Dusty Springfield

Sie war Englands Pop-Queen, eine extravagante Erscheinung mit Soul in der Stimme und den Augen einer Sphinx. Dusty Springfield liebte glamouröse Auftritte und das Drama großer Songs, doch verbarg sich unter all ihrem Make-up und den überdimensionalen Perücken ein ver- letzliches, von irrationalen Ängsten und Selbstzweifeln geplagtes Mädchen namens Mary.

Mary O’Brien wurde 1955 sechzehn Jahre alt. Londons Norden hatte sich von den Kriegswirren erholt, die O’Briens hatten ihr Auskommen, draußen in den Straßen herrschte reges Treiben, und abends amüsierten sich Teenager im Kino, in Coffee-Bars oder unter Laternen. Mary kannte solche Vergnügungen kaum, ihre Erziehung im katholischen Konvent hatte sie diesbezüglich völlig im Unklaren gelassen. Während ihre gleichaltrigen Freundinnen, von denen sie nur ein paar flüchtige hatte, nach Jungs Ausschau hielten und ihre Geschlechtsreife auf die Probe stellten, blieb Mary zu Hause und starrte in den Spiegel. Was sie dort sah, war ein zu groß geratenes, plumpes Mädchen mit runder Brille und kurzem, rotblondem Kraushaar. Sie haßte dieses Mädchen.

Viele Jahre später noch erinnerte sich die Soul-Diva mit Grausen an diese Zeit. „I felt like an awful, fat, ugly middle-class kid“, pflegte sie zu seufzen, „a blob, a desaster area.“ Doch habe ihr dieses jammervolle Spiegelbild drastisch vor Augen geführt, daß nur eine Radikalkur helfen konnte. Sie habe mit dem Schicksal gehadert, ihre Kurzsichtigkeit verflucht, die sie zum Tragen dieses Drahtgestells zwang, und sie habe sich schrecklich bemitleidet. Bis zu jenem Tag, der alles änderte. „Eine Epiphanie“ sei es gewesen, behauptete sie, eine Erscheinung, die ihr gesagt habe: be miserable or be someone else. Mary O’Brien entschied sich für letzteres, fuhr aus ihrer Haut und schlüpfte in eine andere. Das kostete viel Zeit, und der Materialaufwand an Lippenstift, Puder und Quasten, an Eyeliner, Mascara und Wimperntusche, an Färbemitteln, Haarlack und Spray war enorm. Aber er lohnte sich. Mary war ihre Komplexe nicht los, aber sie waren unter Verschluß. Mary war noch immer unglücklich, doch das ließ sie sich nicht mehr anmerken. Mary verschwand hinter ihrer Fassade, der sie einen Namen gab: Dusty Springfield.

Nachdem sie die Schule bei der ersten sich bietenden Gelegenheit verlassen hatte, konzentrierte sich Mary auf das Singen. Musik war die einzige Freude ihrer Jugend gewesen und blieb ihre einzige Hoffnung auf Glück und Erfüllung. Man hatte ihr bereits Komplimente für ihre Gesangsstimme gemacht, als sie noch ein Kind war. Nicht die Sorte Lob, die gönnerhaft und tätschelnd auftritt, sondern mutmachend, im Brustton der Überzeugung.

Der kindliche Wunsch, Sängerin zu werden, verdichtete sich bald zu Ehrgeiz. „Es war kein Traum, keine Schwärmerei“, erinnert sie sich später, „es war konkreter. Ich hatte ein Ziel, und ich war schon sehr früh bereit, dafür Opfer zu bringen.“

Geboren wurde Mary Isobel Catherine Bernadette O’Brien am 16. April 1939. Um den Krieg zu entgehen, zieht die Familie vorübergehend nach High Wycombe im ländlichen Buckinghamshire. Trotzdem sind Marys früheste Kindheitserinnerungen kriegsbedingt: das Dröhnen der Bomber, ferne Detonationen, die Angst, aber auch die Siegesfeier und mit Beendigung des Ausnahmezustands die ersten Bananen. Es wird viel Musik gehört im Kreise der Familie. Klassikschallplatten zumeist, die Vater Gerard, ein mäßig begabter Hobbymusiker, nie ohne Nennung des Komponisten auflegt. So lernen Mary und ihr um vier Jahre älterer Bruder Dion Vivaldi von Mozart zu unterscheiden, ehe sie noch zur Schule gehen. An den Wochenenden wird musiziert. Mary und Dion singen, Gerard spielt Piano und Mutter Kay dirigiert das Familienensemble: „Sit up, Mary! Sing up, Mary!“ Besondere Bedeutung gewinnen die Hauskonzerte der O’Briens durch einen Spleen des Vaters. Er ist Radio-Amateur und „sendet“ die Aufführungen in benachbarte Wohnungen. Und er zeichnet sie mit einem Tonbandgerät auf. So entsteht Marys erste Aufnahme: „When The Midnight Choo-Choo Leaves For Alabam“.

Mit zwölf Jahren singt sie bei einem Schulfest den „St. Louis Blues“, sehr „erwachsen und verständig“, wie ein Reporter vermerkt. Mit 14 gewinnt sie einen Talentwettbewerb in Ealing, sie singt im Schulchor und entdeckt Peggy Lee, die ihr als Vorbild dienen wird. Von ihr lernt sie die Kunst, einen Song zu lesen, den Wert der Pause und die kleinen Tricks der Phrasierung. Hin und wieder tritt sie in Clubs auf, mit Dion meist, singt Folk-Songs, die sie aus dem Radio kennt. „To make it in show-business was all I cared about“, erklärte sie ein paar Jahre später, „it was an obsession.“ Als sie das Gefühl beschleicht, mit ihrer Sangeskarriere nicht recht voranzukommen, beschließt Mary, eben Schauspielerin zu werden. Inspiriert von den Hollywood-Leinwand-Ladies und ihrem Glamour schreibt sie sich in einer Schauspielschule ein. Nur zwei Wochen später war die Seifenblase geplatzt, „due to lack of talent, I guess“.

Zurück zur Musik, „obwohl mich damals Zweifel überkamen, ob ich es im Musikgeschäft wirklich würde schaffen können. Das einzige, das gegen diese Selbstzweifel half, war Applaus“. Also bemüht sie sich darum, singt Irisches am St.Patrick’s Day und rührselige Standards in Pubs. Finanziell hält sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, in einem Plattenladen oder einer Reinigung. Mary ist 18, als sie einer Anzeige im Branchenblatt „Stage“ entnimmt, daß zwei Sängerinnen eine dritte suchen, zwecks Gründung eines Trios. Mary singt vor, wird von Fleck weg engagiert und ist nun Mitglied der Lana Sisters. „Mein Durchbruch“, kommentierte sie 1964 in einem Interview sarkastisch, „von nun an ging es bergauf.“

Die Lana Sisters, in deren Harmonie-Konzept Mary den tiefen Part übernimmt, arbeiten hart und schaffen es sogar auf Platte. Fontana veröffentlicht Ende der 50er Jahre ein paar Singles, die sich indes nur in kleinen Stückzahlen verkaufen lassen. Was daran liegen mag, daß die Show der falschen Schwestern ihren Reiz nicht zuletzt aus ihren Silber-Lame-Kostümen bezieht, die während des Auftritts an strategischen Stellen fallen. Kein Striptease, aber doch von einer Anzüglichkeit, die auf Schallplatte nicht zu vermitteln ist. Nicht einmal ihre Version von „Seven Little Girls Sitting In The Back Seat“, die sie mit Al Saxon aufnehmen, findet Beachtung. Mary hat genug vom Klimblim und tut sich wieder mit Dion zusammen, der inzwischen mit Tim Feilds ein Folk-Duo unterhält. Zum Trio erweitert sucht und findet man einen Namen: The Springfields. Dion firmiert fortan als Tom Springfield, Mary heißt nun auch öffentlich Dusty. „Es klang völlig natürlich, überhaupt nicht aufgesetzt, als ich plötzlich nur noch Dusty Springfield war“, so die Chanteuse später, „der Name paßte wie ein Handschuh, und Mary O’Brien hatte sich ohnehin nach und nach aus meinem Leben verabschiedet.“

The Springfields haben Erfolg, live zuerst, dann im Fernsehen, schließlich auf Platte und das sogar in USA. Als sie Anfang ’61 bei Phillips unterschreiben und im Mai mit „Dear John“, einem von Tom arrangierten Trad-Folk-Song aus den Tagen des amerikanischen Bürgerkriegs, ihre erste Single erscheint, Die Jahre des Erfolgs Dusty mit Mike Hurst und ihrem Bruder Tom, den Springfields; mit Gene Pitney in „Ready Steady Go!“, 1964; und nach der Ausweisung aus Südafrika auf dem Flughafen Heathrow in London, Dezember 1964 rätselt die Fachwelt. „Schwer zu sagen, ob sie out of date sind oder ihrer Zeit weit voraus“, schreibt ein Kritiker. Völlig unbeleckt von Rock’n’Roll und jenseits von Pop spielen die Springfields Skiffle-informierte Songs aus Toms Feder oder populäre Lieder aus aller Welt, die Folk sein wollen und doch nur Folklore sind. Den „Wimoweh Mambo“ aus Südafrika etwa, angeblich auf einem Kriegstanz der Zulu basierend, in Wirklichkeit aber wohl in einer Bar von Soho ausgeheckt. Latin-Rhythmen, Jazz-Balladen, Schlagerhaftes italienischer oder portugiesischer Herkunft, alles wurde vermengt und frischwärtig, immer lächelnd präsentiert. „We were pseudo-everything and we knew it“, so das vernichtende Urteil aus Dustys Mund.

Und doch zeitigen die drei Jahre mit den Springfields auch positive Wirkungen für Dustys weiteren Werdegang. Sie gewinnt Routine und Sicherheit auf der Bühne und vor der Kamera, sie lernt bei Phillips den Produzenten Johnny Franz kennen, mit dem sie einige ihrer besten Aufnahmen machen wird. Und sie kommt nach Amerika, genauer: nach Nashville, nachdem die Springfields mit „Silver Threads And Golden Needles“ dort Zählbaren Eindruck hinterließen. Vor allem der Zwischenaufenthalt in New York wird ihr unvergeßlich bleiben. Die Wolkenkratzer, die Hektik, die aufregende Musik. Als sie nachts an einem Plattenladen vorbeischlendert, aus dem „Tell Him“ von den Exciters schallt, öffnet sich für sie eine neue, aufregende Welt. „The attack in it“, enthusiasmiert sie, „it was the most exciting thing I had ever heard, a revelation.“ Und das Beste: Dusty spürt, nein: sie weiß sofort, daß diese Musik ihrer Stimmlage wie ihrer Stimmungslage entspricht. Ihr musikalisches Weltbild ist aus den Angeln gehoben, von nun an hört und liebt sie „the American stuff: Rhythm & Blues, die frühen Hits von Tamla Motown, jede Art von Soul Music. Hier, da ist sich Dusty Springfield sicher, würde ihre musikalische Zukunft liegen.

Im November 1963, nur Wochen nach dem Springfields-Split, erscheint Dustys erste Solo-Single.“I Only Want To Be With You“, ein flottes Popstück, das Ivor Raymonde geschrieben und mit leichtem Spector-Touch arrangiert hat, trifft nicht nur im UK den Nerv der Beat-Zeit, sondern schafft im Gepäck der „British Invasion“ auch gleich den Einzug in die US-Charts. Ein fliegender Start, der sie hätte beflügeln müssen, doch wird Dusty wieder von alten Dämonen heimgesucht. Das Rampenlicht ist nun auf sie allein gerichtet, wenn sie auf Tour ist oder im Fernsehstudio von hungrigen Kameras umkreist wird. Dusty erleidet einen Nervenzusammenbruch und zieht, kaum wieder auf den Beinen, die schützende kosmetische Mauer noch höher. Zwei Stunden braucht sie inzwischen, um sich mit Perücken und Panda-Make-up, mit Straß-besetztem, knöchellangem Abendkleid und Stöckelschuhen für ihren Auftritt zu wappnen.

Kein Problem, sofern eine eigene Garderobe bereitgestellt wird und genügend Zeit bleibt. Was nicht immer der Fall ist, wenn man als eine von vier Attraktionen einer Package-Tour unterwegs ist, die einem straffen Zeit-Regiment unterliegt, und wenn man sich mit drei Beat-Bands einen Backstage-Bereich teilen muß. Nicht alle Musiker sind rücksichtsvoll, nicht alle sind Gentlemen. Schon ein paar unüberlegte Worte und verlegenes Gelächter können einem dünnen Nervenkostüm irreparablen Schaden zufügen.-Und Dusty hat keine Nehmerqualitäten, jede noch so pubertäre Äußerung über ihr Äußeres versetzt ihr einen Stich und tut höllisch weh. In diesen Monaten läßt sie ihr Visier vollends herunter, verschwindet hinter ihrer Maske.

Auf der Bühne steht eine Projektion, die echte Dusty zieht sich soweit ins Private zurück, daß selbst Freunde wie Johnny Franz nicht mehr zu ihr

durchdringen. Sie erwirbt sich die Reputation einer Diva, einer prekären Persönlichkeit, der man besser aus dem Weg geht. Dusty gewöhnt sich an, mit eigener Friseuse zu reisen und gibt ihren Perücken Namen. Wenn irgendetwas nicht zu ihrer Zufriedenheit läuft, zertöppert sie Porzellan. Tausende von Tellern und Tassen müsse sie im Lauf der Jahre zerschlagen haben, räumt sie später lachend ein. Es sei ein Ritual gewesen, das ihr auf merkwürdige Weise gut getan und Erleichterung verschafft habe. „Ein harmloses Vergnügen“, das ihr allerdings in einigen Hotels Hausverbot eintrug. „Some people smoke, others drink“, erklärt sie ihre destruktive Neigung, „I do neither, I throw teacups.“ Frank Allen von den Searchers berichtet, Dusty sei methodisch vorgegangen und habe zunächst in aller Ruhe Geschirr zusammengetragen. Um es dann ohne erkennbaren Anlaß ebenso ruhig Stück für Stück an die Wand zu werfen. Als sie dasselbe bei einem Gastspiel in New York tut, klopft es an die Garderobentür, Martha Reeves steckt den Kopf herein und will ‚wissen, ‚was los ist. „I’m having a party“, antwortet eine in Tränen aufgelöste Dusty Springfield, „with black streams of mascara running down both of her cheeks“, wie sich der Motown-Star später erinnert.

Reeves reagiert nicht befremdet, sondern erfaßt die Situation, hilft Dusty dabei, das restliche Porzellan in Scherben zu verwandeln. Die beiden werden Freundinnen.

Das Publikum weiß nichts von Dustys Macken, ahnt nicht, wie sie unter der inneren Leere leidet. Es sieht nur eine stark gebaute Frau mit turmhoher Beehive-Frisur und kohlschwarz verhangenen Augen, wie sie elegant über die Bühne schwebt und mit dieser dunklen, rauchigen Stimme von unerfülltem, ja unerfüllbarem Verlangen singt. Dusty Springfield kann wie keine andere, Aretha eingeschlossen, einen Torch-Song in Flammen setzen, um im nächsten Augenblick anstrengungslos die Kurven einer komplexen Jimmy-Webb-Komposition auszukosten oder die Sophistication eines Bacharach-Tunes Zu meistern. Aretha kam vom Gospel, Dusty hatte im züchtigen Schulchor Disziplin gelernt und Selbstkontrolle, zumindest soweit es ihre Performance betraf.

Dusty Springfield wird gefeiert, die Hits reißen nicht ab. „I Just Don’t Know What To Do With Myself“, „You Don’t Have To Say You Love Me“, „I Close My Eyes And Count To Ten“. Im Studio läßt Johnny Franz sie längst gewähren, obwohl ihre Arbeitsweise jeder Erfahrung spottet. Dusty braucht das volle Backing im Kopfhörer, samt Pauken und Trompeten, um zu vokaler Höchstform aufzulaufen. „Reine Gewöhnungssache“, meint sie. Und scheitert deshalb, als sie 1968 in Memphis unter gänzlich anderen, locker-spontanen Bedingungen arbeiten soll. Dusty verkrampft, bringt stundenlang keinen Ton heraus. Die Produzenten Jerry Wexler, Tom Dowd und Arif Mardin sind ratlos. „Wir haben alles getan, damit sie sich wohlfühlt“, beteuerte Wexler, „wir erfüllten ihr jeden Wunsch.“ Ein Fehler wohl, denn Dustys „terrible studio nerves“ flattern immer schlimmer, und beinahe muß das Projekt, das ihr unumstrittenes Meisterwerk gebären sollte, abortiert werden. Nur eine Verlegung der Sessions nach New York kann das Album retten.

„Dusty gab uns reichlich Rätsel auf über die Jahre“, untertrieb Franz in einem Interview, „und ich glaube, daß sie oft selbst nicht wußte, was gut für sie war.“ So im Dezember 1964, als sie alle Warnungen in den Wind schlug und ein Engagement in Südafrika annahm.

„Dusty glaubte allen Ernstes, daß die Segregation im Apartheidsstaat für ihre Konzerte aufgehoben würde und sie vor einem gemischten Publikum auftreten dürfte.“ Eine naive Vorstellung. Als sich Dusty weigert, vor ausschließlich weißem Publikum zu singen, wird sie kurzerhand ausgewiesen.

Doch es gibt auch gegenteilige Beispiele, wo sich Dusty über das bessere Wissen wohlmeinender Berater hinwegsetzt, eine Herausforderung annimmt und es am Ende nicht bereut. Der Kampf mit Jazz-Drummer Buddy Rich etwa, mit dem sie ein 14tägiges Engagement in New York einging und der sie behandelte wie Dreck. „You fucking broad“, herrschte er Dusty an, als sie um mehr Zeit zum Üben nachsuchte, „who do you think you are, bitch?“ Als Antwort erhielt er einen Schlag ins Gesicht, so heftig, daß sein Toupet wegflog.

Die 6oer Jahre sind vorbei, die britischen Optionen ausgereizt. Dusty läßt sich in Los Angeles nieder. „The Descent Into Hell“, überschreibt Biograph Edward Leeson das folgende Kapitel ihres Lebens. Sie, die keine Ausschweifungen kannte, keinen Rausch, keine Drogen, keinen Sex, fällt ins andere Extrem und verliert den Halt. „Als ob sie jedes Laster, das sie sich versagt hatte, so schnell wie möglich nachholen wollte“, so ein damaliger Freund. Auch die lange hinter vorgehaltener Hand diskutierte Frage nach Dustys geschlechtlichen Neigungen wird erschöpfend beantwortet. „I have tried sex with both men and women“, gibt sie bekannt, „I found I liked it.“ An die verklemmte Diva erinnert nun nichts mehr, Dusty ist nicht wählerisch, was ihren Umgang betrifft. „Es war eine Spirale nach unten“, wie sie Jahre später gesteht, „ich verlor meine Selbstachtung.“

Des Lotterlebens endlich überdrüssig, findet Dusty einen neuen Lebensinhalt: Katzen. Ein Dutzend hält sie zeitweilig, verhätschelt sie, bringt ihnen Geschenke und gestaltet den Alltag ganz nach ihren Bedürfnissen. „My cats mean everything to me“, gibt Dusty zu Protokoll, „they are like real people, my true friends.“ Kontakte zu Menschen meidet sie, Dusty Springfield wird wunderlich. „Cats are psychic“, verrät sie einem Fan, „they have hidden powers.“ Dustys Lieblingskater, Nicholas Nikolaivitch, sollte bei ihr bleiben bis zu ihrem Tod.

Parallel zum promiskuitiven Lebenswandel war bei Dusty auch musikalische Beliebigkeit eingekehrt. Hatte sie ihren Flirt mit dem Sound Of Philadelphia von Gamble/Huff noch mit Elan erledigt und aus eigenem Antrieb, waren spätere Platten eher Karrieremanöver als Herzensangelegenheiten. Was nicht heißt, daß sie im Studio schludrig arbeitete, doch gelangen ihr nur noch selten gesangliche Höhenflüge. Auf der von Roy Thomas Baker produzierten LP „lt Begins Again“ von 1978 schwang sie sich noch ein paarmal zu Dramarama auf, doch gestand sie dem ROLLING STONE, sie habe ihre „Stimme über Gebühr strapaziert“.

Kein Problem, denn Dusty singt fürderhin zu Disco-Tracks, die ihr gesanglich wenig abverlangen, für ein Publikum, das sie mindestens so sehr für ihren Fummel liebt wie für ihr heiseres Timbre: die Gay Community. „I love gay people“, gibt sie kund, und die Schwulenszene stellt sie auf ein Podest, erhebt sie zur Ikone. „Give a butch roar or a girlish shriek“, schäkert sie bei Auftritten mit ihren neuen Fans, während die alten eher befremdet reagieren. „What Have I Done To Deserve This?“, Dustys letzter Hit, erscheint da wie eine rhetorische Frage. Die Pet Shop Boys, glühende Verehrer der Sängerin, hatten ihr bereits zwölf Jahre vor ihrem Tod einen würdigen Abgang geschenkt. Dusty Springfield stirbt an Brustkrebs, am 2. März 1999, nur ein paar Wochen vor ihrem 60. Geburtstag.

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