Go west

Kraftklub prägen eine neue, unverkrampfte Ost-Identität – und werden auch im Ruhrgebiet verstanden. In Dortmund spielt die Band aus Chemnitz vor 10.000 Fans. Wir waren vom Soundcheck bis zum letzten Wodka dabei

Wer spielt?“, fragt der Taxifahrer auf dem Weg in die Westfalenhalle.

„Kraftklub“, sage ich.

„Hm“, sagt der Taxifahrer, „kenn‘ ich nicht“, und wenig später: „Sind Sie aus Sachsen?“ (Wenn ich „Kraftklub“ sage, klingt das oft wie „Grawdglubb“.)

„Ja“, ich sehe mich im Rückspiegel nicken, „ich und Kraftklub“, und wir fahren durch die regenglänzenden Straßen der Ruhrpott-City, vorbei an Spielotheken, Eckkneipen, Imbissbuden, durch den nasskalten Herbstabend. Stunden später, irgendwann nach Mitternacht, das Konzert ist vorbei, wir stehen in den Katakomben der Westfalenhalle – an den Wänden Konzertplakate: Rolling Stones, David Bowie, Harald Juhnke -, wird mir auffallen, dass der Rapper und Sänger von Kraftklub, Felix Brummer, selbst gar kein Sächsisch spricht; die typische weiche Aussprache der Sachsen, der Chemnitzer, deren Dialekt eigentlich ganz besonders ausgeprägt und selbst in Sachsen beinahe berüchtigt ist, ist wirklich nicht zu hören. Als ich ihn darauf anspreche, scheint er sich fast zu entschuldigen, meint, das liege am Vater, der eben kein Sachse gewesen sei. „Schon in Ordnung“, sage ich etwas gönnerhaft in meinem breitesten Biersächsisch, weil ich weiß (oder zumindest glaube), wie wichtig die Herkunft, die ostdeutsche, sächsische Identität und Heimat (und das beinhaltet auch das, was ich immer „Reiben am Stein“ nenne) für die fünf Jungs sind, die sich seit Kindheitstagen kennen, „ist doch irre: Karl-Marx-Stadt in der Westfalenhalle.“

Denn spätestens als der Song „Karl-Marx-Stadt“ gegen 22.30 Uhr durch die volle Westfalenhalle dröhnt, von der Mehrzahl der fast 10.000 Besucher mitgesungen wird, habe ich begriffen: Kraftklub sind ein Phänomen. Kraftklub sind mehr als Ostmugge plus Indiepop plus Rap. Aber was, verdammt noch mal, ist das Geheimnis der fünf Jungs? Das Geheimnis ihres Erfolges? Fünf Fragezeichen, Michael J. Fox calling? Die Resistance aus der Provinz? Und jetzt fangt mir bloß nicht mit solchen Klischees an wie: Die sind so unverbraucht, die sind so authentisch! Also zurück zum Anfang, aber wo genau ist der?

Als ich durch den Gang flaniere, der um die Halle, also um die innere Krypta, führt, an den Schlangen vor den Fressbuden, Bierständen und Fanartikel-Verkaufstischen vorbeilaufe – drinnen spielt die erste oder zweite Vorband -, fällt mir nach einer Weile ein ganz bestimmter Typus junger Männer auf. Die tragen große, schwarzgerahmte Brillen, nach unten hin enger werdende Jeans, aber das kenne ich schon aus Berlin. Einige der so dick Bebrillten sind bärtig, aber auch das ist ein mir bekannter Trend unter jungen bis mittelalten Menschen. Ich beginne die Brillen zu zählen, während ich auf der Suche nach einer Tasse Kaffee bin, aber nicht fündig werde im Gewirr der Fressbuden – nur Bier, Prosecco, Cola-Fanta-Sprite, aber verdammt noch mal nicht eine einzige Kaffeemaschine. Also wo war ich stehen geblieben auf der Suche nach – ja, wonach eigentlich? Dem typischen Kraftklub-Fan? Gibt es nicht. Das Publikum im Gang mischt sich, Junge, ganz Junge, Girlies, langhaarige Rockfans, T-Shirts, Sakkos, Cord, Jeans, Nerds, großflächig Tätowierte, HipHop-Typen … so falle ich zum Glück nicht auf in meinem schwarzen Hugo-Boss-Trenchcoat. Obwohl der ein wenig hinderlich ist später, als ich vor der Bühne eingeklemmt bin in der Menge der Tanzenden. Das große K leuchtet und blinkt auf rotem Grund. Bier spritzt. Die Hände fliegen hoch.

„Kraftklub, Kraftklub, Kraftklub“, so schallte es kurz zuvor noch durch die Halle, als die Bühne nach den Vorbands umgebaut wurde, als der Musikinstrumenten-Tester, der Soundchecker die Instrumente und Mikros testete, ein Mann mit Wollmütze und Kapuze. Wie muss das sein, dachte ich, so ganz allein vorm Auftritt der Stars, seine fünf Minuten. „Kraftklub, Kraftklub, Kraftklub“, Dortmund, Westfalenhalle, 21.30 Uhr, der Sturm vor dem Sturm, und dann kommen sie, sind plötzlich da, ganz unspektakulär, fünf junge Männer aus Chemnitz (ich muss zugeben, dass ich ständig ihre Namen durcheinanderbrachte: Felix, Karl, Till, Stephen, Max – gar nicht so schwer eigentlich, ob das bei den Beatles auch so losging? Ach nee, das war’n ja vier!), graue Jeans, weißes T-Shirt, Hosenträger, flache Turnschuhe und eine Art Football-Jacke mit Kraftklub-Emblem.

Die erste Frau wird auf einer Bahre von Sanitätern nach draußen getragen, bevor es richtig losgeht. Eine schöne große Blonde. Schade. Sie legen ihr die Füße hoch, während die Jungs die Halle begrüßen und es anscheinend selbst nicht fassen können, dass ihnen 10.000 Fans zujubeln, hier in Dortmund, wo all die Legenden schon gespielt haben. Und ich kann merken, wie es auch mich packt, wie ich diese pure Freude da vor mir auf der Bühne förmlich spüren kann, diesen Bock auf Musik, die woll’n was bieten, die haben was drauf, auch wenn es eigentlich zwei oder drei Songs dauert, bis sie richtig drin sind in dieser heiligen Krypta, der Kuppelhalle der Popmusik, bis ihre Musik und ihre pure Anwesenheit unter der Kuppel greifbar werden, die Luft ihre Beats und Texte wie von allein überträgt. „Nie wieder, nie wieder, nie wieder Ritalin!“

Und später finde ich auf meinem Diktiergerät und in meinen Aufzeichnungen, dass, bevor es richtig losging, ein Hollywood-Soundteppich aus klassischen Klängen die Halle kurzzeitig in Ehrfurcht schweigen ließ, die Hauptband ankündigte. Aber warum schien es mir so, als wären sie auf die Bühne geschlendert, als wären sie einfach mal eben so da gewesen? Weil sie so ganz und gar unaufgeregt und unspektakulär daherkommen und weil man sie deswegen einfach mag? Weil ihre Musik so verdammt gut und mit Herzblut gemacht ist? Weil sie nach den angesprochenen zwei oder drei Songs die große Halle in einen verschwitzten kleinen privaten Klub verwandeln? Weil, wenn sie spielen, man das Gefühl hat, das kann und wird ewig so weitergehen? Chemnitz, Dortmund und die Welt. Egal, Kraftklub sind da, und für den Moment zählt nur das. Und später, irgendwann nach null Uhr, in den Katakomben der Westfalenhalle, stehe ich mit Karl Schumann (der nur auf den ersten Blick ein wenig wie der junge Micha Ballack aussieht) und Till Brummer vor den gerahmten Plakaten der Stars, Altmeister und Newcomer, und wir reden über ihre ersten Konzerte, über das legendäre Atomino, diesen wunderbaren Hinterhofklub in Chemnitz, wo vor gar nicht allzu langer Zeit alles begann. Und weil es so ungemütlich ist in diesen zugigen Gängen, nehmen sie mich mit in den Backstage-Bereich oder wie immer man das nennt, dort gebe es wohl guten Schnaps, der sich dann später aber als Jägermeister und, na ja, Mittelklasse-Wodka in der Dreiliter-Flasche entpuppt („Unschlagbar günstig!“). So lebt es sich also als Rockstar, denke ich, ein bisschen wie auf großer Klassenfahrt. Freunde und Fans aus Chemnitz sind mit angereist, alte Mitstreiter, Bekannte aus’m Viertel. Später spielen sie Fußball in den Katakomben, eine kleine Anlage mit MP3-Player bringt Soul und R&B und alte Rock’n’Roll-Klassiker. Alle sind locker, es gibt Bier und Schnittchen, in wenigen Stunden fährt die Band weiter nach Linz in Österreich, Erinnerungen an Auftritte in Österreich „vor zehn Gästen“ kommen wieder hoch, Erinnerungen an ihren ersten Auftritt in der Westfalenhalle – „Wann war das nochmal genau?“ – als Vorband von Fettes Brot.

21.40 Uhr, das zweite Mädchen kippt nicht weit von mir um. Ist wirklich noch sehr jung, die Kleine, auch sie wird von den Sanitätern nach draußen getragen. Ob man so was mitkriegt auf der Bühne? Wahrscheinlich nicht. Felix Brummer, der Leadsänger und Rapper, erzählt zwischen den Songs immer wieder von den Anfängen der Band, richtet Grüße von den Beatsteaks aus, erzählt, wie ihm der Musiker Casper auf Facebook schrieb, dass die Westfalenhalle der verdammt geilste – und da fliegt der erste und nach meiner Beobachtung einzige Slip des Abends auf die Bühne. Felix Brummer nimmt das kleine Stück Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger, hält es hoch – „Oh, ein Höschen!“ – und bringt es zur Rückseite der Bühne, legt es dort fast wie eine sakrale Opfergabe direkt vor das blinkende große K auf dem roten Grund.

Und die Massen singen beziehungsweise rappen mit hier im Ruhrpott, tief im Westen: „Ich steh‘ auf keiner Gästeliste/ Ich bin nicht mal cool in einer Stadt, die voll mit Nazis ist, Rentnern und Schulen/ Ich cruise Banane essend im Trabant um den Karl-Marx-Kopf/ die Straßen menschenleer und das Essen ohne Farbstoff/ Diskriminiert, doch mich motiviert, von der Decke tropft das Wasser, nix funktioniert/ So wohnen wir in Sachsen, auf modernden Matratzen/ Immer jut drauf und ohne Kohle in den Taschen.“

Und wenn Felix Brummer, der Bruder von Till – eigentlich heißen sie ja Kummer mit Nachnamen, so wie ihr Vater, Jan Kummer, der einst zur legendären Band AG. Geige gehörte, die in den letzten bleiernen Jahren der DDR eine Art Avantgarde-Pop zelebrierten -, und wenn Felix Brummer, dieser … („Du Frechdachs!“, möchte ich bewundernd ausrufen, „du wahnsinniger Tausendsassa, du Teufelskerl von einer Ostpocke, du Schelm, du ostdeutscher Musikalienfreak, du Verteidiger meiner Heimat!“, aber ich schweige und lausche und staune.) – wenn und als er also dann den Refrain zusammen mit den anderen Jungs singt, in der Melodie frei nach Beck: „Ich komm‘ aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer, Baby, original Ostler“, dreimal, das Ganze, und als die Halle, the audience, das musikinteressierte Publikum, das in einer Lautstärke und mit einer Inbrunst mitsingt: „Ich komm‘ aus Karl-Marx-Stadt, ich bin ein Verlierer, Baby, original Ostler“, und auch ich mich beim Mitgrölen erwische, da glaube ich zu verstehen: Yeah, Baby, da glaube ich zu verstehen. Hier, im runtergekommenen Pott, hier, zwischen den Brachen, die nach dem Soli dürsten, im einstigen Land des schwarzen Goldes, dessen Zechen und Hochöfen nun stillliegen, über der Erde, unter der Erde, hier versteht man das Lebensgefühl, das dieses Lied ausdrückt. Jenseits von Ostbefindlichkeiten, auch wenn die im Text vorkommen – oder gerade deswegen. Die Jungs sind Anfang-Mitte 20, haben DDR also nur in den Genen (was nicht unterschätzt werden darf), aber sind nicht die westdeutschen Provinzen, die alten verfallenden Städte der gruseligen Spät-BRD genauso ein Gegensatz zum Hipster-Berlin, zu den coolen Mitte-Karrieristen, die nur so tun, als ob sie „was Kreatives“ machen? Kraftklub bekennen sich zum Ausharren in den Provinzen, zum Coolsein jenseits des Coolseins. Ist es nicht das Abgefahrenste und doch Würdevollste, mit Selbstbewusstsein und Humor sagen zu können: „Ich komm‘ aus Karl-Marx-Stadt“? Und kann man das nicht auch so ähnlich über Hagen oder Bitterfeld oder Siegen sagen?

Aber wir verzetteln uns, Fakt ist: Kraftklub fetzen! Hüben wie drüben. Und während das Publikum immer mehr in Ekstase verfällt, auch auf den Rängen wird jetzt getanzt, wandle ich über den Rundgang mit den Buden, an den ersten werden bereits die Rollläden heruntergelassen, vorbei an den Fanartikel-Tischen, die auch schon abgeräumt werden. Kurz überlege ich, einen Kraftklub-Stoffbeutel für sechs Euro zu kaufen, aber da es einer mit langen Trägern ist, ich bevorzuge Stoffbeutel mit kurzen Trageschlaufen, lasse ich es, beobachte die müden Sicherheitsleute, die Damen an den Türen, die die Karten kontrollieren, das Reinigungspersonal bereitet sich vor auf die lange Nachtschicht, während drinnen noch die leeren oder halbvollen Plastik-Bierbecher fliegen, und ich bedauere, dass ich Kraftklub nicht schon um 2010 im Atomino oder einem anderen kleinen Klub erlebte. Damals schon erzählten meine Bekannten in Chemnitz: Da gibt’s ’ne Band, das wird das nächste große Ding!

„Da seid ihr jetzt also die bekanntesten Chemnitzer!“, behaupte ich mehr, als dass ich es frage – und schäme mich auch gleich für diesen dummen Spruch, aber obwohl die beiden, Till und Karl, anscheinend genauso unsicher vor dem ROLLING-STONE-Reporter stehen wie der vor ihnen, fällt dem, also mir, nichts Besseres ein. Später, wieder mal nach null Uhr, wieder mal zwischen Katakomben und Backstage, wie ein Refrain, Raum und Zeit halten eh nicht richtig dicht, wenn die Musik zirkuliert, Felix, wir fahr’n nach Linz! Ein Rahmen inmitten der gerahmten Konzertplakate ist tatsächlich noch leer, und fast gleichzeitig sehen wir das und bringen den unvermeidlichen Spruch, der aber sicher mehr ist als ein Scherz: Reserviert für Kraftklub!

Und das ist der Punkt, an dem wir sagen: Jetzt brauchen wir einen Schnaps. Normalerweise habe ich immer einen Flachmann dabei, und wahrscheinlich ist das für einen ROLLING-STONE-Reporter sogar Pflicht, aber ich muss ja arbeiten, und da trinke ich nicht. Während wir zum Backstage laufen, zu dem Raum voller Flaschen und Müll und Klamotten und Menschen, muss ich an Chemnitz denken, jene unterschätzte, aber doch oft traurige Stadt, in der sich so etwas wie eine Resistance gebildet hat, eine Literatur- und Musikszene, wo sich die, die bleiben, engagieren, zusammenrücken, wo sich Gleichgesinnte mit einer Mischung aus Wut und Spaß zusammenfinden und dort, nur dort, glaube ich, kann ein intelligentes Projekt wie Kraftklub entstehen. „Auch wenn andre Städte scheiße sind: Ich will nicht nach Berlin!“ Und wer einmal am Nischel, wie der riesige Karl-Marx-Kopf im Volksmund genannt wird, vorbeigelaufen ist, den großen Boulevard der Neubauten runter, wer in den Nächten aus den leeren Straßen geflohen ist, um dann doch noch irgendwo eine offene Kneipe, eine Bar zu finden, der weiß, warum die Band mit allem Trotz singt: „Mein Leben ist nicht cool, mein Leben ist ein Arschloch! (Yeah! Yeah!)/ Dein Leben läuft gut, mein Leben läuft Amok! (Yeah! Yeah!)/ Und egal was ich tu‘, mein Leben bleibt ein Arschloch! (Yeah! Yeah!)/ Dein Leben läuft gut, mein Leben läuft Amok! (Yeah! Yeah!).“ Das ist diese Mischung aus Melancholie und Witz. Rausgerotzt von zwei Gitarren, Bass, Schlagzeug, dazu der Gesang, der Rap, in den Felix Brummer alles reinlegt und der zum Chorus wird, wenn alle einstimmen, verdammt gutes Timing, verdammt guter Beat, verdammt gute Melodien, Kraftklub!

„Hey“, sage ich, „ich bin vom ROLLING STONE, ich mach‘ euch berühmt!“ Und dann lachen wir alle. Die Plakate der großen Stars um uns. Und ich vergesse alle meine Fragen, die ich eigentlich stellen wollte. Die ich mir im Taxi zur Westfalenhalle, auf dem Weg durch die leeren nassen Straßen des Potts, noch notiert habe. Wie ist’s eigentlich, wenn ihr in Berlin auftretet? Seid ihr jetzt reich? Wie ist das mit den Groupies? Fühlt ihr euch als Ossis? Nerven euch die ganzen Scheiß-Klischees, wenn über euch berichtet oder geschrieben wird? Seid ihr Beatles-Fans? Findet ihr Bushido auch Scheiße?

Und um 22.30 Uhr ungefähr flammt sie auf, die Westfalenhalle. Steigen und schwirren die Glühwürmchen. Tausende Handys leuchten, wie früher die guten alten Feuerzeuge. Da kriegen wir Gefühl. Da knöpfe ich das erste Mal an diesem Abend meinen Trenchcoat auf. „Es ist nicht das, wonach es aussieht/ Schon aus Prinzip sing‘ ich kein Liebeslied/ Denn dieses Lied ist nicht gut genug, und die Geigen klingen schief.“ Und diese ungewöhnliche Ballade klingt noch in mir nach, als sie schon bei der mindestens dritten Zugabe sind. „So sitz‘ ich hier, mit Stift und Papier. Alleine. Nichts funktioniert/ Was ich schreibe, ist scheiße. Banaler, austauschbarer Müll/ Morrissey hat schon alles gesagt, was ich sagen will/ Und er redet Englisch und kennt dich nicht mal/ Und ist 52 Jahre, schluss-endlich egal …“

Und dann ist plötzlich Schluss. Die Bühne ist leer. Haben die Jungs nicht gerade eben noch die beiden Vorbands zu sich geholt und mit ihnen einen alten Punk-Klassiker intoniert? Ich bin verloren gegangen im Strom der Musik. Original Ostler. Und alles an diesem Abend wiederholt sich wie ein Refrain. Ich gehe mit Till Brummer zum Backstage, will meinen: zu jenem zugemüllten Raum, wo die Rockstars jetzt mit der Entourage abhängen. Und tatsächlich, da will ihn die Wächterin der Katakomben nicht durchlassen, erst als er seinen Backstage-Pass zeigt, dürfen wir passieren. Ob das den Beatles zu Anfang auch passierte? Aber das waren andere Zeiten. „Und? Wer spielt?“ Der Taxifahrer mustert mich im Rückspiegel. „Kraftklub“, sage ich, und er nickt.

CLEMENS MEYER ist 1977 in Halle an der Saale geboren und in Leipzig aufgewachsen. Sein Debütroman „Als wir träumten“ machte ihn 2006 berühmt. Zuletzt erschien von ihm „Gewalten. Ein Tagebuch“

GEB.

1989

Eigener Stil, eigener Look, Riesenerfolg: Kraftklub polarisiert

Ähnlich wie Tokio Hotel, Silbermond oder Jennifer Rostock gehört die Ende 2009 formierte Band um Sänger Felix Kummer (Jahrgang 1989) zu den ostdeutschen Bands, die die DDR nicht mehr live erlebt haben. Nachwende-Kinder Ost, in deren Pässen ironischerweise der alte sozialistische Stadtname Karl-Marx-Stadt steht. Kraftklub spielen krawallig-virtuos wie keine andere Ostler-Band mit der zuweilen schwierigen Nachwende-Identität. Die Schriftstellerin Jana Hensel befand im „Freitag“, dass Kraftklub die ostdeutsche Öffentlichkeit aus dem Museum herausholen und sie dorthin zurückbringen, wo sie hingehört: auf die Straße.

Und so sehen die fünf auch aus. Optisch spielen sie mit dem Working-Class-Stil der britischen Skins (Doc Martens, Hosenträger) – allerdings mit kleinen, aber feinen Abweichungen Richtung Mod- und Hipstertum: College- statt Bomberjacken, Cheap-Monday-Röhrenjeans und Verneigungen vor Oasis in Wort (eins ihrer Lieder heißt „Songs für Liam“) und Bild (über einem Verstärker prangt ein Aufsteller mit den Lettern N, O, E und L). Eine Ästhetik, die polarisiert.

Ihre Befindlichkeiten kleiden sie auf „Mit K“ in clevere Pop-Zitate wie etwa die Adaption von Becks „Loser“ mit dem Titel „Karl-Marx-Stadt“ („Ich komm‘ aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer, Baby, original Ostler“), und in „Zu Jung“ begeben sie sich in eine Art Rebellion zweiter Ordnung: „Unsre Eltern kiffen mehr als wir, wie soll man rebellieren?/ Egal wo wir hinkommen, unsre Eltern war’n schon eher hier/ Wir sind geboren im falschen Jahrzehnt.“ Kraftklub sind die Stimme der Zuspätgekommenen und bieten Identifikation für die Zukurzgekommenen.

Damit ist die Band schon längst kein reines Ostphänomen mehr (auch wenn es mal so anfing, wie Hensels immer noch lesenswerter Artikel zeigt), aber auch keine „anstrengend clevere Atzen-Musik für Besoffene“, wie die Kollegen von „Intro“ 2010 noch über die im Eigenverlag veröffentlichte EP „Adonis Maximus“ urteilten. Kraftklub spielen mittlerweile gesamtdeutschen Pop mit erstaunlich mehrheitsfähigem Sound. TB/RN/MB

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