DIE ZUKUNFT HAT (ECHT) BEGONNEN

Die Metropolen sind verfallen, die USA werden von Maschinen überwacht und regiert. Die unmenschlichen Herrscher glauben, potenzielle Terroristen anhand eines Gendefekts identifizieren zu können und sperren sie in Lager. Ein nuklearer Krieg, bei dem die Maschinen auch den Rest der Welt erobern wollen, steht unmittelbar bevor.

So haben Chris Claremont und John Byrne sich das Jahr 2013 vorgestellt, als sie 1980 an ihrer „X-Men“-Episode „Days Of Future Past“ arbeiteten. Und ganz falsch lagen sie ja nicht, obwohl sie – wie eigentlich fast alle Verfasser solcher Dystopien – ein bisschen zu sehr schwarz-weiß malten, Gut und Böse, Unterdrücker und Unterdrückte klar voneinander trennten. Wir, im Jahr 2013, wissen es natürlich besser. Wie Überwachung und Machtausübung heute funktioniert, zeigt etwa Dave Eggers‘ „The Circle“. Der Titel des gerade in den USA erschienenen Romans ist zugleich der Name des weltweit mächtigsten Internetunternehmens. The Circle beherrscht mit einem neuen System, das für den User bequem alle Internetaktivitäten von E-Mails, Social Media, Einkaufen bis Banking unter einer einzigen Identität bündelt, das Netz und schickt sich an – getarnt unter einem Deckmantel aus Philanthropie, Fun und Convenience – auch die reale Welt zu kontrollieren. The Circle bietet winzige Webcams an, die sich an jedem Ort auf der Welt unauffällig platzieren lassen, um von Surf-Bedingungen an Stränden bis zu Menschenrechtsverletzungen in der arabischen Welt alles bezeugen zu können, Politiker sollen diese Minikameras ständig um den Hals tragen. Eine Einkaufs-App ermittelt die Barcodes aller im Haus vorhandenen Produkte und ordert fehlende Waren nach, Kindern soll ein GPS-Tracking-System in die Knochen eingepflanzt werden, um Entführungen und Missbrauch vorzubeugen. Die vollkommene Transparenz, so die These, zwingt die Menschen , moralisch zu handeln (so wie früher die Angst vor dem alles erfassenden Blick Gottes). Von seinen Mitarbeitern verlangt The Circle sektengleiche Ergebenheit und ein klares Bekenntnis zur scheinbar guten Sache.

Das mag zwar alles nach Science-Fiction klingen, doch im Grunde genommen ist es aber schon lange real. Der Mensch ist längst durchsichtig und – zumindest wenn er ein Mobiltelefon hat – überall ortbar, seine Internetaktivitäten werden von Konzernen aufgezeichnet und ausgewertet, Google entwickelt gerade ein System, das seine Nutzer allein aufgrund ihres Verhaltens – ohne Log-In und Passwort – erkennt, der Zugang zu Informationen und Kommunikation ist in den Händen weniger Unternehmen. An die Stelle, an der in den alten Geschichten von der Zukunft der Überwachungsstaat stand, ist längst die Überwachungsökonomie getreten. Doch die scheint für viele weitaus weniger furchteinflößend. Als allerdings Edward Snowden die Spähaktivitäten der NSA enthüllte, war der Aufschrei groß, denn hier fand man plötzlich die Muster aus den Dystopien von gestern wieder. Big Brother is watching you, too.

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