Gigant des Gefühls

Neil Young und sein Bruder fahren für Jonathan Demmes Dokumentation „Journeys“ den Weg aus ihrer Kindheit nach

Am Anfang sehen wir den älteren Mann auf einem Parkplatz, er steigt in sein geräumiges Auto und hört einer Wegbeschreibung zu. Am Fenster sieht man ein Gesicht, das seinem eigenen ähnelt, aber ein wenig voller ist: Bob ist der Bruder von Neil Young, und er führt diese sentimentale Reise von Omemee in Ontario, ihrem Geburtsort, zur Massey Hall in Toronto an. Begleitet werden sie von Jonathan Demme, der schon den Konzertfilm „Heart Of Gold“ inszenierte und mittlerweile eine Art Homunkulus des Musikers geworden ist.

Neil Young erzählt auch in „Journeys“ von seiner Kindheit, von den Fischen, die er im Karren vom Fluss holte, von den Stiefmütterchen in Holzkästen und der Schildkröte, die er mit einem Knallkörper ins Jenseits beförderte. „Alles hat sich verändert“, sagt Young beim Blick aus dem Fenster. „Aber das ist das Tröstliche, wenn jemand stirbt: In den Gedanken ist er noch da.“ Fahren und Erinnern fallen in eins, und dazwischen sieht man Young auf der Bühne der Massey Hall in Toronto, wo er ja noch gar nicht angekommen ist. „Ohio“ spielt er, man sieht Bilder von der Revolte an der State University 1970, und Young singt „Four dead in Ohio, four dead in Ohio“. Die Namen und Fotos der Toten werden eingeblendet. Das ist pathetisch, aber pathetisch ist eben die ganze Kunst dieses Giganten des Gefühls, der die Geschichte der Inkas und der Indianer, der Revolverhelden und der Goldsucher auf seine Weise erzählt – und seine Weise ist der Mythos.

Ein Privatmythos ist das verwilderte Grundstück, auf dem einst das Elternhaus stand; die beiden Männer tapern durch Gestrüpp, und Neil erinnert sich daran, wie er einst im Garten campierte, um näher bei den Hühnern zu sein, und dass er morgens die Hand herausstrecken musste, um seinem Vater zu zeigen, dass er wach war. Sein Bruder erinnert sich daran, dass er mit der Flinte auf der Lauer lag, um den Fuchs zu erwischen. Aber der ließ sich nicht blicken, sagt Bob. „Nein“, sagt Neil.

Ihr Vater, Scott Young, war ein bekannter Sport­reporter und Schriftsteller, in Omemee ist jetzt eine Schule nach ihm benannt. Im Abspann von „Heart Of Gold“ steht die rührendste Widmung, die ich kenne: Während Neil Young singt, werden zwei Wörter eingeblendet – „For Daddy“. Es gibt ein Lied über Scott Young, „Daddy Went Walkin‘“ auf „Silver And Gold“. Der Sohn kann wunderbare Lieder schreiben, aber keine Prosa. Jede bärbeißige oder lakonische Bemerkung in diesem Film enthält Wahrheit, während die Memoiren „Waging Heavy Peace“ undeutlich bleiben: Neil Young weiß noch genau, wo damals am See sein Fahrrad stand, und er kann Poesie daraus machen – aber er hat keine Ahnung, weshalb er Crosby, Stills und Nash verließ und dann doch wieder mit ihnen arbeitete, zum Beispiel. Er ist ganz und gar Instinkt.

Auf der Bühne trägt Neil Young einen lächerlichen Hut, sein Gesicht ist jetzt das eines Farmers oder Landarbeiters, es ist gutmütig, wach, empfindsam, aber vor allem entschlossen. Das alte Klavier, die Pump-Orgel, „After The Gold Rush“, wie oft hat man das Stück gehört, ein paar Songs vom damals gerade neuen Album „Le Noise“. Und wieder klingt „Hey Hey, My My“ anders, dreieinhalb Jahrzehnte später: eine elegische Ballade, die von einem König handelt, der gestorben ist. Mit dem toten König ist Elvis Presley gemeint, aber das ist schon zu konkret, man muss es nicht wissen. Wenn Legende zur Wahrheit wird, druckt die Legende.

Die DVD enthält auch einige launige, erratische Gespräche mit Young und Demme bei Filmfestivals. Demme glüht und sprüht meistens, er hat „Das Schweigen der Lämmer“ gedreht und „Philadelphia“, aber in Neil Young hat er sein Lebensthema gefunden. Der Songschreiber erntet mit knappen, manchmal etwas irren Bemerkungen die Lacher. Demme erzählt davon, wie er im Auto zum ersten Mal Youngs Requiem „Philadelphia“ hörte und weinend an den Straßenrand fahren musste. Gäbe es einen Straßenrand, wo „Journeys“ zu sehen ist – man würde ewig und drei Tage dort stehen.

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