GROSSMAULS ERSTER STREICH

Die Welt, der „Hand In Glove“ im Mai 1983 geschenkt wurde, zeigte sich unbeeindruckt. Als in der Woche nach Release der ersten Smiths-Single das Branchenblatt „Music Week“ mit den aktuellen Charts herauskam, gab es im Rough Trade Shop in Ladbroke Grove lange Gesichter.

Ein paar Hundert dieser Platte hatte man doch allein hier verkauft, im neuen Laden in der Talbot Road. Die Reviews in der Musikpresse waren mehrheitlich ekstatisch, der gute John Peel hatte das Seine beigetragen, und dennoch: Fehlanzeige. Im Stimmengewirr der Cognoscenti schwang Verschwörungstheoretisches mit, denn war „God Save The Queen“ nicht auch der Spitzenplatz vorenthalten worden, zugunsten einer Lappalie von Rod Stewart, um die royalen Festivitäten nicht zu stören? Hier im Hauptquartier der Pop-Pessimisten ging man von Manipulation aus. Und ohnehin vertraute man als Elite eher den Independent Charts, wo zwar nur der Absatz kleiner unabhängiger Labels und Vertriebe abgebildet wurde, aber mit „Hand In Glove“ obenauf.

Auch bei Rough Trade Records, der betroffenen Plattenfirma, herrschte Ratlosigkeit. Eigner Geoff Travis hatte sich gerade erst vom Laden getrennt, um sich ganz dem Label widmen zu können. Er hatte Pläne, aber keinen Plan. „Rough Trade sollte wirtschaftlich autonom sein und von dieser Position der Stärke aus dem System trotzen“, erklärte er später, räumte aber ein, „die normative Kraft des schlechten Massengeschmacks“ unterschätzt zu haben. Die musikalische Anspruchslosigkeit der Leute war es mithin, die dem Erfolg im Wege stand. Eine Denkweise, der sich Morrissey generell nicht verschließen mag, doch bedenkt er Travis in seiner Autobiografie 30 Jahre später nur mit Hohn und Spott. „Der damalige Rough-Trade-Katalog war bekanntermaßen anti-alles, aber er war auch anti-hörbar“, schreibt er, „und erst die Smiths brachten Rough Trade die Art von Erfolg und Glamour, auf die das Label nie zu hoffen gewagt hatte.“

Letztere Behauptung ist nicht widerlegbar, doch so weit sind wir noch lange nicht. Entschieden widersprochen werden muss dem Sänger, was die Qualität der Musik betrifft, für die Rough Trade seinerzeit stand. Mag sein, dass dem bekennenden Fan von Cilla Black und Sandie Shaw einiges eher abseitig vorgekommen sein muss, was unter dem Rough-Trade-Banner in die Läden kam, doch hatte das rührige Label seit seiner Gründung 1978 eine ganze Palette so großartiger wie, zugegeben, nicht gerade verkaufsträchtiger Platten verantwortet. Stellvertretend sei hier nur die Rede von den Raincoats und Young Marble Giants, von Robert Wyatt und The Fall. Auch schienen ein paar der Künstler, die Rough Trade 1983 unter Vertrag hatte, nicht auf verlorenem Posten zu stehen. Aztec Camera etwa wurde eine strahlende Zukunft vorausgesagt, und ihre Single „Oblivious“ hatte immerhin geschafft, was „Hand In Glove“ versagt blieb: eine Top-50-Platzierung.

Die wäre wichtig gewesen, um mediale Aufmerksamkeit zu wecken, um Airplay im Radio zu generieren, um für einen Auftritt in „Top Of The Pops“ infrage zu kommen. Nein, „Hand In Glove“ war kein Erfolg per Akklamation, wurde eher als Fremdkörper in einer Musiklandschaft wahrgenommen, in der das Banale und Bunte herrschte.

Den Mai über hatten Spandau Ballet mit „True“ die Charts angeführt, eine aalglatte Lüge, gesungen von einem Stenz, der die Smiths für, richtig, „unlistenable“ hielt. Aus dem Radio drangen vornehmlich Belästigungen, deren Verursacher Kajagoogoo hießen oder Haysi Fantayzee, es gab kein Entrinnen. Natürlich war nicht alles albern, nicht alles hohl, nicht alles trostlos, das allermeiste schon.

„Like Punk Never Happened“ nannte Dave Rimmer sein Buch über diese Ära treffend. Der Popjournalist hatte für „Smash Hits“ geschrieben, kannte das Geschäft also zur Genüge, brauchte für seinen Rückblick auf das Popgeschehen der frühen Achtziger aber einen Begriff, der all die grellen Nichtigkeiten auf einen Nenner brachte. „New Pop“ schien zu passen, schillernd genug für eine kulturelle Seifenblase, die längst geplatzt war, als Rimmer seine gesammelten Erkenntnisse 1985 zu Papier brachte. Was von diesem New Pop blieb, war die schnell verblassende Erinnerung an Belanglosigkeiten ohne identitätsstiftenden Charakter. Seit dem Rockabilly-Revival die Luft ausgegangen war, das Mod-Revival mangels Masse die Segel gestrichen hatte, und das Ska-Revival in internen Grabenkämpfen aufgerieben worden war, sah man auf Britanniens Straßen zwar noch vereinzelt Punks, Teds, Mods und Rude Boys, doch waren die Tage des subkulturell spannungsreichen, stilwütigen Tribalismus gezählt.

Nur zwei marginale Tribes waren dem New Pop angegliedert, bestanden auf Abgrenzung und machten so vorübergehend von sich reden. Die Sloane Rangers gaben sich aristokratisch und trugen ostentativ teuren Zwirn. Ein schnöseliges Völkchen im Junker-Look, das auf der King’s Road flanierte und aus den Cafés um den Sloane Square auf den Pöbel herabschaute. Kurzlebiger noch waren die New Romantics, die nicht mit Kosmetika geizten und sich auftakelten wie Komparsen in historischen Kostümschinken. Beide Gruppen, die Rangers und die Romantics, ließen sich ihren Lebensstil einiges kosten und garnierten ihn gern mit der Musik von Human League, Spandau Ballet und Duran Duran. Ansonsten galt: Musik diente nicht mehr als Plattform für Überzeugungen, stiftete keinen Zusammenhalt, wollte bloß noch unterhalten.

Dabei war die politische Realität im UK eine prekäre, von wirtschaftlicher Krisenhaftigkeit geplagte. Maggie Thatchers Radikalkur baute auf Konfrontation mit den Gewerkschaften, griff tief ins soziale Gefüge ein, trieb ohne Rücksicht auf Verluste auch Teile der Bevölkerung in die Armut und auf die Barrikaden, die sich in der britischen Klassengesellschaft vordem als der Mittelklasse zugehörig gefühlt hatten. Der sogenannte „inequality score“, anhand dessen statistisch der Abstand zwischen Arm und Reich gemessen wird, indizierte eine rasant zunehmende Ungleichheit. Die Arbeitslosigkeit stieg auf fast zwölf Prozent, Streiks lähmten ganze Industriezweige, vor allem der Bergarbeiterstreik ging an die Substanz der Nation. Die gesellschaftliche Stimmungslage war von Angst und Hass geprägt, Demonstrationen und Kundgebungen entbehrten nicht selten der feinen englischen Art, doch der größte Hit der Saison hieß „Karma Chameleon“.

Eskapismus war auch den Smiths nicht völlig fremd, sie hielten sich selten mit Tagespolitik auf, doch war ihre Gegenwelt gedankenvoll und geistreich, voller Utopien. Pop mochte moribund darniederliegen, doch Smiths-Songs versprachen Heilung, zeigten Haltung. „The sun shines out of our behinds“, deklarierte Morrissey in „Hand In Glove“, und so war es. Alles, was diese Band absonderte, schien zu leuchten, versprach Zukunft, „for the good life is out there somewhere“.

The Smiths, das ahnten wir im Frühjahr, gehörten zu dieser Zukunft. Im Herbst wussten wir es, als „This Charming Man“ begeisterte, im Winter wurden letzte Zweifel beseitigt mit „What Difference Does It Make?“. Einen Unterschied ums Ganze, möchte man antworten. Drei fantastische Singles in stilvollen Sleeves, eine Band mit hochfahrend ästhetischem Anspruch. Aus Manchester, einst Wiege der industriellen Revolution, nun „der einzige Ort auf der Welt, der uns hervorbringen konnte“, so Gitarrist Johnny Marr 1983,“weil man hier nach Höherem strebt, ohne je Bodenkontakt zu verlieren“. Der beste Pop sei immer aus dem Norden gekommen, assistierte Morrissey, „because it’s main ingredient is Englishness“.

Die Interview-Taufe beim „NME“ war fast feierlich. „Hand In Glove“ lag erst in Testpressungen vor, als das Blatt anklopfte, das über die Jahre Morrisseys treuer Begleiter gewesen war, ein auch in Zeiten juveniler Isolation verlässlicher Ratgeber. Morrisseys Faszination für das Panoptikum des Pop war universal, seine Hingabe streng selektiv. Er verklärte Bands so leidenschaftlich, wie er andere verachtete. Fehlt die Fähigkeit zu hassen, fehlt sie auch zu lieben: eine schlichte Wahrheit, die freilich nicht verstehen kann, wer Pop als optionales Unterhaltungsangebot begreift. In den Siebzigern waren in der Redaktion des „NME“ etliche Leserbriefe aus Stretford, Manchester eingegangen, unterzeichnet von einem Steve oder Steven Morrissey. Sie enthielten Unzweideutiges in gedrechselter Diktion, pro Sparks, Buzzcocks oder New York Dolls, contra Ramones. „Diese Zeilen schreibe ich nieder, nachdem ich die berüchtigten Sex Pistols in der Lesser Free Trade Hall in Manchester erlebt habe“, hob ein im Februar ’77 verfasster Brief an, mit folgenden Worten endend: „Ich fände es großartig, wenn die Pistols Erfolg hätten. Vielleicht können sie sich dann ja Kleidung leisten, die nicht so aussieht, als hätten sie darin geschlafen.“

Sechs Jahre später suchte Steven die Neugier des „NME“ zu stillen, seine eigene Band betreffend. The Smiths: Was für ein Name ist das denn? „Ein Name von unbestimmter Art, sehr zeitlos“, hatte Morrissey artig geantwortet.

Euer Musikstil ist eher schlicht, oder? „Ja, und zwar ganz bewusst. Wir wollen beweisen, dass man zum Musikmachen keine technischen Gimmicks braucht.“

Eure Musik ist eher einfach gehalten, oder? „Ganz bewusst. Wir werden den Beweis antreten, dass es zum Musikmachen keinen technologischen Firlefanz braucht.“

Euer Sound ist Sixties-orientiert, werdet ihr von Nostalgie getrieben? „Der Geist der Sechziger steckt noch in uns. Nostalgie heißt für mich Sehnsucht nach der Jahrhundertwende. Ich empfinde für nichts Nostalgie.“

Wie ist das mit eurem Artwork? „Kontrolle darüber zu haben, ist von größter Wichtigkeit.“

So weit die Synopse des Morrissey-Parts, Johnny Marr gab zweierlei kund:“Limitierte Musiker verstecken sich hinter ihren Synthesizern. Wir hingegen beherrschen unsere Instrumente alle richtig gut.“ Und auf die Frage nach dem Ursprung der Smiths: „Die alte Rockmärchen-Routine. Ich wusste, wer Morrissey war, ging zu ihm hin und sagte:,Hi, I’m Johnny. Want to form a band?'“

Marrs verkürzte Darstellung des denkwürdigen Treffens verdient ein wenig Ausschmückung, was Hergang und Umstände betrifft. Johnny, you see, war erpicht darauf, eine Band zu gründen. Ein paar Versuche waren bereits gescheitert, als er über einen gemeinsamen Bekannten, Billy Duffy, an einige Songtexte geriet, die Morrissey geschrieben hatte, in weiser Voraussicht. Es war merkwürdig verschrobene Lyrik, selbstreflexiv, exzentrisch, literarisch, jedenfalls alles andere als profan. Johnny war angetan, besorgte sich des Dichters Adresse, bestieg einen Bus und klopfte an Morrisseys Tür. In Morrisseys Schlafzimmer, unter Konterfeis von Elvis und James Dean, kam es bald zum Lackmustest. Ob Johnny eine Platte auflegen wolle, fragte der Gastgeber argwöhnisch. Würde der Junge mit der Gitarre in seiner Sammlung nicht gleich fündig, könnte man die Band-Idee begraben. Doch Johnny bestand die Prüfung mit Bravour, indem er aus einer Schachtel mit Singles „Paperboy“ von den Marvelettes zog und die Flipside spielte:“You’re The One“. Morrissey war beeindruckt, wenngleich nur halb so tief wie Marr vom Musikverstand, der aus dieser Plattensammlung sprach.

Es war der Anfang einer Freundschaft, nein, einer Verschwörung, die sich in den Tagen und Wochen darauf in einer Songwriter-Partnerschaft manifestierte. The Smiths in ihrer frühesten, immerhin diverse Monate währenden Inkarnation, waren ein Duo. Die ersten beiden Songs, die in der Morrissey/Marr-Manufaktur geschmiedet wurden, waren „The Hand That Rocks The Cradle“ und „Suffer Little Children“. Knapp zwei Jahre später sollten sie die beiden Seiten von „The Smiths“ beschließen, doch war es bis zur ersten LP noch ein weiter Weg. Für das mit „großer Intensität betriebene Songschreiben“, so Marr, brauchten sie zunächst niemand sonst. „Ich komponierte zu Stevens Texten, gab ihm Kassetten mit meiner Musik, für die er dann Worte fand, wir waren ungeheuer produktiv.“ Was fehlte, war ein Klangkörper, der die Töne im Kopf des Gespanns realisieren konnte. „Solange nur wir beide unserer Vision hinterherjagten, war das keine runde Sache“, erzählte Marr später, „wir mussten die richtigen Musiker dafür finden.“

Die Rhythmusabteilung wurde nach einigen Auditions besetzt, namentlich mit dem Bassisten Andy Rourke und dem Drummer Mike Joyce. Man probte, perfektionierte und philosophierte. Ein Bandname musste gefunden werden, die Auswahl wurde auf drei Moniker eingegrenzt, Smithdom und Smith Family nach kurzem Palaver verworfen. The Smiths, das war’s. Die Antithese zu all den prätentiösen Namen, die sich Musikgruppen zu geben pflegten, von denen das unangepasste Quartett aus Manchester sich abzuheben gedachte, die Antithese zu Orchestral Manoevres In The Dark. „Ein großartiger Name“, urteilte John Peel, „scheinbar banal, außer für Leute, die Smith heißen. Er impliziert rein gar nichts, keinerlei Absichtserklärung.“

Das unverwechselbare Design der Single-Sleeves und LP-Covers war hingegen sehr wohl eine Absichtserklärung. Morrissey traf die Auswahl der meist alten Filmen entnommenen Motive, gab ihnen monochromatisches Flair. Kohärent gestaltet, wirkten die Plattenhüllen wie die serielle Ikonografie einer mondänen, unerreichbaren Welt, vermittelten als Verpackung eine visuelle Identität, zu den vieldeutigen Songs passend.

Songs wie „This Charming Man“, im November ’83 als zweite Single veröffentlicht, in den Charts bis auf Platz 25 gepusht von einer inzwischen erklecklichen, exponentiell wachsenden Fanbase. Nicht nur das, The Smiths legten einen Auftritt in „Top Of The Pops“ hin, der landesweit für Gesprächsstoff sorgte. Worüber sang dieser Morrissey, warum zum Teufel schwenkte er einen Strauß Gladiolen?“The Smiths are unstoppable now“, erkannte der „NME“. Die dritte 45, das mitreißende „What Difference Does It Make?“, bestätigte im Januar mit Platz 12 den Aufwärtstrend. Beschämend nur, dass Coverboy Terence Stamp nicht mitspielte und gerichtliche Schritte androhte, sollte sein Bildnis auf dem Sleeve nicht umgehend entfernt werden. In aller Eile wurde Stamps Konterfei durch Morrisseys ersetzt, keine große Sache eigentlich, doch schmerzt den Sänger noch heute die Erinnerung an den Affront.

Die Arbeit am Debütalbum glich einer Achterbahnfahrt. Es war lange gefeilt worden, zuerst mit Troy Tate an den Controls, doch wurden dessen Aufnahmen von Geoff Travis als „out of tune“ abgelehnt. John Porter wurde als Produzent verpflichtet, erneute Sessions mussten anberaumt werden. „Not good enough“, war Morrisseys vernichtendes Verdikt, als ihm Porter den fertigen Mix im Dezember zu Gehör brachte. Travis widersprach, nicht zuletzt, weil ihn das Album bereits 6.000 Pfund gekostet hatte. Marr fügte sich ins Unvermeidliche. Als am 20. Februar ’84 „The Smiths“ nach kleineren Nachbesserungen auf den Markt geworfen wurde, schien keiner der verantwortlichen Akteure sonderlich glücklich damit. Was nichts daran änderte, dass die LP von Kritikern wie Käufern äußerst positiv aufgenommen wurde, obwohl das Thema Kindesmisshandlung, das sich wie ein roter Faden durch die Songs zieht, ein ausgesprochen heikles ist. Vieldiskutiert und heftig umstritten, stieg „The Smiths“ auf Platz 2 der LP-Charts und hielt sich bis August in der Top 50. Eine goldene Schallplatte gab es dafür.

Im UK natürlich nur, anderswo wurde kaum Notiz genommen von den musikalischen, ethischen und linguistischen Herausforderungen, die „The Smiths“ bereithielt. In den USA kletterte das Album auf Platz 150. Die beste und wichtigste Band ihrer Generation hatte sich aufgemacht, Licht ins Dunkel zu bringen, Leben zu retten, eloquent und euphorisierend, doch war die Restwelt nicht reif dafür und würde es nie werden. „Sorry“, resümierte ein amerikanischer Rezensent treuherzig, „I don’t get it.“

Auch in Deutschland zirkulierten Smiths-Scheiben nur in bescheidenen Mengen. Ach, die Schmidts! So hießen sie hier, allen Ernstes. Radio-DJs nahmen Zuflucht bei den Schmidts, verlegen kichernd, und selbst Mitarbeiter der deutschen Filiale von Rough Trade gingen lieber der Gefahr aus dem Weg, sich bei Aussprache des Bandnamens womöglich zu blamieren. Die Schmidts also, aber stets mit ironischem Unterton. Puh!

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