„Dogtooth“ von Yorgos Lanthimos: Gefangen im Schoß der Familie

Lange vor „Poor Things“ inszenierte der griechische Regisseur in seiner Heimat diesen Geniestreich.

Lange Zeit stand das griechische Kino im Schatten des großen Theo Angelopoulos. Fünf Dekaden lang drehte er meditative Reflexionen über den dahin geworfenen Menschen im Angesicht großer oder kleiner Katastrophen. Mit eigenwilligen, mehrdeutigen Titeln („Der schwebende Schritt des Storches“, Der Blick des Odysseus“) und stillen Bilderbögen. Ein versierter, schwermütiger Minimalist – der aber auch mit seiner Festivalpräsenz vielen anderen klugen Bilddenkern des Landes die Sicht auf die Welt versperrte.

Die griechische Welt änderte sich im Zeichen der großen Wirtschaftskrise, die das Land seit mehr als einem Jahrzehnt im Griff hält, und Angelopoulos verstarb nach einem tragischen Unfall. Es formierte sich vielleicht auch aus diesen Gründen eine kleine Bewegung von mutigen Filmemachern, die es wagte, exzentrischer und freigeistiger zu erzählen. Man hatte ja nichts zu verlieren. Die Behäbigkeit Angelopoulos‘ war ihnen allerdings sichtbar ein Graus. Hollywood-Mainstream war nie eine Option. Und auch das tranige Arthouse-Kino vieler anderer europäischer Nachbarn lehnten sie ab.

Zur Speerspitze der Bewegung, die inzwischen etwas an Kraft verloren hat, zählt neben Yannis Economides („Matchbox“, 2002) und Athina Rachel Tsangari („Attenberg“, 2010) vor allem Yorgos Lanthimos. Der hat es inzwischen in den Hollywood-Olymp geschafft, erst mit „The Favourite“ und nun mit dem Golden-Globe-Gewinner „Poor Things“.

Satirische Dystopie mit bedrängenden Bildern

Noch bevor Lanthimos mit „The Lobster“ (2015) und „The Killing Of A Sacred Deer“ (2017) zum Festival-Liebling wurde, drehte er in seiner Heimat – neben kuriosen Werbefilmen und Musikvideos – drei auf ihre Art zeichenhaft-bizarre Lehrstücke: „Kinatei“, „Dogtooth“ und „Alpen“.

Auch wenn alle drei Filme jeweils ihre eigenen Stärke haben, ist „Dogtooth“ (im Original: Kynodontas, 2009) der treffendste, erschütterndste Film des Griechen. Eine bedrückende Dystopie mit kühlen, geradezu statischen Standbildern. Und eine ätzende Satire, deren Wirkung einem Schlag in den Magen gleichkommt.

Völlig abgeschottet von der Außenwelt zieht ein Paar seine Kinder nach ihren eigenen, befremdlichen Methoden auf. Dem Jungen und den beiden Mädchen werden Wörter ganz bewusst völlig falsch erklärt – das Meer heißt hier Sessel, ein Zombie ist eine kleine gelbe Blume und Flugzeuge, die über das großzügige Luxusanwesen mit Swimming Pool dröhnen, werden als Spielzeuge verklärt. Ein angeblicher Bruder soll geflüchtet sein; die Geschwister werfen ihm Gaben über den Zaun.

Die unerträgliche Langeweile auf engstem Raum sorgt dafür, dass sich die inzwischen in die Pubertät gekommenen Kinder gegenseitig provozieren und mit sadistischen Spielen necken. Damit der geschlechtsreife Sohn nicht durchdreht, organisiert der Vater regelmäßige Sex-Treffen mit einer Arbeitskollegin namens Christina für ihn. Natürlich kommt es wie es kommen muss: Das Chaos dringt in diese sorgsam abgeschottete Parallelwelt in Form einer Katze ein.

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Der mit allen Wassern gewaschene Vater nutzt dieses Ereignis sogar noch aus, sorgt  für eine etwas absurde Erklärung, warum nun der verschollene Sohn zu Tode gekommen ist. Dazu beschmiert er sich mit Blut und stilisiert die Mieze zum Monster. Fortan regt er die Familie an, sich auf allen Vieren zu bewegen.

Doch dann ist es Christina, die einen Fehler begeht: Nachdem sie die Situation zu ihrem eigenen Vorteil zu wenden versucht und sich von einer der Mädchen sexuell befriedigt lässt, findet diese in deren Handtasche zwei Videokassetten: „Der weiße Hai“ und „Rocky“. Als sie die ältere Schwester entdeckt, anschaut und „nachstellt“, bricht die verquere symbolische Ordnung endgültig zusammen und führt am Hochzeitstag der Eltern zur Tragödie mit gewalttätiger Katharsis. Das Ausschlagen eines Zahnes, der im Titel verewigte „Hundszahn“ wird vom Vater als Zeichen für den Übergang ins Erwachsenenleben präsentiert, verändert alles.

Ein philosophischer und politischer Film

„Dogtooth“ ist ein philosophischer Albtraum, der natürlich auch politisch verstanden werden muss. Er zeigt eine Generation, die von ihren Eltern eingesperrt wird, im Grunde niemals in die Freiheit entlassen werden soll (also auch gesellschaftlich und sexuell nicht selbstbestimmt sein darf). Wenn man den Film als Parabel deutet, dann scheint hier eine bittere Anklage an eine Elite durch, die alles dafür getan hat, ihre eigene Realität zu konstruieren, um auf Kosten der Nachwachsenden ihren längst brüchig gewordenen, auf symbolischem und finanziellem Pump aufgebauten Reichtum mit allen Mitteln zu verteidigen.

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Das betäubende Schauspiel einer scheinbar von den Göttern herbeigeführten Katastrophe, das Lanthimos in „The Killing Of A Sacred Deer“ ein wenig zu sehr mit der Holzhammer-Methode auflöste, ist hier als komplex-kunstvoller Bluff inszeniert, der auch aufgrund seiner gleichsam expliziten und nüchternen Bilder eine durchaus einzigartige Dringlichkeit entwickelt.

Lanthimos, so viel ist klar, scheint sich als Aufklärer zu verstehen und ist einer der legitimen Erben von Antonioni und Haneke. Mit „Poor Things“ zeigt er, dass er dies auch mit großer Galligkeit und einem Vergnügen an sardonischer Unterhaltung zu inszenieren versteht.

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