Gentleman und Genie – In Erinnerung an Udo Jürgens

Er sang die Lieder unseres Lebens.Vor einem Jahr ist Udo Jürgens, der Bonvivant der Liedkunst, gestorben.

„Wie könnt‘ ich von dir gehen/ Nie könnt‘s im Sommer sein“: Auch damit hat Udo Jürgens recht behalten. Zu seinem 80. Geburtstag bemerkte er, dass nun die Ernte eingefahren werde – eine zufriedene Feststellung, die freilich eher auf die sogenannte Kritik und die Kulturwächter gemünzt war als auf das Publikum, das ihn fünf Jahrzehnte lang feierte.

In den letzten 20 Jahren, als Jürgens‘ neue Platten weniger Beachtung fanden, überwinterte er mit dem neu erstrahlenden Glanz von „Ich war noch niemals in New York“ (auch der Titel eines Musicals mit Jürgens-Liedern), den regelmäßigen Tourneen mit jeweils etwa 60 Konzerten und Interviews in allen Journalen, allen Fernsehkanälen. Die Gala zu seinem 80. Geburtstag im ZDF versammelte seine drei Kinder und seinen Bruder Manfred Bockelmann neben Helene Fischer, David Garrett und Santiano – aber es war vor allem ein Dokumentarfilm, der ihn bei einem Konzert für eine Firmenbelegschaft zeigt, der das Charisma und das Genie des Udo Jürgens belegte: Das Publikum sitzt in dem kahlen Saal zunächst unbewegt an Tischen, weit von der Bühne entfernt – bis Jürgens die unbehagliche Atmosphäre unverblümt kommentiert. Am Ende stehen die Hochnäsigen mit Tränen in den Augen vor der Bühne, singen „Ich war noch niemals in New York“ und fordern Zugaben.

Udo Jürgens brachte sich das Klavierspielen selbst bei

Am 30. September 1934 auf Schloss Ottmanach – einem Erbe des Großvaters, eines reichen Bankiers – in Kärnten geboren, war Udo Jürgen Bockelmann ein schwächliches Kind, brachte sich das Klavierspielen selbst bei und konnte bei der Hitlerjugend nicht reüssieren. Der Vater seiner Mutter, die aus Schleswig-Holstein stammte, war der Dichter Hans Arp, die Onkel väterlicherseits waren Bürgermeister und Industriekapitäne. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte Udo am berühmten Mozarteum in Salzburg und inszenierte sich vor der Kamera des Bruders Manfred bereits als Ästhet und Komponist.

Zu seiner Überraschung gewann er 1950 einen Komponistenwettbewerb des ORF, verbrachte aber Jahre mit der Udo Bolán Band und sang seichte Schlager im Fahrwasser von Peter Alexander, Freddy Quinn und Vicco Torriani; in Opas Kino spielte er Nebenrollen („Die Beine von Dolores“, „Unsere tollen Tanten“, „Tanze mit mir in den Morgen“). Ein Schlager für Lale Andersen, „Jonny“ (ursprünglich „Jenny“), und der Song „Reach For The Stars“ für Shirley Bassey waren erste Erfolge.

Als 1963 der gewiefte Münchner Hans Beierlein, nachmals Schlager- und Volksmusik-Mogul, Jürgens‘ Management übernahm, kam endlich Zug in die Karriere: 1964 belegte Udo Jürgens mit „Warum nur, warum?“ Platz sechs beim Grand Prix in Kopenhagen – das Lied erreichte in der deutschsprachigen Version Platz eins der französischen Hitparade und machte den Sänger zum Star der Saison. Ein Jahr später rangierte „Sag ihr, ich lass sie grüßen“ sogar auf dem vierten Platz beim Chanson-Wettbewerb in Neapel. Im selben Jahr schrieb er „If I Never Sing Another Song“ für Frank Sinatra – der trat das Stück an Sammy Davis Jr. ab, der es bei Konzerten sang.

„Merci, Chérie“

„17 Jahr‘, blondes Haar“ war der erste von Jürgens‘ Songs, die sprichwörtlich wurden. Im März 1966 gewann er schließlich den Eurovisions-Wettbewerb mit dem berückenden „Merci, Chérie“. Dem Lied kommt nicht nur das Verdienst zu, dem Songschreiber mit 32 Jahren endlich den sogenannten Durchbruch ermöglicht zu haben – er inspirierte auch zwei Süßigkeiten: Der eine Teil des Titels schmückte fortan ein beliebtes Schokoladenkonfekt, der andere eine von Schokolade und Cognac umhüllte Kirsche.

Nach vorher kaum erinnerungswürdigen Platten gelang Jürgens 1967 mit „Was ich dir sagen will“ der große Wurf: Zwar sang er darauf noch immer englische Meterware wie „That Lucky Old Sun“, „Autumn Leaves“ und (verhältnismäßig früh) „Yesterday“ sowie Schnulzen wie „Johnny Boy“ – doch Joachim Fuchsberger schrieb die Texte für das erste und das letzte Stück der Platte, zwei wunderbare Balladen: „Was ich dir sagen will“ und „Der große Abschied“. Das Stück „Unabänderlich“ klingt einerseits wie ein Song von Scott Walker zur selben Zeit – und nahm andererseits die Melodie von „Wunder gibt es immer wieder“ vorweg.

In den 70er-Jahren gelang Jürgens mit leichter Hand alles: Für die Fernsehlotterie sang er „Zeig mir einen Platz an der Sonne“; mit dem Texter Michael Kunze verfasste er 1975 „Griechischer Wein“, das zum Hit des Jahres (und später, mit griechischem Text, als Volkslied importiert) wurde; „Aber bitte mit Sahne“ und „Mit 66 Jahren“ gingen in den deutschen Sprichwortschatz ein. „Ein ehrenwertes Haus“ war damals eine ungewöhnlich sarkastische Burleske über Liberalität und Spießertum. Zur Fußball-Weltmeisterschaft 1978 schrieb Udo Jürgens für die brummende Nationalmannschaft das schwelgerische „Buenos dias, Argentina“ – abermals eine folkloristische Anverwandlung, die uns Deutsche davon überzeugte, dass argentinische Weisen genau so klingen müssen. Für die Zeichentrick-Reihe „Tom und Jerry“ nahm Jürgens den Titelsong „Vielen Dank für die Blumen“ auf, auch dies ein Evergreen. Einmal mietete Udo Jürgens die Berliner Philharmonie und ließ das gesamte Ensemble aufspielen – seine Eltern saßen in dem ansonsten leeren Saal. Er nannte es den schönsten Moment seines Lebens.

Bombastische Arrangements, wohlfeile Texte

In veränderter musikalischer Landschaft war „Ich weiß, was ich will“ 1980 ein fulminanter Selbstermächtigungs-Schlager. „Udo ‘80“ wiederholte den Triumph von „Udo ‘70“ – noch immer war Jürgens im Einklang mit dem Zeitgeist. 1982 folgten auf dem Album „Silberstreifen“ das heute unverzichtbare „Ich war noch niemals in New York“ und „Ich bin dafür“. Mit Tochter Jenny sang Jürgens das überaus beliebte „Liebe ohne Leiden“.  Spätere Alben wie „Es lebe das Laster“, „Einfach ich“ oder „Der ganz normale Wahnsinn“ feiern in bombastischen Arrangements und wohlfeilen Texten den Hedonismus mit wachem Bewusstsein. Doch während die kreative Vision verdämmerte, stieg Udo Jürgens zur Institution angewandter Vernunft jenseits des Alltagsgeschehens auf.

Seit 1977 lebte Udo Jürgens nach Steuer-Kalamitäten in der Schweiz, hatte damals das Management gewechselt und wurde 2007 sogar schweizerischer Staatsbürger. Zwei Ehen schlugen zu Buche, doch war Udo Jürgens natürlich als Schwerenöter und Womanizer notorisch, der aus seinem Don Juanismus keinen Hehl machte. Harald Schmidt beobachtete einmal bewundernd, dass der Künstler eine junge Dame, die ihn vertraut grüßte und an die er sich offenkundig nicht erinnerte, charmant verabschiedete. Seit Jahrzehnten beendete Udo Jürgens seine ekstatischen Konzerte verschwitzt im Bademantel; die Ordner mussten enthusiasmierte Frauen zurückhalten. Noch vor wenigen Wochen unternahm er eine triumphale Geburtstags-Tournee, bei der er endgültig die Grenze zwischen Schlager und großem Entertainment transzendierte.

Im Alter war der Bonvivant und Existenzialist dankbar und bescheiden: ein Gentleman der Liedkunst. Der Jenseitsglaube, der Trost der Religion fehlten ihm. Ein Buch seines Landsmannes Thomas Bernhard lag in seiner Zürcher Wohnung aufgeschlagen herum, doch Udo Jürgens mochte es nicht lesen: Zu ungeduldig war er, zu kostbar erschien ihm die Zeit, die blieb.

Bei einem Spaziergang im Thurgau starb Udo Jürgens am 21. Dezember 2014 im Alter von 80 Jahren.

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