Grizzly Bear – Brooklyns hippe Bärchen

Sie sind die Zauberkünstler des Indie-Rock. Sie versöhnen die Beach Boys mit Radiohead. Sie heißen Grizzly Bear und erfinden sich (und die Popmusik) gerade mal wieder neu

The Toddies nennen sie sich jetzt einfach mal (die englische Variante eines Grog-Getränks). Und ihr neues Album „False Salmon“ (falscher Lachs). Man könnte meinen, Gitarrist Daniel Rossen und Bassist Chris Taylor seien wahrlich etwas groggy, wie sie so rumsitzen und den ersten Songtitel dieses wohl hochprozentigen Bandprojekts erklären – „The Ballad Of Jim Chico“.

Taylor, glucksend: „Wir waren also in Texas, nahe an der Grenze zu Mexiko. Dort gab es ein spritziges Mineralwasser namens ‚Topo Chico‘. Aus einer solchen Flasche trinkt man einen großen Schluck und füllt sie danach mit Jim Beam auf. Dann steckt man eine Limettenscheibe an den Flaschenhals. Das mit der Flasche ist wichtig, es soll ja kein Cocktail sein, sondern ein billiger Redneck-Drink. Und wir haben ihn erfunden.“ Rossen, seinem Habitus nach sonst eher grimmiges Wunderkind mit ständigen Selbstzweifeln, springt ihm mit der Gestik eines Märchenonkels bei: „Jetzt stell dir dazu einen Cowboy vor, der lässig durch die staubige Prärie reitet. In der Rechten die Zügel, in der Linken einen eiskalten ‚Jim Chico‘.“

Viel fehlt nicht, und die beiden Saufbrüder rezitieren Bob Dylans rauschhafte Ballade vom dünnen Mann: „But something is happening here/ And you don’t know what it is/ Do you, Jim Chico.“ Stattdessen seufzt Rossen plötzlich auf, kneift die Augen zusammen und wechselt demonstrativ in eine höhere Tonlage: „Tja, tatsächlich heißt der Song ‚Sleeping Ute‘ und ist nach einem Gebirge in Colorado benannt. Langweilig, oder?“

Rossen und Taylor gucken nun ernüchtert drein wie zwei ehemalige Hogwarts-Schüler, die sich nicht erklären können, warum ihre alten Zaubersprüche nicht mehr funktioniert haben. Immerhin war da eine gemachte Band aus New York in die texanische Wüste gefahren, um nach drei Wochen bei 40 Grad und Buschbränden mit einem Album zurückzukehren. Oder zumindest mit ein paar heißen Songs. But all they got was a lousy drink – so scheint es zumindest auf den ersten Blick. In Wahrheit haben Grizzly Bear nach zwei wahrlich bärenstarken Alben für „Shields“ einen etwas längeren Anlauf gebraucht – und dabei so einiges über die Funktionsweise ihrer Band herausgefunden.

The Toddies sind natürlich nur eine Schnapsidee. Die Promo-Kopie von „Shields“ wurde nicht nur mit obligatorischem digitalen Wasserzeichen, sondern auch mit eben jener vogelwilden Betitelung gegen einen Leak im Internet gesichert. Denn, mal ehrlich, wer zieht sich einfach so ein Album aus dem Netz, das „False Salmon“ heißt? Mit Songs wie „The Ballad Of Jim Chico“, „Mango Lassi“ oder „Quantos Tacos“?

Grizzly Bear haben seit dem meisterhaften „Veckatimest“ tatsächlich so etwas wie einen heiligen Gral zu hüten, gelten sie mit ihrer postmodernistischen Synthese aus Radiohead, Genesis und den Beach Boys, aus Rufus Wrainwright und Phil Spector, aus den Sozialfiguren des Williamsburger Hipsters und des Regensburger Domspatzen doch als die neuen Super-Eklektiker des Indie-Rock. Die Band selbst geht mit einem solchen pop-historischen Referenzrahmen natürlich nicht d’accord. Rossen bezeichnet ihn dann aber doch scherzhaft als „Van-Dyke-gram“ mit Großmeister Van Dyke Parks als kreativer Schnittmenge der Band.

Zugleich bilden Ed Droste, Christopher Bear, Daniel Rossen und Chris Taylor – mittlerweile alle knapp jenseits der 30 – auch eine hemdsärmelige Quadriga, die sich trotz ihrer individualistischen Songwriting-Talente explizit als binnendemokratische Schwarmintelligenz versteht. Den Frontmann, diesen mythologisch überhöhten, vordersten Bühnenkrieger des Rock’n’Roll, hat sich der Bandgründer Ed Droste schon vor Jahren ausgestopft über das Bett gehängt (Interviews gibt die Band deshalb konsequenterweise in zwei Zweiergruppen, die sich untereinander jeweils einen Tick näher stehen: Droste und Bear, Rossen und Taylor). Stattdessen postieren sich Grizzly Bear auf der Bühne nahezu auf einer Linie. Wie ein vierköpfiges Vokalensemble oder eine – freilich dadurch nicht hierarchielose – Boygroup. Nur ihr knabenhafter Harmonie-Gesang, der hat etwas von einem Surround-System.

Auf „Shields“ zelebrieren Grizzly Bear nun auch den Tod des Autors, haben sie doch – gänzlich uneitel – jegliche Form urheberrechtlicher Zuschreibung aus dem Werk verbannt. Hinter Bärenmasken verschwinden Grizzly Bear deshalb noch lange nicht. Die Verwechslungsgefahr wäre bei der anhaltenden Maskenparade im Pop wohl auch ziemlich groß. Wie Open-Source-Entwickler haben sie die Songs von „Shields“ als eine Art Quellcode angelegt, zu dem alle vier Bandmitglieder Arrangements, Instrumentalspuren oder Lyrics beisteuern konnten. Das wirkt wie ein Bekenntnis zum Zeitgeist, wurde auf der TED-Konferenz (kurz für „Technology, Entertainment, Design“) doch zuletzt hinausposaunt, Ideen seien der neue Rock’n’Roll. „Unsere Songs wollen kein individuelles Statement sein, sondern eher eine Gruppenmeditation. Deshalb ergeben Song-Credits auch keinen Sinn, so funktioniert diese Band nicht“, sagt Rossen. Grundlage für einen solch offenen Kooperationsstil ist dabei weniger ein ausgeklügeltes System aus Checks and Balances als vielmehr: Freundschaft. Und genau dafür war er dann doch gut, der Trip nach Marfa, Texas.

Als Ed Droste, der in New York Kreatives Schreiben und Journalismus studiert, 2004 zunächst unter Mithilfe von Chris Bear das erste Grizzly-Bear-Album, „Horn Of Plenty“, aufnimmt, dröhnt rund um den Globus gerade noch die zweite Welle des Post-Punk-Revivals blechern aus den iPods. Die allgemeinen Ermüdungserscheinungen von dem Authentizität und Style heischenden Garage-Hype mit seinen fixierten Rollenmustern und seinem historischen Imperativ sind jedoch längst unübersehbar – zumal der Aufstieg einiger „The“-Bands in den fürstlich alimentierenden Mainstream insbesondere in New York bloß noch einen hemmungslos abkupfernden Underground zurücklässt.

Eine Gegenbewegung formiert sich in jener Zeit entlang der traditionalistischen Formensprache des Folk, allerdings als exzentrische, hippieske Parodie eben jener weißen, linken Rootsmusik. Zumindest in den USA feiern Kritiker die Alben von Joanna Newsom, Sufjan Stevens, Devendra Banhart und Animal Collective wegen der eigenwilligen Gesangsästhetik und versponnenen Arrangements sofort als künstlerischen Befreiungsschlag. David Keenan hat im britischen Magazin „The Wire“ da bereits den Begriff „New Weird America“ geprägt, dem später auch der Queer-Folk von Antony & The Johnsons und CocoRosie zugeschlagen wird. Das vor sich hin schrubbende, knarzende und bimmelnde „Horn Of Plenty“ kann mit dieser Strömung assoziiert werden, deutet aber in seinem Hang zu mehrspurigen Harmonien auch an, dass es auf lange Sicht mehr sein will als verrauschter Pro-Tools-Folk aus Drostes Schlafzimmer. Keine wahnwitzige „Teenager-Symphonie an Gott“, aber doch komplexe, psychedelische Popmusik mit dem historischen Atem von „Smile“ – von Brian Wilson ebenfalls 2004 neu interpretiert – und „Sgt. Pepper’s“.

Vielleicht liegt es daran, dass Bear, Taylor und Rossen, die Grizzly Bear nach persönlicher Empfehlung nacheinander beitreten, allesamt Jazz-Studenten an der New York University gewesen sind. Jedenfalls basiert ihre Herangehensweise schon damals nicht auf einem klassisch retrozyklischen „Zurück in die Zukunft“. Grizzly Bear haben sich schlichtweg noch gar nicht weiter in die Gegenwart vorgearbeitet als bis zur Methodik von Kirchenmusik, Prokofijew und Sixties-Psychedelik, zu Paul Simons „Graceland“ und „Owner Of A Lonely Heart“ von den Artrockern Yes, die sie beide covern.

Bemerkenswert ist, dass sich die Musikalität des zweiten Albums, „Yellow House“, das 2006 vom einmal mehr hellseherisch veranlagten Elektronik-Label Warp veröffentlicht wird, bereits vervierfacht zu haben scheint. Aufgenommen im Wohnzimmer von Drostes Mutter in Massachusetts, ist es bereits eine Koproduktion zweier unterschiedlicher Songwriter-Identitäten: der eher intuitive Droste trifft auf den rationalen Statiker Rossen. Schlagzeuger Bear und Taylor – Multiinstrumentalist, Produzent – sind da eher die Maschinisten an ihrer Seite. In seiner Unentschiedenheit zwischen verlaufener elektroakustischer Collage und kammermusikalischer Komposition, zwischen dröhnendem Neo-Folk und dunklem Baroque-Pop wird „Yellow House“ zu einem Gesellenstück eines intellektuell berechneten Indie-Eklektizismus. Ein Gesellenstück, das sich quer zur Zeit stellt, weil es im Gegensatz zu Werken des Dream-Pop oder Chillwave vornehmlich auf ein nur leicht verfremdetes, analoges Klangspektrum setzt.

Einen weiteren Quantensprung machen Grizzly Bear im Sommer 2008 bei Letterman – und der geht so: „Oh-oh-oohooo“. Was die fantastische Single „Two Weeks“, ein melancholischer Beach-Boys-Walzer mit seinen fast schon Chipmunks-artigen Doo-Wop-Chören bereits andeutet, wird auf „Veckatimest“ – benannt nach einer winzigen Insel nahe der Cape Cod Bay – zur Gewissheit: Grizzly Bear haben ihren Sound räumlich erneut ausgedehnt und dabei extrem prononcierte Elemente aus Artrock und Taschensinfonie kombiniert. Das Album klingt in seiner poppigen Liturgie geradezu kathedralisch, inklusive diesem metallischen Luftzug über den Köpfen und dem Mädchenchor, der im Querschiff probt. Darin hebt es sich 2009 auch von Folk-Traditionalisten wie den Fleet Foxes oder den Briten Mumford & Sons ab, mit denen Grizzly Bear die Kritikercharts dominieren.

Auch Radiohead und Jay-Z gratulieren. Das hat natürlich Folgen: Die Band tourt mit dem Album zwei Jahre um die Welt und spielt dabei auch mit Symphonieorchestern. Mit dem Song „Slow Life“ prominent in der Teen-Saga „Twilight: New Moon“ vertreten – übrigens klares Anzeichen für die Indie-fizierung des Pop-Mainstreams -, steuern sie 2011 zudem den Soundtrack zu „Blue Valentine“ mit Michelle Williams und Ryan Gosling bei. Als illusionsloses Drama über das Verschwinden der Liebe eine ebenso anrührende Montage wie der Folk von Grizzly Bear.

Derweil fragt man sich im liberalen Brooklyn, was es ist, dass die neue heimische Indie-Szene so besonders macht: der akademische Bildungshintergrund (Vampire Weekend), die Hautfarbe (TV On The Radio) oder doch die sexuelle Orientierung, weil es ja nicht nur den Geschlechtswandler Antony Hegarty gibt, sondern in Ed Droste ja auch ein schwuler Tenor in einer heterosexuellen Indie-Band steckt? Am Ende wird das Hipster-Konzept entstaubt – und alle haben irgendwie recht.

„Wir mussten erst einmal auseinander gehen, um wieder zueinander zu finden“, sagt Rossen über die Zeit nach „Veckatimest“ und schiebt nach: „Man will nicht klagen, aber all die Jahre ohne echten Lebensrhythmus, im Studio und auf Tour, führen zu einer extremen psychischen Belastung.“ Auch Taylor bläst die Backen auf: „Wir mussten uns quasi resozialisieren.“ Grizzly Bear gönnten sich also ein Sabbatical, das jedes Bandmitglied unterschiedlich nutzte. Droste heiratete und reiste durch Asien, während die anderen drei an eigenem Songmaterial arbeiteten. Taylor lebt als Cant auf dem Soloalbum „Dreams Come True“ seine elektronische Seite und die Liebe zu Arthur Russell aus. Rossen quält sich zurückgezogen in Upstate New York beim Schreiben neuer Stücke. Am Ende erscheint 2012 seine herrliche EP „Silent Hour / Golden Mile“, die hemmungslos dem Looney-Tunes-Faktor von Van Dyke Parks frönt. Sie wird später zum Fundament von „Shields“.

Aber als sich die Band im Juni 2011 im Fort Russell, einem ehemaligen Armeestützpunkt in Marfa, Texas einmietet, stockt zunächst der Band-Motor. „Als Ed und ich mit unseren Ideen ankamen, haben wir keinen Flow erreicht. Diesen Fehlstart brauchten wir“, so Rossen. Die Arbeitsteilung wird in der Folge aufgehoben, der Schauplatz gewechselt. Schließlich haben sich Grizzly Bear stets stark über die Magie der Orte definiert, an denen sie ihre Songs aufgenommen hatten. Das „Yellow House“ in malerischen Küstenregion Cape Cod. „The Church“, ihre Studio-Kirche in Brooklyn. Dort konstruieren Grizzly Bear „Shields“ letztlich. Konstruieren, Rossen sagt das wirklich so.

Glaubt man ihm und Taylor, ist nämlich viel entscheidender, dass sich die vier dort nach den Möglichkeiten der Kombinatorik bi- und multilateral zusammensetzen und in einem „Stream Of Consciousness“ eigene Songideen entwickeln, fremde aufgreifen und verwerfen. Ein Belastungstest für die Freundschaft? Rossen: „Es ist fantastisch, drei Menschen um sich zu haben, die die musikalische Persönlichkeit eines jeden so gut kennen, dass sie eine vermeintlich grandiose Idee ablehnen und sagen: ‚Das kannst du noch besser!‘ Das klingt nach Streit, manchmal gab es den auch. Eigentlich ist es aber ein Geschenk.“ Vielleicht soll das auch das Albumcover ausdrücken, das vom amerikanischen Maler Richard Diebenkorn stammt: Darauf wird ein dreiblättriges Kleeblatt von einem herzförmigen Blatt umschlossen. Vier gewinnt.

Taylor nennt ein Beispiel für eine gelungene Kollaboration: Beim Schlusstakt „Sun In Your Eyes“ war eine Klaviermelodie von Droste bereits zerknüllt im Mülleimer gelandet, ehe sie von Rossen nach wochenlanger Modulation zum Leitmotiv eines Prog-Pop-Songs wurde, der sich in seinen pompösen Arrangements – geschrieben von Rossen und Taylor – vor Gustav Holsts berühmter Astro-Orchestersuite „The Planets“ verneigt. Fragt man zur Sicherheit noch nach dem ungefähren Beitrag des unscheinbaren Christopher Bear, sagt Taylor anerkennend: „Er hat gerade bei den catchy Popsongs die entscheidenden Akkorde geliefert.“

So ist erneut ein schimmerndes Album entstanden, das im Vergleich zu seinem pastoralen Vorgänger nach mehr Dringlichkeit und Klarheit sucht. Nur eine offensichtliche Schwäche, die vermögen weder Kollaboration noch Eklektizismus aufzulösen – vielmehr sind sie in Bezug auf Lyrics, die in ihrer Identitätssuche immer noch schmalbrüstig wirken, sogar Teil des Problems: Schließlich entsteht in einem Quellcode im seltensten Fall Dichtung.

Wenn der Tod des Autors in diesem Fall also schon nicht die Geburt des Lesers bedeutet, die Geburt des Hörers feiert man mit Grizzly Bear auf jeden Fall.

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