Haushalt als Volksstamm

Der britische Anthropologe Daniel Miller hat mit Bewohnern einer Straße im Süden Londons über ihre Wohnungseinrichtungen gesprochen und ein spannendes Buch daraus gemacht.

Es gibt nichts Schöneres, als das Leben anderer zu erforschen“, stellt Daniel Miller, 56-jähriger Anthropologe aus Hampstead, fest und frohlockt: „Ich werde sogar noch bezahlt dafür!“ Sein Buch „Der Trost der Dinge“ (Edition Suhrkamp, 15 Euro) porträtiert in 15 Kapiteln Bewohner einer Straße in Süd-London. Miller, der seinen Namensvetter, den man den „Godfather of Technopop“ nennt, nur vom „Sich-selber-Googeln“ kennt, hat sich bei den Bewohnern „eingeschlichen“, um über die Gegenstände in ihren Wohnungen etwas über die Bewohner zu erfahren. „Menschen können entweder Beziehungen zu anderen Leuten und Dingen aufbauen, oder beides nicht. Menschen behandeln Menschen wie Dinge. Es gibt Leute, die Leute sammeln.“

Obwohl das Ganze dem entspringt, was man eine Feldstudie nennt, liest sich „Der Trost der Dinge“ unterhaltsam wie ein Roman. Als würde man durch eine Gemäldeausstellung schlendern – so steht man den Porträts gegenüber. Miller, der in 18 Monaten Arbeit auf Reichtum und Vielfalt traf, aber auch Tristesse und Armut erfuhr, schafft es dabei, etwas von der Wärme und Lebendigkeit seiner Gesprächspartner zu vermitteln. Er selbst musste sehr sensibel vorgehen, um eine Vertrauensbasis zu schaffen und den Finger von etwaigen Wunden zu lassen. Miller: „Die Leute sprechen wirklich gerne darüber, wenn sie nur die Gelegenheit dazu haben.“

Miller fand Plastikspielzeug von McDonald’s und hölzerne Weihnachtskrippen. Kleidungsstücke, die auf Beziehungen verwiesen. Tätowierungen, die an glückliche Momente erinnerten. Eine Musealisierung der Vergangenheit hier, eine mutmachende Balance zwischen Pragmatismus und Moral dort. Staubwischen gegen die Leere, Farbenvielfalt gegen das triste Alltagsgrau Londons. Andere trugen wiederum ihr Zuhause im Laptop. Und manch einer konnte Haustüren „lesen“. Die Gegenstände sind Schöpfer der Menschen, nicht umgekehrt. „Jeder einzelne Haushalt ist ein Volksstamm, der sich zu einer eigenen Gesellschaft entwickelt. Die Gesellschaft, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Heute spielen die Beziehungen zu Leuten und Dingen die entscheidende Rolle, nicht die Frage nach Gesellschaft oder Individuum. Kulturelle Kontinuitäten werden gewahrt, sind aber nebensächliche Faktoren.“

Miller, der sich bereits mit der Handynutzung in der Karibik beschäftigte, beteiligt sich nunmehr am „Global Denim Project“, das der Frage „Warum sind Blue Jeans das häufigste Kleidungsstück auf der Welt?“ nachgeht. Bereits im April erscheinen seine „Tales from Facebook“: 12 Porträts, die zeigen, dass ein soziales Netzwerk für viele Menschen ebenso wichtig sein kann wie ein gemütliches Zuhause. frank lähnemann

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