Die Wetterfrösche
Einmal mehr haben Animal Collective aus Zufällen und Banalitäten mirakulöse Musik destilliert.
Washington D.C. liegt zwar vor der Haustür, aber die Sorgen der modernen Welt sind weit entfernt in Columbia, Maryland. In der Peripherie der Satellitenstadt wähnt man sich dank pittoresker Eigenheim-Seligkeit mitunter in der Eifel.
Inmitten üppiger Wälder liegt dort der „Merriweather Post Pavillon“. Ein trapezförmiger Ort des Friedens und der Kontemplation, bisweilen weht gar eine frische Brise vom Atlantik herüber. Vor allem aber zählt das Theater zu den besten Freiluft-Arenen der Welt.
Warum wir das schreiben? Weil diese Dinge der Schlüssel zu „Merriweather Post Pavillon“ dem collagig verspulten, in seiner Melodiesprache jedoch winterluftklaren neunten Album der wunderbaren Fabelband Animal Collective aus Baltimore sind.
Natürlich hat man es grundsätzlich mit Faulheit und schlimmster Phrasendrescherei zu tun, wenn Leute Musik anhand von geografischen Details erklären. Aber wenn die am schwersten mit konventionellen Mitteln zu erklärende Band unserer Tage etwas derartig Profanes wie Wetter und Herkunft zum kreativen Impulsgeber erklärt, darf man ruhig mal hinhören.
Als nämlich die Jugendfreunde Avey Tare (David Portner), Panda Bear (Noah Lennox) und Geologist (Brian Weitz – wir verwenden die bürgerlichen Namen) kürzlich zusammen saßen, sprachen sie über Terry Reily im Allgemeinen und dessen während der 60er Jahre abgehaltenen „All-Night Concerts“ im Besonderen. Reilys Gemeinde brachte damals die Schlafsäcke mit und lauschte den stundenlangen Improvisationen des amerikanischen Minimal-Komponisten.
„Einmal hat er zwei Tage am Stück gespielt“, erklärt Portner. „Wir sprachen über den idealen Ort für eine solche Performance und kamen auf den Pavillon.“ Dort hatten Animal Collective in ihrer Jugend Konzerte gesehen, im Freien übernachtet – das Theater stand bei ihnen für verspielte Unschuld und räumliche Größe, beides Attribute, von denen auch die neuen Songs beseelt sind.
Die Musiker imaginierten Sternenhimmel und rauschende Baumwipfel – und kamen nicht mehr los vom Wetter als ultimativem Taktgeber. Weitz erinnert sich: „Wir schrieben Regen-Songs, Sonnen-Songs, hatten entsprechende Arbeitstitel – wir wurden echte Wetter-Fanatiker.“ Animal Collective sind – bei schlammigem Nieselwetter – in Berlin. Der heutige Auftrittsort, der Techno-Tempel Berghain, illustriert zu gleichen Teilen den Crossover-Aspekt dieser Musik wie er Auftakt zu einer ungewöhnlichen Tournee durch so genannte second countries wie Polen und die Türkei ist.
Durchaus typisch indes für Animal Collective und ihre Ignoranz angeblicher Branchen-Gesetze: Alle lobten noch das letzte Werk „Strawberry Jam“, da waren sie schon ganz woanders. Entfernten sich noch radikaler vom klassischen Bandbegriff, entsorgten Tiermasken und Gitarren (die vor allem der zurzeit pausierende Josh Dipp aka Deakin bedient hatte), und nahmen eine Art „Pet Sounds“ für die Laptop-Generation auf.
„Selbst wenn wir wollten, könnten wir keine Erwartungen erfüllen, da wir selbst uns nie erinnern, wie unsere Musik entstanden ist“, sagt Weitz. Und Lennox ergänzt: „Vielleicht sind wir auch Genre-Hopper, weil wir unseren Stil noch nicht gefunden haben.“ Es ist als Witz gemeint, aber auch diese Möglichkeit müssen wir in Betracht ziehen.
Es folgt ein Exkurs darüber, wie sie unabhängig voneinander – Lennox in Lissabon, Weitz in D.C. und Portner in New York – Ideen aufnahmen und die Ergebnisse in Mississippi mit dem Produzenten Ben Allen triggerten und loopten. Doch will man wirklich wissen, dass natürlich auch diesem zauberhaft entrückten Blümchenwiesen-Pop eine profantechnische Entstehungsgeschichte zugrunde liegt?
Dass ein Songtitel wie „Lion In A Coma“ von Portner als Metapher für ein Gefühl des Wohlbefindens gemeint ist, die keiner außer ihm selbst versteht? Als Lennox’ Freundin fragte, wer da im Koma liege – sie hatte lying in a coma verstanden – erwiderte Noah, er habe keine Ahnung, sie müsse Portner fragen.
Am 5. Oktober 2008 wurde auf der Webseite myanimalhome.net ein desorientiert wirkender animierter Fisch ins virtuelle Wasser gesetzt, der bis heute seine Runden zieht. Sonst passiert dort wenig. Man dachte an virales Marketing, aber tatsächlich sicherten sich A.C. die Domain bereits vor Jahren und wollten sie jetzt endlich nutzen. Es sind solche banal wirkenden Kleinigkeiten, aus denen sie mirakulöse Kunst destillieren.
Was Animal Collective, bei denen man immer mit allem rechnen muss, niemals machen würden? Ein klares Genre-Album aufnehmen: „Wir alle lieben HipHop“, sagt Weitz, „aber näher als jetzt werden wir einem HipHop-Album nie kommen.“ HipHop? Man hört es nicht.
Thorsten Groß