstellen wollen, was wir nicht sind. Ich verstecke mein Leben nicht und tue so, als wäre ich noch der, der mit Ende 20 durch die Gegend gesprungen ist.“

Das Lied spannt den weiten Bogen von den Anfängen der Toten Hosen mit der ersten Single „Wir sind bereit“ bis zu ihren Triumphen bei „Rock am Ring“ – und das hinzubekommen, ohne dass es nach Angeberei klingt, ist keine kleine Leistung.

Bei den Liedern, die auf dem zweiten Album zu finden sind, werden sich Punkrock-Freunde vielleicht erst mal die Augen reiben: Die Hosen spielen Hermann Hesses „Im Nebel“. Und es klingt wie eines ihrer eigenen Stücke. Schon irre, oder? Campino winkt ab: „Ich habe mir beim Lesen des Gedichtes sofort vorgestellt, wie es vertont werden muss, und in keinem Moment an eine Mutprobe gedacht, weil die Worte einfach so schön sind – von allen Liedern war dieses das angenehmste zum Singen. Da habe ich mich im Studio richtig wohlgefühlt. Auch beim Rest der Band gab’s keine Ressentiments, das war sofort willkommen. Bei uns findet man ja immer wieder Lieder, die Depressionen behandeln oder Einsamkeit. Querschüsse sind bei uns immer erlaubt. Es gibt eigentlich meistens nur Diskussionen, wenn es in den Bereich, Lustigsein‘ geht.“

Ein bisschen lustig wird es auf dem Coveralbum auch, vor allem ist die Auswahl aber sehr kurzweilig. Natürlich werden die alten Kollegen aus Düsseldorf gewürdigt – Mittagspause, Male, S.Y.P.H. -, es ist allerdings auch Falcos „Amadeus“ dabei und das „Model“ von Kraftwerk, Hannes Waders „Heute hier, morgen dort“ und Erich Kästners „Stimmen aus dem Massengrab“. Die Mischung entstand, weil die Hosen sich an eine längst verworfene Idee erinnerten: „Ich hatte früher mal den Wunsch, ein Konzeptalbum zu machen mit den interessantesten Texten aus 200, 300 Jahren deutscher Geschichte: Brecht/Weill natürlich, Heinrich Heine. Damit haben wir uns eine Zeit lang befasst, aber dann habe ich gemerkt, dass wir es nicht schaffen, den Staub aus den Texten rauszuklopfen. Das Wichtigste war für uns, dass der Hörer überhaupt nicht merken sollte, dass es kein Tote-Hosen-Stück ist, es sei denn, man hört aufmerksam zu. Dass man nicht denkt: Aha, jetzt geht die Deutschstunde los! Bei Heine ging das gar nicht gut, und selbst die Texte aus der, Dreigroschenoper‘ wirkten mit der Band hölzern gespielt. Damals haben wir die Idee dann verworfen. Aber jetzt, dieses Jubiläum, ist ein guter Moment, sich nicht selbst abfeiern zu lassen, sondern andere abzufeiern. Anderen Leuten die Ehre zu erweisen., Schrei nach Liebe‘ von den Ärzten haben wir zum Beispiel relativ 1:1 nachgespielt, da geht es vor allem um die Geste: den alten Kollegen einen netten Gruß rüberzuschicken.“

In diesem Jahr werden die Hosen und ihre ewige Konkurrenz aus Berlin zum ersten Mal seit langem fast zeitgleich ein Album veröffentlichen – ein Umstand, der Campino keine schlaflosen Nächte bereitet. Sie verstehen sich mittlerweile gut mit den Ärzten. Es gibt ja auch keine andere Band, deren Karriere so ähnlich – und so erfolgreich – verlief wie ihre eigene. Wobei die Hosen bei mindestens einer Aktion die Nase vorn hatten: Sie gründeten schon 1995 ihre eigene Plattenfirma, JKP. Ein kleiner Rückblick muss jetzt doch erlaubt sein, schließlich war das ein schlauer Schachzug damals – der nicht alle begeisterte, wie Campino sich erinnert: „Die Musikindustrie war stinksauer. Die großen Firmen sagten, wir wären die Totengräber der Branche, und wenn uns die anderen – also die, die wirklich Umsatz machten – nacheiferten, wäre das das Ende. Ein egoistischer Standpunkt. Im Grunde sind wir einfach ein bisschen schneller gewesen als die anderen – wir haben früh erkannt, dass Plattenfirmen sich ändern müssen. Unser Label war eine Rundumbetreuung, so wie das heute oft gemacht wird. Es geht nicht mehr nur um die Platten, sondern auch um die Tourneen und so weiter. Wir haben damals dann deutlich besser verdient, obwohl Virgin für die Leistungen auch nicht mehr eingesteckt hat als andere Firmen. Doch der Prozentsatz war schon beachtlich – vor allem, weil wir ohnehin schon viel selbst gemacht hatten. Warum also nicht alles unter eigener Regie?“

Heute, da immer weniger Tonträger verkauft werden, fragen sie sich schon manchmal, wie lange sie sich den großen Apparat noch leisten können. Natürlich betrifft die etablierten Hosen der Einbruch der Absatzzahlen weniger als all die neuen Bands, die sich erst noch ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, aber Campino macht sich keine Illusionen: „Die Träume der Neunziger sind auch bei uns ausgeträumt – als man noch dachte, das wird immer größer, wir nehmen noch weitere Bands unter Vertrag und so weiter. Wir haben gemerkt, dass wir uns gerade um uns selbst kümmern können und vielleicht noch um die, die nirgends sonst Zuflucht finden oder unbedingt mit uns arbeiten wollen. Aber für große Signings ist keine Zeit da. Und wir müssen auch sehen, dass wir als Plattenfirma keine harten Einschnitte machen müssen wie fast alle anderen. Dass wir unsere Leute, die seit eh und je mit uns unterwegs sind, halten können.“

Das Geschäftsmodell der Hosen ist nämlich immer noch ein Netzwerk aus Freunden: Man kennt sich seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Loyalität ist hier keine Phrase, sondern ein Konzept – ein Umstand, der hin und wieder übersehen wird, wenn Die Toten Hosen als Großverdiener abqualifiziert werden, die ihre Punk-Ideale längst vergessen haben. Natürlich können sie sich schöne Wohnungen leisten, natürlich müssen sie ihre Klamotten nicht mehr selbst zusammenschneidern, und Rebellion wird schwierig, wenn man das Leben führt, das man sich gewünscht hat. Aber bedeutet genau das nicht, dass man alles durchgesetzt hat, was man wollte, zu den eigenen Bedingungen? Statt für „no future“ haben sich Die Toten Hosen früh dafür entschieden, sich ihre eigene Zukunft zu basteln, in der sie ihre Regeln selbst aufstellen. Trifft man die Bandmitglieder, entsteht nie der Eindruck, sie hätten sich für ihr Leben verbogen oder verbiegen lassen. Sie haben sich schlicht weiterentwickelt. Sie haben viel richtig gemacht und etwas Glück gehabt. Das hat alles wahrscheinlich nicht viel mit Punkrock zu tun – aber nach 30 Jahren immer noch „Bullenschweine“ zu grölen, wie die Kollegen von Slime? Campino erinnert eher an Paul Weller oder Noel Gallagher. Die verstehen sich heute noch als „working class“, obwohl sie Multimillionäre sind – alles eine Frage der eigenen Haltung. Und die wechselt man nicht wie ein Paar Turnschuhe – zumindest nicht, wenn man Charakter hat. Das ist wohl einer der Gründe, warum Die Toten Hosen, die ein Best-Of-Album einst „Reich & Sexy“ nannten, von ihren Anhängern immer noch als Teil der eigenen Kultur verstanden werden – und deshalb wie Kumpel geliebt werden, die nur zu selten auf ein Bier vorbeischauen: Man spürt, dass sie sich tatsächlich daran erinnern können, wie es sich auf einem Fußboden schläft und was es bedeutet, wenn das Geld einfach nicht reicht. Das sorgenfreie Leben gönnt man ihnen, weil man das Gefühl hat, dass sie sich den Luxus ohne faule Kompromisse verdient haben und notfalls darauf verzichten könnten. Was in absehbarer Zeit wohl nicht nötig sein wird.

Aber wie wird es für die Band weitergehen? Wie lange wollen sie noch? Diese Frage wird den Toten Hosen seit gefühlten Ewigkeiten, mindestens aber seit 20 Jahren gestellt. Bisher haben sie bei jeder Tournee bewiesen, dass ihre Art von Punkrock mit dem Älterwerden gut vereinbar ist, und warum aufhören, solange die Hallen voll sind und die Energie noch abrufbar? Im Juni wird Campino (als Erster der Band) 50, das ist nicht weiter schlimm, denn mit ihrem Leben und ihrer Karriere können sie ja zufrieden sein – obwohl es durchaus Momente des Zweifels gibt, was die Zukunft betrifft. Campino gibt das ehrlich zu, sagt aber auch: „Ich bin da relativ offen. Dass es endlos so weitergeht, kann ich mir auch nicht vorstellen. Am liebsten sage ich gar nichts dazu. Aber es könnte schon sein, dass wir in fünf Jahren mal entscheiden, dass wir mit der Kraft, die wir noch haben, noch mal etwas anderes erleben wollen. Das muss man sehen. Ich kann nicht beurteilen, wie sehr ich die Musik vermissen würde. Wobei ich jetzt schon feststelle, dass es mehr Kraft als früher kostet, das alles zusammenzunageln. Früher haben wir manches mit links rausgehauen und nebenbei noch Party gemacht. Aber ich will heute auch gar nicht mehr so funktionieren. Jeder von uns hat inzwischen ein Leben neben der Band, das immer mehr Raum einnimmt, und das ist okay so. Ich will nur nicht, dass deshalb das Ergebnis nachlässt. Da haben wir zu viel zu verlieren. Wir wollen uns nicht mit halbguten Sachen zufriedengeben.“

Für einen Mann, der praktisch sein komplettes Erwachsenenleben mit der Band verbracht hat, müsste es eigentlich eine beängstigende Vorstellung sein, irgendwann allein dazustehen. Aber so hoch will Campino das nicht hängen: „Ich mache ja hin und wieder Urlaubserfahrungen ohne Die Toten Hosen. Die acht Wochen, Palermo Shooting‘ zum Beispiel oder das halbe Jahr bei der, Dreigroschenoper‘ – Dinge, bei denen ich danach auch mit der Kritik alleine stand. Da lernt man, die anderen zu vermissen. Als Kollektiv erträgt man den Druck doch deutlich besser. Andererseits sind die Ferien immer sehr schnell vorbei, die könnte man schon ausdehnen. Breiti, Andi und ich sind ja immer sehr reiselustig gewesen, und bei einem Trip durch Australien oder Indien vergeht die Zeit rasend. Wir würden uns also sicher eine Weile beschäftigen können. Aber ich weiß nicht, wie es wäre, wenn ich definitiv wüsste: Die Toten Hosen gibt es nicht mehr. Manchmal denke ich, das könnte klappen. Manchmal denke ich: Hoffentlich dauert das noch ein bisschen!“

Wahrscheinlich gab es in den 90er-Jahren häufiger Momente, in denen sich das eine oder andere Bandmitglied fragte, wie lange man das aushalten kann – zu Zeiten von „Opium fürs Volk“, als MTV und VIVA noch Zuschauer hatten, spürten die Hosen, was Hits wie „Alles aus Liebe“ und „Zehn kleine Jägermeister“ anrichten können. „Wir haben damals diese Teenie-Hysterie mitgemacht, als die, Bravo‘ jede Woche irgendeinen Scheiß berichtet hat. Damals gab es zwar noch nicht so viele Handys, aber jede Menge Gekreische. Das fällt jetzt zum Glück weg.“ Heute fragen die Leute mal nach einem Foto oder Autogramm, und das war’s. Auch die Boulevard-Presse meldet sich nicht mehr so häufig in Düsseldorf, weil es dort einfach nichts zu holen gibt: „Wir haben immer Grenzen gezogen. Nimm zum Beispiel die, Bunte‘ – die hat so viele Menschen, die darum betteln, da reinzukommen, die sich da gut platziert fühlen, die brauchen sich mit anstrengenden Leuten wie uns nicht zu befassen. So wichtig sind wir auch nicht, und damit können wir prima leben. Breiti und Kuddel sind ja schon immer sehr zurückhaltend gewesen. Bei mir hat meine Position eher mitgebracht, dass man exponierter in der Öffentlichkeit steht und mehr dargestellt wird. Auch sich dargestellt hat. Aber ich bilde mir ein, dass ich den Leuten immer ganz gut zu fressen gegeben habe, ohne wirklich ans Eingemachte zu gehen. Bei mir gab es immer eine Zone, von der ich wusste: Die gehört nur mir.“

Er bekommt immer noch reichlich Anfragen für Talkshows, doch die Zeiten, als man ihn häufiger im Fernsehen sah, sind vorbei. Heute kann Campino die inflationär stattfindenden Gesprächskreise nicht mehr ertragen: „Mittlerweile bekommt man ja einen Brechreiz, wenn man einen Moderator in seiner Quasselrunde sieht mit immer denselben Gesichtern und Konstellationen. Es gibt so eine gewisse Fernsehfamilie – und da muss man nicht dazugehören. Egal wie gut die Themen sind, man bekommt Aggressionen, wenn sich immer wieder nur dieselben dazu äußern. Ich glaube, ich war auch sensibel an der Kante, so wahrgenommen zu werden und zu nerven. Ich bin da hingegangen, weil ich eine Intention hatte und meine Gedanken rüberbringen wollte, aber ich habe mit der Zeit gemerkt, dass auf lange Sicht nicht das Fernsehen von mir ausgenutzt wurde, sondern ich vom Fernsehen. Ich habe den Kampf verloren, weil man mir immer weniger abgenommen hat, was ich sagen wollte. Nach dem Motto: Vorgestern redet er über Castor-Transporte, heute über Afrika – da war die Schlagkraft einfach weg.“

Noch immer setzt sich Campino für verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen ein, aber er muss nicht dauernd im Fernsehen darüber reden, auch rote Teppiche langweilen ihn heute. Er gibt allerdings zu, dass das nicht immer so war: „Ich wollte eine Zeitlang diese große, weite Welt erkunden. Ich fand es spannend, mit Gerhard Schröder in einer Sendung zu sitzen oder so eine Preisverleihung anzuschauen. Im Gegensatz zu den anderen Hosen – die sind da immer schneller weg, als man gucken kann. Was soll’s: Ich habe die Kurve gekriegt, und jetzt interessiert es mich einfach nicht mehr. Diese angeblich faszinierende Welt der Prominenten – die ist nichts außer Verpackung, und wenn du die zur Seite reißt, ist meist nichts dahinter. Aber das muss man erst mal rauskriegen! So funktioniert doch das ganze Prinzip VIP: Alle wollen immer bei den Wichtigsten dabei sein, nicht nur im 1. Stock im abgesperrten Bereich, sondern auf der höchsten Ebene, wo dann der Star oder der Boss mit einem armen Freund und zwei blassen Models sitzt, um ein bisschen zu koksen. Da ist es nur öde. Das wissen allerdings nur die wenigsten, weil die Mehrheit nie dort hinkommt. Ich steige lieber gleich im Erdgeschoss aus.“

Gesagt, getan: Statt sich mit Prominenten zu umgeben, besuchen Die Toten Hosen demnächst ihre Fans. Am 10. April spielen sie im – für ihre Verhältnisse winzigen – Bremer Schlachthof, wo 1982 ihr erstes Konzert stattfand, und danach geht es auf „Wohnzimmertour“. Mehr als 4.000 Einladungen haben sie bekommen, etwa 18 Stationen sind schon ausgewählt. Sie werden bei Fans von Island bis Österreich aufschlagen, mal bei einer freiwilligen Feuerwehr, aber auch im 6. Stock eines Plattenbaus. Klingt anstrengend? Wird es sicher auch, doch man sollte den Sportsgeist der fünf nicht unterschätzen. Campino freut sich jedenfalls auf die kleine Tournee: „Unterwegs werden wir uns dann vielleicht schon mal fragen, ob wir das wirklich wollen – wenn die Realität zuschlägt. Aber wir waren lange nicht unterwegs, da wollen alle mal wieder losziehen. Die Besonderheit der Situation ist den Leuten genauso klar wie uns – die haben sich unglaubliche Mühe mit den Einladungen gegeben. So eine Euphorie kann einen nicht kaltlassen.“

Und wie reagieren diese Leute dann, wenn die Hosen auftauchen? Den Grad der Aufregung kann Campino sich vorstellen, trotzdem hält er den Ball lieber flach: „Wenn man die Typen trifft, die man gut findet, ist die Gefahr natürlich immer groß, dass die sich als Idioten entpuppen. Aber in der Regel sind die Menschen nicht enttäuscht von dem, was dann vor ihrer Haustür steht. Ich versuche allerdings, gar nicht so viel darüber nachzudenken, was die Leute an uns finden und warum sie uns schon so lange die Treue halten. Ich nehme es einfach als Wahnsinnsgeschenk.“

Was zählt

Einmal Schlachthof und zurück:

10 entscheidende Hosen-Momente

10.4.1982: Das erste Konzert

Legendär, aber höchstwahrscheinlich musikalisch kein Hochgenuss: Im Bremer Schlachthof spielt die Band zum ersten Mal als Die Toten Hosen. Noch ist Breiti gar nicht dabei, sondern Walter November, der gar nicht Gitarre spielen kann. Angekündigt werden sie als „Die Toten Hasen“.

1984: Der (erste) Skandal

Als die Hosen bei der „John Peel Show“ der BBC auftreten, verärgern sie den legendären DJ, indem sie unter anderem „Hofgarten“ spielen, ohne Peel den Text zu erläutern („Ficken, Bumsen, Blasen/ Alles auf dem Rasen …“). Der ist nicht amüsiert von der „breathtaking vulgarity“ und spielt fortan nie mehr einen Hosen-Song.

1988: Der Durchbruch

Mit dem Konzeptalbum „Ein kleines bisschen Horrorschau“, das sie für eine Inszenierung von Anthony Burgess‘ „A Clockwork Orange“ schreiben, gelingt den Hosen der große Durchbruch – und das erste Top-Ten-Werk. Um die „Ausverkauf!“-Plärrer kümmern die Hosen sich kaum. Hauptsache, es sagt keiner mehr „Funpunk“.

1995: Die Gründung von JKP

Der klügste Schachzug: Als erste große deutsche Band sagen sich die Hosen von ihrem Major-Label los und gründen mit ihrem Manager Jochen Hülder ihren eigenen Laden, JKP (Jochens kleine Plattenfirma). Mehr Verantwortung, mehr Generve, aber auch: mehr Freiheiten und mehr Geld. Der Schritt in die Unabhängigkeit zahlt sich aus.

1996: Die erste Nummer eins

Ausgerechnet mit dem Scherzlied „Zehn kleine Jägermeister“ erreicht die Band erstmals die Spitze der deutschen Single-Charts – und die Euphorie ihren Höhepunkt: Von nun an gibt es nur noch ausverkaufte Konzerte, die Hosen sind neben den Ärzten die erfolgreichste Rockband Deutschlands – und das eher ernste Album „Opium fürs Volk“ bleibt bis heute ihr Meisterwerk. Die Späße fahren sie jetzt immer mehr zurück – die ewige Infantilität, die Die Ärzte heute noch bei Schulklassen so beliebt macht, passt nicht zu ihnen.

28. Juni 1997: Der Tiefpunkt

Hosen-Auftritte sind immer große Feste. Dieser sollte ein besonderer Triumph werden: das 1000. Konzert. Dann stirbt ein Mädchen im Rheinstadion im Gedränge vor der Bühne. Für die fünf der eine Moment in ihrer Karriere, an dem sie ernsthaft ans Aufhören denken. Ist alles zu gigantisch geworden? Nach einer Pause geht es doch weiter.

1999: Der Schlagzeugerwechsel

Zunächst ein Schock für die eingeschworene Gang: Wolfgang „Wölli“ Rohde hört wegen gesundheitlicher Probleme auf, Vom Ritchie übernimmt das Schlagzeug – und bringt der Band eine Portion Lockerheit zurück, die ihnen bis heute guttut.

2004: Die Fernsehserie

Noch eine Bewährungsprobe für die Band, die ihr Privatleben doch so gern schützt: Auf MTV wird die 16-teilige Dokumentation „Friss oder stirb“ gezeigt, die Die Toten Hosen auf Schritt und Tritt begleitet – für die Band ein hartes Brot (für den Zuschauer manchmal auch, so richtig entspannt agieren die Musiker vor der Kamera nicht). Ein Selbstversuch, der sich nicht wiederholen wird.

2005/2006: Das Theater

Im Wiener Burgtheater treten Die Toten Hosen 2005 „Unplugged“ mit Streicher-Begleitung auf, im Advent gibt es auch Kabarettabende mit Gerhard Polt und Biermösl Blosn. Wirkt wie ein Versuch, „seriös“ zu werden, aber vor Ort stellt sich beides als großer Spaß heraus. Im Jahr darauf spielt Campino den Meckie Messer in der „Dreigroschenoper“ im Berliner Admiralspalast.

2012: Das Jubiläum

Zurück zum Glück: Ihr 30-jähriges Bestehen feiern Die Toten Hosen mit dem Jubiläumskonzert im Bremer Schlachthof und etlichen Wohnzimmerkonzerten gemeinsam mit ihren treuesten Fans. Aber zu viel Nostalgie darf nicht aufkommen – dafür sorgt das neue Doppel-Album und eine große Tournee, die im Herbst folgen soll.

Limited Collectors Edition

Die Toten Hosen

1982 WIR SIND BEREIT

Die erste Single der Toten Hosen erschien 1982, als Punk eigentlich schon längst vorbei war. Optimistisch ließen sie dennoch 5.000 Stück auf dem eigenen Totenkopf-Label herstellen. Unsere exklusive Nachpressung erinnert an die wilden Anfänge der heutigen Rock-Institution: „Wir sind bereit“ ist ein einziger Schlachtruf (wofür/wogegen auch immer) und naturgemäß keine zwei Minuten lang. Auch die B-Seite, „Jürgen Engler’s Party“ (nur echt mit dem Apostroph), gibt sich kämpferisch: Die Hosen veralbern den Sänger, der damals die Punkband Male verließ und die Industrial-Pioniere Die Krupps gründete – in Düsseldorfer Punk-Kreisen befürchtete man den Ausverkauf, deshalb die Anfangszeilen: „Wir stehen vor der Tür und wir kommen nicht rein/ Drinnen gibt’s Kaviar bei Kerzenschein.“ Aber bitte nicht zu ernst nehmen: Campino fühlt sich bis heute mit Engler verbunden.

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