Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Streams aus Versailles

Eine Krise ist eben immer auch eine Krise. Aber man wird dieser Tage auch oft mit der Erkenntnis konfrontiert, dass der Mensch eine ebenso liebenswerte wie schrullige Spezies ist. Und die einzige, die Musik macht.

Folge 207

Die Zeiten sind seltsam, die Menschen ulkig. Angst und Verdruss gehen um, und der Umgang mit beidem treibt drollige Blüten.

Auch an den Superstars aus der Risikogruppe geht die Situation nicht spurlos vorbei: Die Rolling Stones haben gar vor lauter Schreck einen neuen Song veröffentlicht, der besser ist als vieles, was sie seit, äh, 1974 gemacht haben. Bob Dylan wiederum nutzt den Ausnahmezustand für eine Schnitzeljagd in die amerikanische Seele. Donald Trump hingegen, so war eben zu lesen, hört dieser Tage gern Helene Fischers Version von „You raise me up“. Das haben die meisten sicher nicht gemeint, als sie auf dem großen Bestellzettel des Lebens die Begriffe „überraschend“ und „verrückt“ angekreuzt haben.

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Was der Menschheit auf die Seele drückt – im Pop zeigt es sich am schnellsten und knalligsten: Der Popstar des Jahres 2020 ist ein Streamer. Er sitzt in seinen vier Wänden und gibt sich nahbar, dabei ist er tatsächlich ferner als in jeder Großraumarena. Natürlich ist Streaming nicht pauschal zu geißeln. Es gibt unterschiedliche Motivlagen. Die einen tun es aus schlichter Notwendigkeit, andere aus Eitelkeit, wieder andere aus Menschenliebe, manche aus Langeweile. Künstlerisch kommt in der Regel wenig Neues dabei herum. Vielleicht ist Streaming ja doch pauschal zu geißeln.

Zu wissen, wie die Stars wohnen? Nicht immer schön

Das Schlimmste und zugleich Unterhaltsamste an der ganzen Streamerei ist, daß man nun weiß, wie die ganzen Stars wohnen. Das ist nicht immer schön. Auch dies wird man aus der Krise mitnehmen: Die meisten Superstars haben viel zu große Küchen. Tatsächlich kann man sich bei internationalen Popstars ernüchternd wenige Anregungen zur Wohnungsneueinrichtung abholen. Am besten gefiel mir persönlich ein Video von Rod Stewart, der offenbar im Schloß von Versailles wohnt.

Aber es ist natürlich nicht alles lustig und ergreifend. Eine Krise ist eben immer auch eine Krise. Viele bemerken das dieser Tage beim ausgiebigen Wiederbegegnen mit der heimischen Plattensammlung. Komisch, was für Zeug man da teilweise herumstehen hat! Was mir bislang nicht gelungen ist: Mich in Alben „reinzuhören“, zu denen ich in den letzten Jahrzehnten aus gutem Grund keinen Zugang gefunden habe, die aber angeblich ganz toll sind. Man kann sich seine schöne Krisenzeit auch mit Gewalt versauen.

https://www.youtube.com/watch?v=jXO0MHPxl-g

Auch kollektives Singen feiert dieser Tage fröhliche Urständ, wie einige an die „Band für Afrika“ mit Abstandshalter erinnernde Projekte nahelegen. Zu nennen ist hier unbedingt das Stück „Time To Wonder“, im Rahmen dessen unter anderem Purple Schulz, der Sänger von Fool’s Garden, Mirja Boes und Fury In The Slaughterhouse der Finsternis einen feierlichen Gefühlsausdruck abringen. Noch mehr Positives? Es wurde erstaunlich wenig aus deutschen Fenstern und von Balkons gesungen. In meiner Heimatstadt Köln keine Selbstverständlichkeit. Aber ich rechne es meinen Nachbarn hoch an, dass vom Schmettern traditionellen Kölner Liedguts bislang abgesehen wurde. Manchmal ist keine Musik einfach die beste Lösung.

„Eure Songwünsche zum Thema Postapokalypse?“, fragte gestern der Radiosender ByteFM auf seiner Facebook-Seite. Hm, keine Ahnung, vielleicht „When The Rain Begins To Fall“ von Pia Zadora und Jermaine Jackson. Es führt wieder zum Anfang: Die Zeiten sind seltsam, der Mensch ist ulkig. Das war schon immer so. Natürlich gibt es verstörende Freaks und Spinner. Aber man wird dieser Tage auch oft mit der Erkenntnis konfrontiert, dass der Mensch eine ebenso liebenswerte wie schrullige Spezies ist. Und die einzige, die Musik macht.

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