Gottes Werk, Roms Beitrag

Was mich am meisten überrascht hat, war der ungewöhnlich lange Zeitraum, in dem das Thema „Missbrauch“ in den vergangenen Wochen die Medien beherrscht hat. Aber es ist mindestens genauso erstaunlich, dass der Stein – quasi als Selbstanzeige – ausgerechnet von den Jesuiten des Berliner Canisius-Kollegs ins Rollen gebracht wurde. Gut, dass da endlich einige Menschen genug Mut hatten und zumindest in dieser Institution von der bewährten Praxis des Totschweigens und der Schweigeprämien Abstand nahmen. Mich selbst allerdings hat, nachdem hier und da ein Blick unter den Teppich gestattet wurde, keine der Nachrichten mehr groß überrascht. Schon gar nicht, dass „so etwas“ auch in evangelischen und konfessionslosen Einrichtungen vorgekommen ist, in Sportvereinen, halt überall da, wo sich dem Bock eine Möglichkeit bietet, Gärtner zu werden.

In meinem Fall war es ein sadistischer, pädophiler Pallottiner-Pater, der in der ersten Hälfte der 60er-Jahre sein Schreckensregime in einem winzigen Konvikt im Voreifelstädtchen Rheinbach ausgeübt hat. Nur drei Patres, zwei Nonnen und ein paar Küchenfeen waren für rund 60 Jungs zuständig, und einer von ihnen war dieser Pater Lietz, vor dem wir alle eine Heidenangst hatten – wussten wir doch, dass wir ihm ausgeliefert waren, seinen Stockschlägen, dem Psychoterror, der Fummelei. 13 war ich damals, und hätte mein Vater nicht zufällig eines Samstagabends, während ich zu Hause badete, die Striemen auf meiner Körperrückseite gesehen – wer weiß, was ich noch alles hätte erleiden müssen. Jedenfalls hat er am darauf folgenden Tag dafür gesorgt, dass dieser Triebtäter aus dem Internat verschwand. Mir riet er, bloß niemandem etwas über die Angelegenheit zu erzählen, denn letzten Endes würde irgendetwas von der Schande dann auch an mir hängenbleiben.

Mein Schweigen habe ich erst viele Jahre später gebrochen, indem ich 1990 den Song „Domohls“ und das autobiografische Buch „Auskunft“ schrieb, was in der Öffentlichkeit aber ebenso wenig Reaktionen hervorrief wie drei Jahre zuvor die Andeutungen in „Nie met Aljebra“ auf meinem ersten Solo-Album. Die Zeit war wohl noch nicht reif. Noch funktionierte das, was Heinrich Böll einmal im Zusammenhang mit der Debatte um die Wehrmachtsvergangenheit des Bischofs Mat- thias Defregger definiert hatte: Die katholische Kirche regierte immer noch unangefochten feudalistisch wie eine Mafia. Keine Krähe wagte es, der anderen ein Auge aus- zuhacken.

Ausgetreten bin ich aus der katholischen Kirche erst, nachdem mein Vater gestorben war. Ich hatte es vorher nicht übers Herz gebracht, obwohl er mit Sicherheit schwerer und länger unter den Selbstüberschätzungen des göttlichen Bodenpersonals gelitten hat als ich. Allein die Anmaßung, ein katholischer Priester könne im Namen Gottes dem Beichtenden seine Sünden vergeben, der Ablass, bereits Luthers wichtigstes Thema, war für mich, nach neuen realkatholischen Erfahrungen, Grund genug auszutreten. Ich wollte meinen zukünftigen Kindern diese ebenso repressive wie selbstgerechte Kirche ersparen.

Oft wurde ich in den vergangenen Wochen gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, dass sich in dieser Kirche nach allem, was ans Licht gekommen ist, etwas grundlegend ändert. So leid es mir tut und so sehr ich den selbstlosen Einsatz vieler Nonnen und Patres vor allem in den Krisengebieten Afrikas schätzen gelernt habe (Originalzitat einer uralten italienischen Nonne in einem Leprahospital am Victoriasee: „You know, the pope is in Rome and we are in Africa!“) – dem Vatikan geht es immer noch vor allem um Macht. Man sehe sich nur einmal an, wie er mit seinen Kritikern von Eugen Drewermann bis Hans Küng und vor allem mit den südamerikanischen Befreiungstheologen umgeht. Wie versteinert er auf dem – nur aus finanziellen Gründen und erst im Mittelalter eingeführten – Zölibat beharrt und trotz besseren Wissens seine menschenverach- tende Aids-Politik in den katholischen Ländern der Dritten Welt aufrechterhält. Dann bekommt man eine Ahnung davon, was man vom „Stellvertreter Gottes auf Erden“ und seinem Apparat erwarten darf.

Jedenfalls mache ich mir keine Illusionen. Der Vatikan hat es jahrhundertelang perfektioniert, die Probleme, die er nicht wegbefehlen kann, auszusitzen. Warum sollte er das ausgerechnet diesmal nicht tun? Der Druck der Medien wird über kurz oder lang nachlassen, dazu braucht man nicht unbedingt ein Prophet zu sein.

Machen wir unsere Kinder stark. Erziehen wir sie zu freien, selbstbewussten, unverkrampften Menschen. Das ist das Beste und vermutlich auch das einzig Erfolgversprechende, was wir tun können, um sie vor dem zu bewahren, was ich durchmachen musste. Und über das ich nie mit meinem eigenen Vater zu reden wagte.

Wolfgang Niedecken, 59, ist Sänger und Songwriter der Kölner Rock- band BAP. Im Zuge der Debat- te um Missbrauch in deut- schen Internaten kam heraus, dass auch er als katholischer Schüler zum Opfer wurde.

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