Härter als jeder Schwanz

Arne Willander über Big Brother, den Menschenversuch von RTL 2, den Terror der Normalität und das Abhandenkommen der realen Welt

Es gibt diese Momente im Büro, wenn mal wieder jemand am Telefon dröhnend „eine schöne Restwoche“ wünscht, in denen das Leben härter ist als jeder Schwanz. Deshalb ist diese Spruchweisheit das Lebensmotto von Manu, einer Hamburger Berufsblondine, die nicht nur sehr blöd dreinschaut, sondern auch Jura studiert Ihre Mutter, informiert „Bild“, ist Kantinenköchin und würde auch gern bei „Big Brother“ mitmachen, wenn 50jährige Kantinenköchinnen nur mitmachen dürften. Ihre Tochter spricht gern wie eine Dreijährige, wenn eine Freundin Geburtstag hat, und weint, wenn abschätzig über Schwarze gesprochen wird, denn ihr Freund ist ein Schwarzer, das hat sie auch im Container von „Big Brother“ nicht vergessen, und deshalb kann sie zurzeit nur die Härte des Lebens spüren.

Und es ist voll die Härte. Der Hütchen tragende Kneipier Alex, die breitmäulige Schauspielerin Kerstin, das arme Hascherl Jona, das tätowierte Augenbrauenwunder John, die irgendwie muffige Lesbe Andrea, der Kölsche Gemütsmensch Jürgen und der mazedonische Denker Zlatko bewährten sich im Container, der freilich anmutet wie ein Pfadfinderlager samt Absingen von Wolfgang-Petry-Liedem, ganz doll beleidigt sein, Karotten schnippeln, jemanden doof finden, im Garten sonnen, auf dem Dach des Hühnerstalls herumhängen, Hanteln stemmen, zu spät zur warmen Dusche kommen, mal bis Mittag pennen und auf dem Sofa schmusen.

Alex, ein 37-jähriger Darwinist, der oft und gern seine Vorschläge zur Bekämpfung von Arbeitslosen kundtut, hat das Klassenziel erreicht: Unter der Decke mit Kerstin geht es ähnlich zu wie sonst unter der Theke der eigenen Kneipe. Soll auch mit Stefan Raab im Internat gewesen sein, der Alex. Redet nicht viel, weiß jetzt immer nicht, aber reibt sich immerzu das verlebte Gesicht unterm Käppi – war wieder anstrenghend, das Herumliegen. Zlatko, der bespöttelte Automechaniker, spielt Schach wie Kasparow und denkt mit Jürgen über die Aussprache von „razor“ nach („race“). Dass er von Shakespeare nie gehört hat, ist insofern verständlich, als kein Buch je die Regale in seiner Wohnung berührt hat, wie Zlatkos Freundin daheim herzergreifend vorführt Aber auch gar nicht hinderlich! „Zladdi“, wie sie ihn zärtlich nennen, ist der Mann, wo am pragmatischsten ist Seine Biografie mag ja gebrochen sein – doch der Zlatko hat Menschenkenntnis, das glaubste nicht Und die bescheinigt er sich gleich selbst Zladdi scheiterte erst an der quasi-homoerotischen Bindung zu Sportsfreund Jürgen – gemeinsam wurden die Männerfreunde von den Mitbewohnern nominiert, und Zladdi wurde von den Zuschauern herausgeworfen. Im heißen „Big Brother“-Studio schwitzte er binnen Minuten die zehn Kilogramm aus, die er während der Isolation abnehmen wollte. Glückwunsch.

Die Verführung dieses Mannes gemahnte ausgerechnet den „BZ-Chefredakteur und Märchenerzähler Franz Josef Wagner, der selbst wie ein Freak aussieht, an „Abnorme im Mittelalter auf der Kirmes“, präsentiert nur zum Hohngelächter des Publikums. Dabei ist Zlatko – wie alle Bewohner der Hütte zu Hürth – die Inkarnation der Normalität Mehr oder minder unbeleckt von höherer Bildung, ohne Verfeinerung, Kultur, Witz und Ironie fristen diese Leute ihr Dasein. Dass nur ein Buch mitgebracht werden durfte, offenbar aber ein Dutzend Hüte und Kappen erlaubt waren, ist symptomatisch für den Menschenversuch im Planquadrat Gelesen werden da ohnehin nur Schmöker, die das Wissen der Welt versammeln – Sachbücher mit veralteten Angaben zu Hauptstädten und Bevölkerungszahlen, die allgemein in der dritten Schulklasse studiert werden. Als sogenannte Wochenaufgabe mussten die Insassen dröge Zahlwenwerke auswendig lernen. Was sie auch taten, denn es gab als Lohn mehr zu futtern.

Und doch ist das „Big Brother“-Haus ein Hort der Philosophie. „Wenn alle philosophischen Fragen gelöst sind, dann sind die Fragen des Lebens noch nicht einmal berührt“, schrieb Ludwig „Witti“ Wittgenstein. Also: Wieviele Nudeln packen wir in den Korb? Wie halten wir die Hühner im Gehege? Bedrohen im Garten abgeworfene Geschenke unsere Gesundheit? Hat noch jemand Zigaretten? Wer kocht heute? Wer kungelt mit wem? Und wer modelliert die allerschönste Gipsmaske? Sogar ein Feuer mussten die Ausgesetzten bewachen, um den Atavismus auf die Spitze zu treiben und an ähnliche Terror-Anordnungen, etwa in William Goldings „Herr der Fliegen“, zu erinnern. Auf sich selbst zurückgeworfen, besinnt sich der Mensch halt auf die immer gleichen Anekdoten aus Kindheit und Schulzeit – der erste Kuss, das erste Mal, böse Lehrer, Busen, Kinderreime, Dummsprüche, Schlager wie „Mendocino“, den eigentlichen Titelsong der fortgesetzten Tortur. Kollektive Erinnerungen, nirgendwo Intimität, auch nicht zwischen den kopulierenden Alex und Kerstin. „Leb so, wie du dich fühlst“, singt die „3. Generation“ stets verlogen dazwischen – das ist natürlich nicht das Motto in der Jugendherberge. Ein Hundeleben in der Hütte. Die Hölle sind die anderen.

Die Gefangenen von Hürth sind die Menschen aus Piatons Höhlengleichnis, die bloß Schatten an den Wänden sehen, während draußen die Meute grölt Sie vertreten uns alle dort. Denn wir sind alle nominiert.

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