Hat es sich bald ausgezwitschert?

SIND SIE AUF TWITTER? Wenn nicht, dann weiß ich genau, was Sie gerade denken:“Warum soll ich mir das auch noch antun?“ Reicht Facebook nicht? Oder Google+, Xing und all der sogenannte „Social Media“-Kram? Flickr, Tumblr, LinkedIn? Wie vernetzt muss man sein, wie viele Accounts kann ein werktätiger Mensch pflegen, ohne verrückt zu werden? Sollten Sie ein „digital native“ sein (also unter 33) oder ein „early adopter“ (also einer von denen, die immer überall von Anfang an dabei sind, wenn es um Technik geht), dann denken Sie jetzt wahrscheinlich eher:“Twitter? Das ist doch schon vorbei.“ Denn wenn etwas zum Mainstream wird, steigen die frühen Fans beleidigt aus – ein Phänomen, das man aus der Popmusik gut kennt.

Wie sehr Twitter bei den Massen angekommen ist, belegen die Zahlen -auch wenn Deutschland im internationalen Vergleich noch etwas hinterherhinkt. Twitter wurde 2006 gegründet, Anfang 2009 twitterten gerade mal 30.000 Leute. Heute sind rund 200 Millionen mindestens einmal im Monat dort aktiv. Registriert sind allerdings eine halbe Milliarde Menschen. Mehr als 500 Millionen Tweets werden täglich verschickt.

Als Teenager saß ich oft in meinem Zimmer, schaute meine Poster an und fragte mich, was Dee Snider wohl gerade macht. Heute weiß ich es. Auf Twitter teilt der Sänger fast täglich mit, ob er gerade ein Twisted-Sister-Konzert plant, mit der Familie essen geht oder sein Gepäck verloren hat. Die scheinbare Nähe zu Menschen, die tatsächlich weit weg sind, wirkt auf Twitter noch unmittelbarer als bei Facebook, weil es keinen Unterschied zwischen Profilen und Fanseiten gibt, man muss nicht erst als „Freund“ akzeptiert werden; jeder kann jedem Schauspieler, Musiker, Politiker, Sportler folgen, seine Tweets direkt kommentieren und ihm Nachrichten schicken. (Ein blauer Haken weist einen freundlicherweise darauf hin, ob jemand wirklich der Star ist, der er vorgibt zu sein -bei geschätzten 20 Millionen Fake-Accounts ein notwendiger Service.)

Der durchschnittliche Benutzer hat 208 Follower und verbringt im Monat 170 Minuten bei Twitter. Viele nutzen das Netzwerk vor allem als Informationskanal: Es gibt kaum noch eine Publikation, die nicht permanent Links zu ihrer Website twittert, ständig weist einen irgendwer auf spannende Artikel hin, und kein Medium ist schneller, wenn es um erste Hinweise geht, wenn irgendwo eine Katastrophe passiert. Zahlreiche Prominente geben auf Twitter inzwischen mehr von sich preis als in „Gala“ oder „Grazia“. Unter den Top-20-Twitterern mit den meisten Anhängern sind übrigens 55 Prozent Musiker -und wiederum 50 Prozent aller Twitter-Nutzer folgen mindestens einem Musiker.

Um das Netzwerk auch für Leute attraktiver zu machen, die sich nicht nur berieseln (oder von Info-Lawinen begraben) lassen wollen, sondern sich gern austauschen, wurde gerade eine neue Optik eingeführt: Gespräche werden jetzt chronologisch angezeigt – also nicht mehr der neueste Tweet zuerst, sondern die Antwort(en) unter dem Ursprungs-Tweet. Dass die Interaktivität jetzt noch mehr betont wird, hat natürlich auch damit zu tun, dass Twitter wie ein Belohnungssystem funktioniert. Stichwort: „Retweeten“.(Ja, all die englischen Begriffe nerven, aber „Weiterzwitschern“ ist keine schöne Alternative.)

Einer meiner ersten Tweets handelte von Ron Perlman, dem Schauspieler, der heute den harten Rocker bei „Sons Of Anarchy“ gibt, in den 80er-Jahren aber als Vincent in „Die Schöne und das Biest“ auch wunderbar Lyrik vortrug. Er retweetete meinen Link zu einem Robert-Frost-Gedicht nicht nur, sondern antwortete auf die Feststellung, er sei der fieseste Typ im TV mit „How ‚bout that Ahmadinejad guy?“ Nett, fand ich. Aber ich kann mir immer noch gut vorstellen, wie Teenager durchdrehen müssen, wenn ihnen so etwas mit Stars passiert, von denen sie Tag und Nacht träumen. Für die ist Twitter wiederum ideal, um mit geringem Aufwand -ein paar Buchstaben -den Kontakt zur Basis zu halten. Die Kings Of Leon nutzen zum Beispiel gern mal die langweiligen Minuten, bevor ihr Flugzeug abhebt, um schnell ein paar Fragen von Fans zu beantworten. Lady Gaga verkündet via Twitter, wann ihre nächste Single veröffentlicht wird. Ashton Kutcher hat bestimmt nicht 15 Millionen Follower, weil er so ein guter Schauspieler ist, sondern weil er gern Intimes ausplaudert. Und sogar sein privates Glück kann man finden: Blogger Sascha Lobo hat seine Ehefrau bei Twitter kennengelernt. Auf ihren Tweet „Heuli.“ antwortete er mit „Trösti.“, und schon war alles klar.

Das Unternehmen ist inzwischen geschätzte zehn Milliarden Euro wert – und wird sogar von Facebook kopiert. Die führten kürzlich „Hashtags“ ein, diese kleinen mit einem # gekennzeichneten Schlagworte, durch die man sofort das Thema findet, das man sucht, zum Beispiel am Sonntag den „Tatort“, den „Eurovision Song Contest“ oder die Wahlumfragen. Es gibt allerdings auch immer mehr Kritiker. Der stets kulturpessimistische Blogger Bob Lefsetz, einst Berater diverser Plattenfirmen und selbst kurzzeitig Chef von Sanctuary Records, hält von Twitter so wenig wie von Facebook. „It’s toast. Over. Done. History“, schrieb er vor Kurzem in einem seiner berüchtigten „Lefsetz letters“, die an Zehntausende Abonnenten gehen. Schuld sei die Kakophonie: zu viele Leute, zu wenig Substanzielles – fehlende Filter. Wer keine zehn Millionen Follower hat, geht im Getöse unter. Lefsetz hat selbst mehr als 50.000, bekommt auf seine Mails aber viel mehr Feedback. Und am Ende geht es doch wieder nur darum: Bestätigung. Wer sich nicht genug geliebt fühlt, verabschiedet sich.

Es gibt allerdings Schlimmeres als gekränkte Eitelkeit. Die Feministin Caroline Criado-Perez hat dafür gesorgt, dass ab 2017 auf britischen Pfundnoten mal wieder eine Frau zu sehen ist (Jane Austen) und wurde dafür auf Twitter so wüst beschimpft und bedroht, dass letztendlich nicht nur einer der Übeltäter festgenommen wurde, sondern einige gleich das komplette System infrage stellten.

Am 4. August boykottierten viele aus Solidarität unter dem Stichwort #twittersilence einen ganzen Tag lang ihr geliebtes Netzwerk -für Twittersüchtige wie die Journalistin und Bestsellerautorin Caitlin Moran („How To Be A Woman“) gar kein so kleines Opfer. Sie fordert von Twitter mehr Engagement gegen Pöbler und Mobber, nicht nur einen kleinen „Report“-Knopf, mit dem man Obszönitäten und Ähnliches melden kann. Und Criado-Perez wehrt sich per #ShoutingBack – das Äquivalent zum deutschen Online-Sexismus-Pranger #Aufschrei.

Es ist bei Twitter wie überall: Es gibt viel Mist, aber auch viel Bemerkenswertes. Es ist schon eine kleine Kunst, auf 140 Zeichen etwas Sinnvolles hinzukriegen. Wer gern mit Aphorismen, Wortspielen und Gedankenfragmenten jongliert, kann dabei ebenso viel Spaß haben wie all die Überzeugungstäter, die knappe Kommentare zur Weltlage mit guten Links versehen. Regisseur Michael Moore ist ebenso emsig auf Twitter unterwegs wie Protestsänger Billy Bragg. Lustigerweise scheinen die angeblich so steifen Briten ohnehin weniger Probleme zu haben, sich öffentlich zu disponieren. Der ja eigentlich gar nicht so berühmte Schauspieler Stephen Fry hat mehr als acht Millionen Follower – und bekam auf seine Bitte an den Premierminister, die Olympischen Spiele in Russland zu boykottieren, prompt eine Antwort von David Cameron. Sogar Politiker können es sich also nicht mehr leisten, soziale Netzwerke zu ignorieren. Auch wenn das noch Neuland für sie ist.

#Massenphänomen: Mehr als 500 Mio. Tweets werden täglich verschickt

DIE ZEHN BELIEBTESTEN

Wer hat die meisten Twitter-Anhänger?

1. Justin Bieber 44.200.000

2. Katy Perry 42.200.000

3. Lady Gaga 40.000.000

4. Barack Obama 36.200.000

5. Taylor Swift 33.600.000

6. YouTube 33.000.000

7. Rihanna 31.500.000

8. Britney Spears 31.400.000

9. Instagram 26.000.000

10. Justin Timberlake 25.300.000

DIE ZEHN BESTEN

Bitte folgen! Diese Twitterer lohnen wirklich

1. STEPHEN FRY @stephenfry

Britischer Schauspieler – großartiger Humor, eindeutige Haltung, lustige Links

2. ERIC JAROSINSKI @NeinQuarterly

Amerikanischer Germanistikprofessor – sieht sich als modernen Adorno

3. STEFAN NIGGEMEIER @niggi

Deutscher Medienkritiker – weiß oft sehr gut Bescheid (und meistens alles besser)

4. CAITLIN MORAN @caitlinmoran

Britische Autorin – mit großer Klappe, großem Engagement und großem Herz

5. TRACEY THORN @tracey_thorn

Britische Sängerin – mit witzigen Erkenntnissen über Haus, Garten und Kinder

6. BORIS BECKER @TheBorisBecker

Deutscher Tennisstar – mit einem sensationell großen Mitteilungsdrang

7. BILLY BRAGG @billybragg

Britischer Songschreiber – kommentiert klug Politik, Pop und die Welt

8. JOE HENRY @JoeHenryMusic

Amerikanischer Produzent und Musiker – findet immer die schönsten Zitate

9. RYAN ADAMS @TheRyanAdams

Amerikanischer Musiker – mit faszinierender Fixierung auf Metal und Katzen

10. ROLLING STONE @rollingstoneDE

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