Ekel vor dem Britpop-Boom: Suede veröffentlichen ‚Dog Man Star‘

Drogen, wagnerianische Hybris und Streit zwischen den Dickköpfen Anderson und Butler. Das zweite Suede-Album brachte die Trennung.

Suede – alle Alben, Expanded

aus ROLLING STONE 7/2011

von Joachim Hentschel

Vielleicht lag es daran, dass wir Bowie damals nur als sonnengebräunten Diplomaten und Iggy Pop als alte Knusperhexe kannten. Im Mai 1993, als das erste Album von Suede in Deutschland noch nicht einmal erschienen war, wurden vor der Tür der Frankfurter Batschkapp jedenfalls hohe Summen für unsere Karten geboten. Und als wir uns drinnen in die erste Reihe gepresst hatten und auf einmal – im bauchfreien Ripphemd – Brett Anderson und seine Schlaghosen-Vogelscheuchen vor uns standen, Sex-Astronauten aus einer anderen Welt namens England, als Gitarrist Bernard Butler im Rhythmus mit der Zunge schlackerte und Anderson den Hintern und das Mikro schwang, dass man den Kopf einziehen musste – da erlebten wir unseren großen, elektrischen Ziggy-Stardust-Moment. Der viel mit eruptiv befreiter Sehnsucht und wenig mit Britpop und Hunderennen zu tun hatte.

Das Album war dann eine kleine Enttäuschung: zu viele Balladen, einige Füller. Anderson gibt zu, dass er es heute anders zusammenstellen würde – seine alternative Tracklist nennt er im Booklet zu dieser Wiederveröffentlichung, die wie alle fünf Suede-Studioplatten mit je einer Bonus-CD und -DVD kommt. Die Werkschau einer der umstrittensten britischen Großbands der letzten 20 Jahre, die ja seit 2010 wieder auf Tour ist.

Suede „leiden an der Tendenz im modernen popkulturellen Diskurs, die alles mit Marketing, Strategie, Hype erklärt“, schrieb Jon Savage 1994 – und in genau diesem Sinn wurden die jungen, in zu knappen Lederjacken steckenden Glamrock-Studenten aus London oft als Theatertruppe geschmäht. Das mit grandiosen B-Seiten, aufschlussreichen Demos und einer abendfüllenden DVD enorm aufgewertete Debüt „Suede“ sollte jeden vom Gegenteil überzeugen: Hier passierte etwas Abenteuerliches, Poetisches, und die Songs schüttelten sie aus den knochigen Handgelenken. (Die kostbare erste Single „Be My God“ fehlt hier leider.)

Die Geschichte zu „Dog Man Star“ von 1994 ist lang – sie handelt vom Ekel gegenüber dem Britpop-Boom, Drogen, wagnerianischer Hybris und dem Streit zwischen den Dickköpfen Anderson und Butler. Der noch vor Fertigstellung der Platte zu Butlers Abschied führte, aber irgendwie eben auch zu diesem Meisterwerk aus glimmerndem Prog-Pop, herzbrechend und euphorisch, dem die Deluxe Edition einige verlorene Perlen hinzufügt: den ungekürzten Edit von Suedes bester Single „Stay Together“, Vierspur-Vorstudien und Alternativ-Versionen.

Den kommerziellen Reinfall von „Dog Man Star“ konnte die Band mit neuem Gitarristen und Keyboarder wettmachen, „Coming Up“ (1995) und „Head Music“ (1999) brachten Erfolg und Breitenwirkung, aber wie so oft war Sänger Anderson ohne seinen Antipoden Butler nur noch die Hälfte wert. Suede fuhren das Theater zurück, trugen Jeans und Drei-Tage-Bärte, wurden harmlos. Eine gewisse Stilsicherheit muss man aber selbst dem Abgesang „A New Morning“ (2002) noch zugutehalten. Man kann sich zumindest keine andere Rockband vorstellen, mit der sich Pet Shop Boy Neil Tennant problemlos auf die Bühne stellen könnte – so wie es ein bisher unveröffentlichter Konzertmitschnitt auf einer der Bonus-DVDs zeigt.

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