Geh mal von meiner Wolke, Alter

Als Kinder bedauerten wir immer jene Außenseiter, die an einem 29. Februar geboren worden waren und folglich nur alle vier Jahre Geburtstag hatten. Sie waren noch ärmere Würmer als die kindlichen Loser, die am 24. oder 25. Dezember in die Welt geworfen wurden, zu Ostern oder am Muttertag. Nicht nur gab es mit diesen Heranwachsenden niemals Kindergeburtstagsfeste bei Ronald McDonald, man ignorierte das Jubiläum überhaupt. Immerhin musste der Stigmatisierte in der Schule keinen Napfkuchen ausgeben, Schokoladenkekse oder Kaubonbons, die den etatmäßigen Unterricht aufhielten. Was den Nachteil hatte, dass nichts den Unterricht aufhielt.

Wann der Rock’n’Roll geboren wurde, weiß niemand so recht – ganz Kühne verorten das Ereignis prahlerisch um 1949, andere setzen bei Bill Haleys „Rock Around The Clock“ an, viele deuten den Moment am 5. Juli 1954, in dem Elvis Presleys Fußwippen sich bei der Aufnahme von „That’s Allright, Mama“ beschleunigte, als Hebamme. 1954 ist also so gut wie jeder andere Termin, wenn nicht besser, und während der Sommer vielleicht die richtigere Jahreszeit ist, kann man im Frühjahr schon mal anfangen.

Thomas Gottschalk war vermutlich schon in der Schule der Liebling aller Milchmütter, Hausmeister und Turnlehrerinnen, die seinen goldenen Humor zu schätzen wussten. Hätte es Barry Ryan damals schon gegeben – er hätte den Sänger zum Schulfest eingeladen. So muss er ihn bis zum Ende seiner Tage zu jeder Fernsehsendung einladen, die irgendwie mit Rockmusik zu tun hat, und „Eloise“ als eine seiner „Lieblingsnummern“ ankündigen. Den Rest der ungefähr 16-stündigen Veranstaltung „50 Jahre Rock!“ füllte übrigens der Kapellmeister und vormalige Dschinghis Khan-Schnauzbart Leslie Mandoki, der es als seine Mission versteht, eine Art Gerontokratie halb vergessener Musiker am Starnberger See zu versammeln, die „Soulmates“ zu nennen er sich nicht scheut. Gary Brooker orgelt seit 35 Jahren „A Whiter Shade Of Pale“, Chris Thompson kräht „Blinded By The Night“, Peter Frampton säuselt „Baby I Love Your Way“, lan Anderson röchelt „Locomotive Breath“, und John Kay ist einfach der Mann, der tatsächlich „Born To Be Wild“ belferte in jenem Film, der den Traum vom Rock’n’Roll als surrealistisches Zerrbild bekiffter Hippies entlarvte, die am Ende von blödsinnigen Rednecks vom Motorrad gepustet werden.

Statt Dennis Hopper kam freilich der Rock’n’Roll-Präsident Michail Gorbatschow zu Besuch, dem ja auch eine Revolution wider den restriktiven Muff zugeschrieben wird – nur dass man zu Perestrojka nicht so gut tanzen konnte und das heimische Publikum auch gar keinen Bock darauf hatte, während die westliche Welt dem Freiheitskämpfer applaudierte wie sonst nur dem Papst.

Vielleicht entspricht es der Natur der Sache, dass so viele Gründungsväter schon tot sind, malade, verschollen oder vergessen, und als Stellvertreter so bizarre Figuren wie die Scorpions, die Puhdys und Bonnie Tyler erscheinen. Bibo, Räuber Hotzenplotz und Bernd das Brot haben mehr Rock’n’Roll. Aber was ist das überhaupt, dieser Rock’n’Roll: ein Aphrodisiakum, eine Metapher, eine Teufelsbeschwörung, ein Stimulans, eine Schimäre, eine Art „Doppelherz“?

Mittels Rock’n’Roll verständigen sich mindestens zwei Generationen über ihre Grundlagen, und wir müssen hier unserem zweifellos rock’n’rolligen Freund Benjamin von Stuckrad-Barre ein einziges Mal sachte widersprechen: n der gemeinschaftsstiftenden Erinnerung etwa an ein einziges Konzert der Beatles, von Neil Young oder Bob Dylan liegt die Möglichkeit, sich allgemeinverbindlich zu artikulieren. Wir wollen nicht ausschließen, dass es sich mit der Erinnerung an Falcos „Jeannie“ ebenso verhält.

Noch schöner aber ist, dass Rock’n’Roll auch Distinktion und Differenz ermöglicht. Indem die Kinder exakt die Musik der Eltern hören, ist das widerständige Potenzial der Rockmusik ja nicht endgültig verbraucht, und es sind nicht nur altböse, gespenstische Gestalten wie Karl Moik, gegen die es anzutreten gilt. „It’s my life and I do what I want“, „Why don’t you all fade away?“, „Get off of my cloud“, „You’re all just pissing in the wind“, „He not busy being born is busy dying“: Schon diese kleine Sammlung von Aphorismen belegt, dass Rock’n’Roll nicht bloß ein Gefühl ist, eine Musik, ein Sound. Sondern eine Haltung gegenüber der Welt, eine Haltung von Stolz und Trotz, Selbstbehauptung und Dissidenz, Identität und Integrität. Dave Marsh schreibt (kaum übertrieben!): „Wir hatten nichts, und der Rock’n’Roll gab uns alles.“

Was wir eigentlich meinen könnten, wenn wir jetzt dauernd „50 Jahre Rock’n’Roll“ feiern.

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