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Von: "Arne Willander An: "Benjamin v. Stuckrad-Barre" Betreff: Blumfeld Testament der Angst Datum: Fre, 6. Apr 2001 13:01 Uhr

AW an BvSB, 13dl: „Ich schau nach draußen auf den grauen Tag/ Es regnet und ich kann nicht mehr.“ So beginnt die neue Blumfeld-Platte. „Graue Wolken“. Mit Saxofon. lOcc. George Michael Großartig. „Testament der Angst“

handelt von der Liebe und von der Möglichkeit, nein zu sagen, ohne sich umzubringen. Eine subversive, glücklich machende Platte. Man möchte auf die Straße laufen, Benjamin, aus dem Fenster brüllen, tanzen, wenn man könnte.

BvSB an AW, 13:22: Diese Witzfigurentätigkeit, Musikjournalismus oder wie das heißt, hin und wieder hält sie doch erhebende Privilegien bereit – keinen Tag möchte man mehr auf diese Platte verzichten, sie jetzt schon hören zu dürfen, kommt einem vor wie Feuerwerk und Bleigießen im Frühherbst. Und, ja: Ich rannte gestern in der Tat auf die Straße! Der Dreisprung in der Testamentsmitte: „Anders als glücklich“, „Testament der Angst“, „Die Diktatur der Angepaßten“ – und plötzlich passiert, was einem mit der letzten Manicsplatte ja leider nicht passieren konnte. Man will hinaus (zu den Leuten, die einem eben doch etwas bedeuten) und Autos anzünden und Sex haben und aufhören zu lügen (Lügen, Lügen und Lügen!). „Wenn dir die Wirklichkeit nicht mehr gefallt“ – ach, unfassbar. Glück der Verkündigung 1

AW an BvSB, 13.-45: Die Manics hatten diese Momente der Entgrenzung und Euphorie bei „Motorcyde Emptiness“, bei „A Design For Life“ und „No Surface, All Feeling“. Auf „Know Your Etiemy“ gibt es immerhin noch „Ocean Spray“, bei dem man eine Träne weinen möchte. Der Kuba-, Reconvalescent- und Little-Elian-Quatsch verdirbt natürlich vieL Die Manics sind Volkshochschüler, die dankbar für die öffentlichen Bibliotheken sind. Jochen Distelmeyer hat immer zu Hause gelesen. Deshalb zitiert er jetzt bei dem wunderbaren „Anders als glücklich“ den alten Hamburger-Schule-Wirrkopf Kristof Schreuf und lässt die vormaligen Lassie Singers gospelartig antworten. Soviel Humor war nie bei Distelmeyer. Dabei ist es ihm natürlich todernst

BvSB an AW, 14:02: Aber der Schreuf ist doch kein Wirrkopf! Schon, aber toll in erster Linie. Meint ja dasselbe. Westernhagen kriegt das Bundesverdienstkreuz von Gerhard Schröder überreicht, und so gesehen bleibt der Dreck in der Familie, aber wirkliche Ehre gebührt Schreuf- habe gestern im Zuge meines allein, glücklich und aufgehetzt verbrachten großen BlumfeldThemenabends auch die Kolossale Jugend wieder gehört, ein Fest war’s. Heute morgen wieder und wieder das Testament, zwischendurch „Ich-Maschine“ zum Vergleichen, herrlich! Im Moment glaube ich: Die neue Platte ist eine Mischung aus der ersten und der dritten Blumfeld. Kurzum: perfekt! Aber nichtsnichts gegen die zweite sei damit gesagt! Von der neuen Manics gefällt mir außer“Found That Soul“ bloß noch „The Year OfPurification“. Ja, die Lassies, und umwerfend ist dann sein gehamburgerte Chor-Erwiderung: „Das is richtich, Mädels!“ Jetzt Quizfrage: Bei welchem Stück des Testaments muss man kurz, ganz kurz an die All Saints denken? Du darfst auch jemanden anrufen, meinetwegen, gerade in diesem Fall: Doebeling. Kann ich auch machen. Ortsgespräch.

AW an BvSB, 14-29: Ich denke nie an die All Saints, nicht mal in der Nacht „Wellen der Liebe“? Die Texte erinnern Dich wahrscheinlich nicht an die All Saints, obwohl anderswo bestimmt wieder von Schlaget, Simplizität, Kitsch die Rede sein wird. Das ist neben der raffinierten Melodieseligkeit die Art, wie Distelmeyer ungeschützt schreibt und mit dieser einzigartig klaren, überdeutlichen Intonation singt Popmusik, bei der die Stimme so dringlich ist, dass man den Text nicht ignorieren kann. Andererseits ist Distelmeyer ja bei „Der Wind“ auch Bob Dylan auf der Höhe von „Highlands“ und singt beim Gehen vor sich hin – „damit ich noch weiß, dass ich bin“. Allerdings ist er noch immer pathetisch, nicht lakonisch. Professor Joachim Kaiser würde es sofort den „hohen Ton“ nennen. Poesie, mein Gott. Traut sich ja keiner mehr.

BvSB an AW, 15:12: Zurück zum Tastenakkord beim Intro der „Diktatur der Angepaßten“, das könnte, für eine Millisekunde, „Never Ever“ sein. Und, natürlich: „Instant Karma“ von der Brille. Und ich meine nicht die „Four Eyes“ aus Osnabrück, bah; ja, die neue Blumfeld-Platte sollte Anlass sein, über Möglichkeit, Notwendigkeit und Gesundheit des politischen Liedes nachzudenken! Status quo vadis, Polit-Schlager? Bestens: „Habt ihr nie drüber nachgedacht/ Es ist vorbei!“ Wenn man also ^Testament der Angst“ auch als Antwort und Fortführung des immer schon alleinguten, einzig wahren Old-School-Bänkelsängers, Herbert Grönemeyer, sieht, von dessen „Angst“ auf „Sprünge“. Angst vor der Angst, wir schliefen ein, Kohlkohlkohl – und nun das Testament, die Folgen. Das letzte berührende deutschsprachige Rocklied kam meiner Ansicht nach zuvor von Kante, deren Sänger ja Bass bei Blumfeld spielt. Und der feiste Kunze, der sich vor Jahren schon lächerlich machte, als er Blumfeld mit von ihm sehr, sehr einseitig empfundener Kollegialität vereinnahmen und „unterstützen“ wollte, hahahaha, also: er sie, pah; und nun sagt er zur „Summe der einzelnen Teile“ im, nun ja, wo sonst im Hochfeuilleton fragt man ihn, „WOM-Journal“ – „doch, gefallt mir“. Solche Zeilen mache sonst nur noch ich. Jaja, deine Mudder, Alter.

AW an BvSB, 15-36: Politisch Lied ist garstig Lied, ich mag es nicht Distelmeyer fand schon ganz früh immer, das Private sei immer auch politisch und umgekehrt. Bei „Diktatur der Angepaßten“ hatte auch ich Angst – Angst vor dem Banalen.,,Ihr habt immer nur weggesehen/ Es wird immer so weitergehen“- aber dann: „Gebt endlich auf, es ist vorbei!“ Wie unaggressiv und unabweisbar er das singt. Flüsse, Boden und Meere kommen auch darin vor und die Lügen – ohne die Musik klänge das nach Castor-Romantik. Ein Protestlied, vollkommen altmodisch. Mir ist Distelmeyers Nihilismus am liebsten. „Eintragung ins Nichts“: „Wir kommen ungefragt/Und gehen ungefragt/ Verrat mir/ Wer sollte uns vermissen?“ Und trotzdem singt er gegen das Verlöschen an und feiert die Liebe in „Weil es Liebe ist“, fast schmerzlich, fast peinlich. Es gibt eine Sentimentalität, für die Distelmeyer sehr empfänglich ist und die nach aller Reflexion kommt. Das ist das letzte Stück der Platte, „Abendlied“, ausgerechnet von Hanns Dieter Husch. „Schmetterling kommt nach Haus/ Kleiner Bär kommt nach Haus/ Die Lampen leuchten, der Tag ist aus.“ Alles endet mit einem Kinderlied. Es schnürt einem die Kehle zu.

BvSB an AW, 16:08: „Es hat uns niemand gefragt/ Wir hatten noch kein Gesicht/ Ob wir leben wollten/ Oder lieber nicht.“ Das war ja auch auf der zweiten Platte schon der Aufschrei, „Die eigene Geschichte“, und im Zug in Hamburg einfahrend sieht man sie immer wieder, die gelben Lettern an der Mauer, und sofort hat man Distelmeyers einmalig schöne, wütende wie blutende Stimme dort, wo sie hingehört: im Ohr; „und dann sammelt und stapelt sich/ Und glänzt herum um midi/ Während ich durch die Gegend fahr“. Ja, die Liebeslieder! Unglaublich, wie souverän und konkurrenzlos alleingestellt die speziell seit dem Meilenstein der 1000 tiefen Tränen sind, wie klar und groß; und wer Liebe leeeeebt, der wird eben nicht unsterblich sein, nein, bei aller Schwärmerei wird alles, auch das flirrendste, losgelösteste Gefühl hanseatisch geerdet: „fangt man an sich zu streiten“. Lome tne do. Liebe eben als: Passion. Und doch kennt das System keine Grenzen, ich musste bei der letzten Platte so lachen über das Pferd auf dem Flur; auf jeden Fall sind die Türen auf, wie jedes einzelne Stück alles einem entzieht und öffnet Diese Platte, Herrgott! „Angst davor wie’s weitergeht und vorm Alleinesein“ das singt er so lieblich, zugleich desillusioniert, trotzdem so wahnsinnig angenehm jenseits jeden Zynismus, ja, dass die Wortkette »Medien, Märkte, Merchandise“ als Vorwurf doch keine Sekutide peinlich gerät. Das ist das Protestlied nach dem Protestliedende. Da ist alles drin, der Springerterror, die Konsumverblödung. Und wir schwatzen, ist ja schrecklich, aber auch rührend. Überhaupt keinen Artikel darüber will ich lesen, einfach Texte beilegen, das sollte jede Zeitschrift leisten. Und weißt du, was die Engel flüstern -Element Of Crime haben neue Songs! Also, Arne! Wie wunderbar scheint doch dieser Sommer zu werden!

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