Ikonen unter sich

Beginnend mit Martin Scorseses Stones-Konzertfilm ShineA Light stellt der ROLLING STONE ab dieser Ausgabe eine Edition einiger herausragender Klassiker des Musikfilms vor.

An zwei Abenden im Herbst 2006 erfüllte sich für Martin Scorsese ein lebenslanger Traum. Schon als junger Mann schätzte der Regisseur die populäre Musik in all ihren Spielarten. So sammelte er erste Meriten unter anderem als Regie-Assistent am Set von Woodstock. Später dienten ihm die Protagonisten und Geschichten des Pop immer wieder als Vorlage für preisgekrönte Dokumentationen wie „The Last Waltz“ oder „No Direction Home“.

Eine besondere atmosphärische und dramaturgische Funktion im Werk des Regisseurs erfüllten jedoch stets die Songs der Rolling Stones. Zum ersten Mal war Scorsese 1965 bei einer Autofahrt mit der Musik der britischen Band in Berührung gekommen. Damals stoppte er den Wagen und gab sich ganz den Klängen von „Satisfaction“ hin – eine Epiphanie. Später kamen dann nur wenige seiner Filme ohne wenigstens einen Stones-Song aus – „Gimme Shelter“ setzte er gar mehrfach ein. Insbesondere seine frühen Meisterwerke „Mean Streets“ und „Taxi Driver“ verdankten der Energie der Stones eine Menge, erklärte Scorsese einmal.

Die Geschichte dieser für ihn so prägenden Band zu erzählen, war dem Regisseur folglich ein besonderes Anliegen. Doch verlange ein solches Unterfangen einen besonderen Ansatz. Zu gut sei der Werdegang der Stones in Wort und Bild dokumentiert, so der Regisseur, dem sei nichts hinzuzufügen. Zudem offenbare sich das Wesentliche ohnehin in den Gesichtern der Musiker, in ihrer Performance und Musik, im Spiel von Keith Richards, dem Gesang von Mick Jagger sowie in Charlie Watts‘ unnachahmlicher Art, Schlagzeug zu spielen. Man müsse die Stones also dort filmen, wo ihre Energie am besten fließe – auf der Bühne bei einem ihrer Konzerte.

Die Stones standen am Ende einer langen Welt-Tournee durch Stadien und große Hallen, als sie im Herbst 2006 im vergleichsweise intimen Beacon Theatre zu New York Halt machten. Dort hatte Scorsese eine Riege oscargekrönter Spezialisten versammelt, um zwei Quasi-Club-Konzerte der Band mit 18 Kameras festzuhalten und die Ergebnisse zu einem filmischen Denkmal zu verdichten. Die Rolling Stones brachten Gäste wie Jack White, Buddy Guy und Christina Aguilera mit. Dem Auditorium gehörten an einem der Abende Bill und Hillary Clinton samt Entourage an, für deren Foundation später die Einnahmen gespendet wurden. Vor dieser Kulisse wichen die Stones vom Programm der vorangegangenen Großkonzerte ab und erforschten auch Randgebiete ihres Katalogs mit Perlen wie „Faraway Eyes“, „Tumbling Dice“, „All Down The Line“ und „Loving Cup“. Nur „Gimme Shelter“ spielten die Musiker nicht was Jagger zu der spöttischen Bemerkung verleitete, „Shine A Light“ sei der erste Scorsese-Film ohne den Song.

Das Besondere an „Shine A Light“ ist die direkte Erfahrbarkeit. Den schnellen Schnitten und der Aufgeregtheit der MTV-Ära setzt Scorsese konsequenterweise lange Einstellungen entgegen. Scheinbar ewig verweilt die Kamera insbesondere bei den langsameren Stücken auf den Gesichtern der alternden Musiker, durchmisst jede ihrer Falten und findet so eine besondere Form, die Geschichte dieser Band zu erzählen. Scorsese huldigt den Stones und ihrem Mythos, indem er sie in edel kolorierter Patina wie Denkmäler ihrer selbst erstrahlen lässt.

Die der Intimität des Veranstaltungsorts geschuldete physische Präsenz der Stones ist ohnehin atemberaubend. Nicht zuletzt, weil sie hier viel deutlicher als bei den großen Massenveranstaltungen, die ja immer gewisse Zugeständnisse erfordern, wirklich die Haupt-Protagonisten sind. Die Begleitmusiker halten sich zurück, die Bühnenaufbauten sind spärlich, die Kamera zeigt kaum das Publikum.

Am schönsten sind trotzdem die Szenen hinter der Bühne. Denn natürlich hat auch der große Illusionist Scorsese in dem Film deutliche Spuren hinterlassen. Die eröffnende pseudodokumentarische Strecke über Planungsphase und die finalen Vorbereitungen des Events ist vom Theater um die Setlist bis zu Jaggers Beschwerden wegen des angeblich exklusiv von Scorsese gestalteten Bühnenbilds eine einzige Inszenierung – aber was für eine herrliche Farce das ist!

Unvergessen etwa jener Dialog Scorseses mit einem der Techniker über die Gefahr sich zu stark erhitzender Scheinwerfer: „Wir brauchen den Effekt – but we cannot burn Mick Jagger“, bescheidet der Regisseur theatralisch. Oder die Art, wie Ron Wood und Keith Richards Bill Clinton zur Begrüßung umarmen, um anschließend in eine routinierte Smalltalk-Runde mit der präsidialen Begleitung einzusteigen – weil da ja Männer aufeinander treffen, die man im Kopf nicht so ganz zusammenkriegt. Das viel zitierte Spiel mit der Setlist: Scorsese hatte gebeten, diese pünktlich vorgelegt zu bekommen, um die Kameras auf den eröffnenden Musiker richten zu können. Mick Jagger indes, seit Jahr und Tag für die Songreihenfolge bei Stones-Konzerten zuständig, lässt die Liste exakt eine Sekunde vor den Eröffnungsakkorden von „Jumping Jack Flash“ überbringen, was bei Regisseur und Crew einen mittleren Nervenzusammenbruch auslöst – und natürlich gestellt ist.

Ganz wollte Seorsese nicht auf biografische Details verzichten. So ist der Film mit sorgsam ausgewählten Interview-Sequenzen aus allen Karrierephasen durchsetzt. Unter anderem jener, in der ein Reporter den jungen Jagger mal wieder fragt, wie lange er das noch machen wolle mit der Musik. Jagger erwidert, die Stones seien nun schon zwei Jahre dabei, was seine kühnsten Erwartungen übertreffe, und immer noch würden sie ständig als neue Band bezeichnet. Er sei deshalb durchaus optimistisch, noch ein weiteres Jahr durchzuhalten.

40 Jahre später werden die alten Stones-Stereotypen immer noch aufs Herrlichste bedient: Der zum Zeitpunkt des Drehs 63-jährige Mick Jagger legt sich ehrgeizig wie eh und je ins Zeug, ist in sämtliche Vorbereitungen involviert, weiß, wo die Kameras stehen, wie er gucken, tanzen, singen muss, und behält auch während seines fantastischen Duetts mit Jack White stets hochkonzentriert das große Ganze im Auge – einer muss den Laden schließlich zusammenhalten.

Keith Richards hingegen macht wie gehabt „einfach nur mein Ding“, wie er auf dem roten Teppich der 58. Berlinale erzählt, wo „Shine A Light“ im Februar 2007 Premiere feierte: das atemberaubende Geschenk einer Kultur-Ikone des 20. Jahrhunderts an eine andere – und an uns.

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