Glaube, Liebe, Hoffnung (29) – EM-Finale: Kommt jetzt die Revanche für Griechenland?

Das Unmögliche ist möglich: Einiges spricht heute Abend für einen Final-Sieg der Portugiesen - EM-Blog, Folge 29

„Die Philosophie muss sich hüten, erbaulich sein zu wollen.“

Hegel
„Wenn man ein Fußballspiel ansieht, ist die Zukunft für eine kurze Frist unentschieden, im Prinzip offen. Das Zukünftige enthüllt sich Schritt für Schritt in Echtzeit vor unseren Augen.“

Jean-Philippe Toussaint
„Ein großes Spiel klärt Verhältnisse, die vor dem großen Spiel noch unumstößlich festgeschrieben scheinen.“

Holger Gertz

Ballbesitz ist überschätzt. Beim 1:7 gegen Deutschland hatte Brasilien vor zwei Jahren 52% Ballbesitz. Die Brasilianer hatten 18 mal aufs Tor geschossen, die Deutschen nur 14 mal. Die Brasilianer gewannen mehr (51%) Zweikämpfe, als die Deutschen.

Soviel zur Statistik.
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Wird Ronaldo jetzt Europameister? Für diese Vermutung spricht zumindest, dass die Franzosen glauben, dass sie schon gewonnen haben. Die Portugiesen wissen, dass sie noch nichts gewonnen haben.
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An den vielgeherzten, vielbejubelten Isländern gefiel den sogenannten „Fans“ nicht nur, dass sie ein paar Favoriten ärgerten, sondern auch ihr Jubel.

Wie sich jetzt herausstellte, ist das coole „Uh Uh Uh“ mit Klatschen im reichsparteitagshaften Gleichklatschrythmus aber keineswegs ein alter nordischer Brauch, keine gemeinschaftsstiftende Wikingertradition, sondern ein moderner Medienhype und ein Faneinfall, den die Isländer erst vor zwei Jahren von den Schotten geklaut haben.

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„Im isländischen Fußball wird erst seit dem jahr 2014 geklatscht“, enthüllte der isländische Sportjournalist Sindri Sverrisson (Morgunbladid) jetzt in einer norwegischen Tageszeitung. Damals musste der Verein Stjarnan in der Qualifizierungsrunde gegen den schottischen Club Motherwell antreten. „Stjarnan hat nach isländischen Maßstäben wirklich richtig viele Fans. Und als die beim Auswärtsspiel gegen Motherwell mitbekamen, dass die schottischen Supporter auf der Tribüne so eine Art Klatschritual veranstalteten, nahmen sie das als Idee mit nach Hause.“ Lange dauerte es nicht, und die Klatscherei hatte sich derartig durchgesetzt, dass sie nun beim Nationalteam angekommen ist.
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Morgen werden wir wissen, warum es so gekommen sein wird, wie es heute Abend kam.
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Die Portugiesen profitieren davon, dass sie von allen unterschätzt, und wegen Ronaldo nur von wenigen geliebt werden.

Tatsächlich ist Ronaldo narzisstisch und arrogant, ein großes dummes Kind. Aber er spielt Fußball und kann Tore machen, wie sonst nur Messi. Ronaldo macht das Unmögliche möglich: Den Zaubertrick, das virtuose Kunststück, die „Explosion des reinen Könnens“ (Gunter Gebauer). Weder Portugiesen, noch Franzosen sind überheblich. Die Portugiesen sind zäh. Die Portugiesen sind offensiver, als es den Anschein hat. In der Vorrunde haben sie öfters als jedes andere Team aufs Tor geschossen. Allein Ronaldo 30 Mal.
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Hoffentlich gelingt es den Mannschaften, heute Abend die Kritik am Gegenwartsfußball zu widerlegen. Stichwort: „Feminisierung des Fußballs“ (Wolfram Eilenberger), vulgo: „Pussy-Fußball“. Statt einem offensiven Schlagabtausch, bei dem sich beide Mannschaften nichts schenken, immer angreifen, erlebe man im Fußball Defensiv-Dominanz und ödes Taktieren. Mannschaften verzichten auf Stürmer, führen Eckbälle kurz aus, statt sie vors Tor zu schlagen, die klassisch „männlichen“ Attribute wie körperliche Kraft und Aggressivität, Egoismus und Hierarchien werden zunehmend (und mit Erfolg) durch klassisch „weiblich“ codierte Verhaltensweisen und Werte wie Empathie, Kommunikation, Kollektivität ersetzt. Analog haben erfolgreiche Fußball auch zunehmend androgyne und feingliedrigere Körper. Keine Kopfbälle mehr, wenig Kampf, wenig Lust am Torabschluß, stattdessen ewig verlängertes Strafraumvorspiel.

Der Philosoph Wolfram Eilenberger kommt zu dem Schluß: „Es handelt sich hierbei um taktische Eingriffe, die das Spiel in seiner Tiefengrammatik betreffen und bedrohen – ja es faktisch verhöhnen. Es wird die Aufgabe einer späteren Generation bleiben, die tieferen gesamtgesellschaftlichen Gründe dieser gerade in Deutschland flächendeckenden Geschmacksumwandlung freizulegen.“
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Fußballs ist im Gymnasium und im bildungsbürgerlichen Milieu angekommen. Das macht den Fußbasll nicht besser, aber es verändert ihn. Heute braucht man selbst in der Kreisklasse eine Fußballphilosophie. Gunter Gebauers Buch „Das Leben in 90 Minuten“, eine Philosophie des Fußballs, ist so etwas wie die „Phänomenologie des Geistes“ für den Fußball – ein Grundlagenwerk, hinter das man nicht mehr zurück kann. Darin bemüht er sich recht erfolgreich, dem Spiel mit dem Zufall Sinn zu geben, ohne die Bedeutung des Abgrunds der Möglichkeiten, des reinen Zufalls, der beim Fußball immer wichtig bleibt, zu eliminieren.

Der Kern der Ästhetik des Fußballs liegt in dem Erlebnis der „absoluten Gegenwart“, der „reinen Präsenz“. Das Tolle am Fußball ist die Möglichkeit des Unerwartbaren, Unmöglichen. Das Unwägbare ist die Chance des Underdogs, er muss auf das Unvorhergesehene hoffen. Das Unmögliche des Fußballs besteht in dem Triumph in letzter Sekunde oder aus der Niederlage nach haushoher Führung.
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Gunter Gebauer weiß: „Man sagt, im Fußball ist alles möglich – aber es ist viel schlimmer: Im Fußball kann das Unmögliche jederzeit wirklich werden.“

Das wissen die Portugiesen seit 12 Jahren. 2004 standen die Portugiesen bei ihrer Heim-EM im Finale. Griechenland verhinderte den sicher geglaubten Titel. Wird heute Revanche genommen?

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Ich hoffe heute Abend auf Frankreich, aber ich glaube an die Portugiesen.
Literaturhinweise:

Gunter Gebauer: „Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs. Pantheon Verlag, 320 S., 14,99 Euro. 
Jean-Philippe Toussaint: „Fußball“. Aus dem Französischen v. Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, 126 S., 17,90 Euro.

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