Einfach mal liegenlassen

Kinder, Herbstlaub, Purismus: Warum die britische Folk-Elektronikerin Beth Orton sechs Jahre für ihr neues Album brauchte – und erst den Plattenvertrag, dann den Modernismus über Bord warf.

Sechs Jahre hat sie gebraucht, um über das Laub im Vorgarten ihres Londoner Hauses ein Lied zu schreiben. Sechs Jahre, in denen uns die kühle, wundervoll spröde Stimme von Beth Orton gefehlt hat. So lang ist es her, seit ihr letztes Album „Comfort Of Strangers“ erschien. Danach brach ein neues Leben für sie an. Oder überhaupt erst ein Leben, wie die Künstlerin selbst erschrocken feststellte: „ Vorher hatte ich keines. Alles, was ich tat, war touren und irgendwo rumhängen.“

Zudem fühlte sich Orton von ihrem alten Label eingeschnürt in ein Netz aus Erwartungshaltungen und Erscheinungsrhythmen. „Am Ende meiner Zeit bei EMI hieß es immer häufiger: ‚Du bist nur einen Song entfernt von einem Hit-Album!‘“ Eine Weile habe sie sich dem Druck sogar gefügt. „Vor ‚Daybreaker‘ hatte ich eher das Gefühl, die Musik zu machen, die bestimmte Leute von mir erwarteten, und nicht die, die ich mir selbst vorstellte.“ Heute ist sie darüber jedoch nicht verbittert. In ihrer optimistischen Art hat sie die Abstinenz vom Musikgeschäft zu schätzen gelernt.

Zwei Gründe dafür sind ihre beiden Kinder, von denen sie das erste Ende 2006 bekam. Im selben Jahr endete auch ihr Vertrag mit EMI. Beruflicher Abschied und privater Aufbruch. „Auf der einen Seite hatte ich eine Tochter, auf der anderen brach für mich eine Phase der Entdeckungen an“, erzählt die Songschreiberin. Denn in den vergangenen sechs Jahren ist sie auch künstlerische Risiken eingegangen, die jetzt mit ihrem neuen Album „Sugaring Season“ belohnt werden.

Freunde wie Bert Jansch und John Prine halfen ihr dabei, den richtigen Weg zu finden und ermutigten sie dazu, sich von ihren mütterlichen Erfahrungen zu neuen Songs inspirieren zu lassen. „Ein Elternteil zu sein, hat viel mit Sachlichkeit und Veränderung zu tun. Ich habe gelernt, damit umzugehen und mich trotzdem auf Songs zu besinnen, auch wenn ich oft ziemlich gestresst vom Kindergeschrei war“, erklärt Orton freimütig. Es sei Prine gewesen, „der zu mir gesagt hat: ,Du musst deine Songs schnellstmöglich fertigstellen. Sonst kehrst du als ein anderer Mensch zu ihnen zurück.‘“ Was sich in Ortons Fall als Vorteil herausstellen sollte: Viel sei erst dadurch entstanden, dass sie Ideen immer wieder ruhen ließ – oder kinderbedingt ruhen lassen musste –, bevor schließlich ein Song daraus wurde. „Ich habe das sehr genossen, mit neuen Perspektiven zurückzukehren.“

Perspektiven, die sie zu ihrem bisher schönsten Album geführt haben. Elektronische Einsprengsel im Stil dessen, was man auf ihren frühen Alben Folktronica nannte, sucht man auf „Sugaring Season“ vergebens. Gewichen sind sie einem reifen Singer/Songwriter-Sound, der nicht mehr sein will als ein selbstbewusster Neubeginn und dabei doch so manches Pop-Experiment in diesem Jahr überragt. Aufgenommen mit Avantgarde-Gitarrist Marc Ribot und Jazz-Schlagzeuger Brian ­Blade – immerhin „ein paar der besten Musiker der Welt“ – und produziert von Tucker Martine, der gewöhnlich den Independent-Clan aus Portland, Oregon betreut, entzieht sich Ortons sechstes Studiowerk trotzdem jeder Genre-Schublade.

Etwas Mystisches zieht sich jedoch durch all ihre neuen Stücke, von denen dieses eine, „Autumn Leaves“, geradezu exemplarisch dafür steht, wie wichtig es für Orton war, dass „ich mir Ruhe verordnet habe, um darüber nachzudenken, was ich als nächstes machen wollte“. An einem Herbstmorgen sei sie schließlich in ihren Vorgarten hinausgetreten und habe zum ersten Mal die ganze Schönheit der gelbgoldenen Blätter wahrgenommen. Die essenziellen Dinge des Lebens haben eben oft ihren eigenen Rhythmus, der sich durch keine Veröffentlichungstermine beschleunigen lässt.

Im November kommt Beth Orton für zwei Konzerte nach Deutschland:

Sa, 17.11.2012 – Köln – Studio 672
So, 18.11.2012 – Berlin – HBC

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