Gegen die Verlogenheit

Irgendwie ist der Wurm drin. Meine Freundin, die Therapeutin, erzählt: Egal ob 30, 50 oder 70 Jahre, die Leute heulen sich hinter verschlossenen Türen die Augen aus. Aber niemand in ihrem Umfeld würde ihr inneres Unglück bemerken. Das Leben fühlt sich irgendwie falsch an. Hinter lachenden Mündern lauert Unzufriedenheit. Was aber ist das für ein Wurm, der an unserer Substanz herumfrisst und die Reserven zerstört?

Wenn mich im Supermarkt aufgemotzte und durchvitaminisierte Produkte anstarren, die in Wahrheit in Hightechlaboren entwickelte Chemiecocktails sind, angereichert mit viel Aroma, Zucker und Fett. Wenn auf diesen Kalorienbomben prominente Sportstars zum Verzehr locken und uns Werbestrategen in unserer auf Effizienz getrimmten Zeit einreden, auch Nahrungsmittel müssten einen Zusatznutzen haben. Dann lassen wir uns mit Mogelpackungen abspeisen – müssen zwar nicht mehr hungern, essen uns aber krank.

Wenn beim Arzt nicht mehr gefragt wird, wie es geht, sondern welche Chipkarte man hat. Wenn eine Selektion nach Kassenlage erfolgt und nur zählt, was Geld bringt und wegfällt, was Zeit kostet. Dann sind wir Patienten plötzlich Mittel zum Zweck, um Kasse zu machen. Wenn Politiker statt regulierend einzugreifen, lieber in ihre persönliche Wirkung investieren. Wenn sie vom blendenden Redner zum redenden Blender mutieren. Dann werden Rettungspakete geschnürt, die sich schon am Tag danach als ein Milliardenguss in ein Fass ohne Boden erweisen, und Schneeballsysteme als Zukunftschancen umetikettiert. Wenn das alles die Finanzjongleure nicht juckt, weil sie am Ende die Rechnung nicht zahlen, dann zocken sie weiter mit ihren Supercomputern.

Wenn in den Medien einmal mehr auf Empörung gesetzt wird, statt auf Wirklichkeit und wir mit Worten vollgekrümelt werden. Wenn wir uns davon emotional mitreißen lassen, dann wird erneut unser Verstand lahm gelegt, folgt auf Fernsehen Kurzsichtigkeit; die Wunschannahmebildschirme werden zu Wirklichkeitsverschleierungsapparaten. Und wenn in unserer Castinggesellschaft das Eindrucksmanagement gewinnt, dann werden Täuschen und Tricksen zu Kernkompetenzen in rauen Abstiegszeiten, und ein groß aufgesetztes Illusionstheater mit Fassadenpersönlichkeiten baut sich um uns herum auf.

Wenn solche substanzlosen Angebote Systemcharakter annehmen, dann umgibt uns eine gut getarnte Kultur des Lügens und Betrügens und Wahrheit wird systematisch abgeschafft. Dann ist der Wurm drin in unserem Leben, und deshalb fühlt es sich falsch an. Aufgebläht sind nicht nur die Selbstdarstellungen, Blasen entstehen überall: Finanzblasen, Medienblasen, Politikblasen. Wir sind zu einer Gesellschaft der Flatulenz geworden. Selbst die Sprache wird zum Blasebalg und dient nicht mehr der Verständigung, sondern soll ein Feuer des Begehrens entfachen. Alles dreht sich nur noch um Quote, Profit oder Wachstum um jeden Preis – kurz: um Gewinne auf Kosten anderer und nachfolgender Generationen.

Wer die Wahrheit verdrängt, landet in einer Welt des Misstrauens, wird zum kalten Krieger im Dschungel der Verlogenheit und im Kampf um schwindende Vorräte. Arbeitsverdichtet und informationsattackiert wie wir sind, kommen wir kaum noch dazu, das alles zu begreifen. Doch welchen Halt bietet eine Welt, in der die Kulissen jederzeit einstürzen können? Es ginge um Wahrhaftigkeit statt Blähungsblasen, um Sinnzusammenhänge statt Informationsmüll. Aber sind wir an Wahrheit tatsächlich noch interessiert, auch wenn sie uns rüttelt und schüttelt?

Noch ist Zeit für Lösungen. Aber wenn wir uns nicht selbst ermächtigen, wenn wir uns nicht von den tausenden falschen Verführern abgrenzen, sind wir nur noch Statisten auf der Bühne von Lügnern, Betrügern und Schaumschlägern – und gärtnern in einem verlogenen Land. Demaskieren wir also die Blender, weg mit dem wuchernden Unkraut geschönter Bilanzen und Verhaltensweisen. Erobern wir verlorenes Terrain zurück und begehren statt Unersättlichkeit Maß und Mitte. Der Moment der Veränderung könnte ein magischer sein und dann weiter getragen werden in die Breite des Lebens. Der Mensch ist mehr als Bits und Bytes und in der Lage, die Welt nach seinen Vorstellungen zu ändern und bis zum Ende des Regenbogens zu träumen.

Angela Elis ist Autorin des Buches „Betrüger Republik Deutschland. Streifzug durch eine verlogene Gesellschaft“ (Piper, 15,99 Euro)

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