Gitarren vs. Elektronik 8 : 28

Wer sich für avantgardistische neue Musik von jungen abenteuerlustigen Leuten begeistert, für den war dies ein sehr gutes Jahr. Kaum ein Monat verging, in dem man nicht einen aufregenden Newcomer entdecken konnte. Rudimental, ein grandioses neues Dubstep-Ensemble aus London, verband die stotternde Polyrhythmik des Genres mit Soulgesang und schön heulenden Progrock-Gitarren; Chvrches aus Glasgow bastelten aus den heruntergepitchten Chören des Witch House und glitzernden Synthie-Arpeggien den geschmeidigsten Elektro-Pop der Saison; die beiden blutjungen Brüder von Disclosure eilten auf ihrem Debüt einmal durch die ganze Clubmusik-Geschichte der letzten Jahrzehnte und erschufen gleichermaßen tanzbare wie zum Mitsingen einladende Techno-House-HipHop-Dubstep-Hybriden; das Duo AlunaGeorge legte hysterisch sich emporschraubende R&B-Melodien über schmutzumflorte und wuchtig gebolzte UK-Garage-Beats; das Trio London Grammar kontrastierte wunderbar warmen Gesang mit kalt-metallenen Sounds aus Laptop und Gitarre; James Blake schließlich – wenn auch kein Newcomer mehr – weitete auf seiner grandiosen zweiten LP „Overgrown“ sein digitales Songwriting endgültig zu metaphysischer Größe.

Lauter tolle Platten! Und das Tollste ist: All diese inspirierten Entwürfe, all diese hoch komplex und intelligent zusammengebastelten Beats, all diese wagemutig wobbelnden Bässe und kontrastreich selbstwidersprüchlichen Kompositionen eroberten ganz selbstverständlich die Charts. Disclosure und Rudimental gingen mit ihren Alben direkt auf die eins, London Grammar kamen auf den zweiten Platz, AlunaGeorge, Chvrches und der Mercury-Prize-Gewinner James Blake gelangten immerhin in die Top 10. Jedenfalls in Großbritannien, wo das breite Publikum ja schon immer etwas abenteuerlustiger als anderswo war, offener für neue Spielweisen und Sounds. Blickt man vergleichshalber auf die deutsche Hitparade und die triste Konfektionsware, die sie beherrscht, kann einen sofort die Verzweiflung ergreifen. Man kann aber eben den Blick auf Deutschland auch lassen und sich an den Nachbarn auf der Insel erfreuen: Bei denen jedenfalls war die Grenze zwischen Underground und Mainstream, zwischen avantgardistischer Beatbastelei und massenbegeisterndem Pop lange schon nicht mehr so durchlässig wie in diesem Jahr. Für die Generation, die jetzt an die Regler kommt, herrscht zwischen großer Pop-Geste und fein ziseliertem Studiogefrickel kein Widerspruch mehr. Und das Publikum, das ihnen zujubelt, hat lange schon nicht mehr so guten Geschmack bewiesen. Unter den 36 Nummer-eins-Alben in den britischen Charts 2013 fanden sich übrigens gerade noch acht, die sich im weitesten Sinne dem Gitarrenrock zuordnen lassen.

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