Hinter 1000 Stäben

Seit jenem Fotodokument, das den feurigen Redner Lenin auf der Tribüne zeigt und davor, gut sichtbar im Publikum, den damals noch geschätzten Leo Trotzki, weiß jeder Gucker der „History“-Sendungen von Guido Knopp, dass es um die Beweiskraft von Bildern nicht gut steht. Trotzki wurde aus dem Foto wegretuschiert und später ermordet. Michelangelo Antonioni zeigte in „Blow up“ ein paar Jahrzehnte später, dass in einem Londoner Park etwas im Busch war – vermutlich ein Mord. Auf das Mittagspausengeturtel von Vanessa Redgrave hatte der neugierige Fotograf David Hemmings es gar nicht abgesehen seine Entdeckung am Bildrand wurde ihm zur Obsession.

Heute, da wir ohne Foto-Handy nicht mehr aus dem Haus gehen, immer auf der Jagd nach Schnappschüssen von Roberto Blanco oder Johannes B. Kerner, die ein Eis essen oder auf Sylt durchs Dünengras traben, ist beinahe jede Manipulation denkbar. Der virile Dieter Bohlen in der Brandung von Malle – sieht seine Brust nicht zu jugendlich aus, während das gegerbte Ledergesicht unverdächtig wirkt? Und da – ist es nicht Dieter Thomas Heck bei einer Brotzeit? Und wartet nicht dort an der Bar Robbie Williams darauf, dass ihm aus der Lobby eine Frau zugeführt wird? In solchen Fällen drücken wir ab und schicken das Foto an 1414, die SMS-Nummer bei „Bild“. Jenes berühmte Kokain-Foto von Kate Moss war ja mit einem Mobiltelefon aufgenommen worden – und all die Schmuddelfotos vom derangierten Pete Doherty stammen von Leuten, die ganz in der Nähe waren unter Umständen, weil sie auf ein Konzert desselben Doherty gehofft hatten, der dann aus einem abgebrochenen Flaschenhals inhalierte und zum Einkaufen fuhr.

Im Internet, so hören wir, ist etwas zu sehen, was man früher den Venushügel von Lindsay Lohan genannt hätte eine Fälschung wie früher so oft der entblößte Busen von Britney Spears, bevor sie dauerhaft schwanger wurde. Dagegen ist nicht auszuschließen, dass unter dem Röckchen von Paris Hilton tatsächlich kein Kleidungsstück zu erkennen war, als sie umständlich aus dem Auto stieg. Bei manchen Frauen wäre es eine Sensation, würde man sie züchtig angezogen ertappen. Zum „Luder“ reicht es sogar bei Tatjana Gsell nicht mehr, die sich auf einem echten Gemälde von einem echten Maler selbst nicht erkannte – das Gesicht hatte, anders als der nackte Unterleib, keine Ähnlichkeit mit der Kokotte. Aber hatte der Künstler nicht womöglich alle Chirurgie und Kosmetik abgezogen und die wahre Gsell gezeigt, so wie einst das Bildnis das Wesen des Dorian Gray?

Bei Vergnügungsportalen wie YouTube werden ja bereits jeden Tag ungefähr 20 000 Videofilme oder so abgeladen – alles authentisches Material von normalen Leuten! Die sich zuweilen zu Partys vor dem Bildschirm treffen, wo sie sich – angetan mit lustigen Kostümen von einer Webcam aufnehmen lassen, die Musik dazu tönt aus einem Ghettoblaster, und Fratzen schneiden sie auch. Erotisch wurde diese Technik nutzbar gemacht, indem Freizeitforscher die Gewohnheiten junger, oft notdürftig bekleideter Damen in einem vollumfänglich überwachten Apartment studieren. Manch eine Mandy, die früher – wie in Robert Altmans „Short Cuts“ – neben dem Wickeln prickelnde Dialoge am Telefon führte, hat jetzt auf Internet umgesattelt. Nur an den Ausfallstraßen nach Tschechien stehen noch veritable Frauenzimmer.

Auch die Wahrheit wird im Zuge der Virtualisierung sehr biegsam. Ein paar Schüler in den USA haben einen zusammengeleimten Dokumentarfilm mit Verschwörungstheorien und Ungereimtheiten in der offiziellen Darstellung des 11. September 2001 ins Netz gestellt – und die plumpe Beweisführung hat Hunderttausende von Zweiflern am Bildschirm gebannt. Donald Rumsfeld, einer der virtuosesten Verkünder postmoderner Nachrichten, wurde kürzlich gefragt, weshalb er die bitteren Wahrheiten nicht einfach benenne. Rumsfeld lächelte gönnerhaft und sagte etwa „Weeeell“: Diese Leute, die nicht in der Verantwortung stehen, haben eine „opinion“ hier und eine „opinion“ da. Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika aber – das sagte er dann nicht – hat nur eine Meinung, und die ist identisch mit der Wahrheit, auch wenn sie nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt.

Denn das ist ja ein alter Hut von Thomas Pynchon bis Don DeLillo und, sagen wir: Oliver Stone. Man muss die Zeichen nur deuten und eine kohärente Fälschung entwerfen, dann tut sich eine Welt hinter der Welt auf. Oder, nach Rilke.de: hinter tausend Stäben keine Welt.

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