Jahresrückblick 2010. Die Dinge, an die wir uns erinnern: Der Lada Niva aus „Tschick“
Ein hellblauer Lada Niva brauste an den Feuilletons und den wenigen verbliebenen Großschriftstellern vorbei in die Bestsellerlisten. An Bord zwei 14-Jährige, Maik Klingenberg aus Berlin-Marzahn und sein Mitschüler Andrej "Tschick" Tschichatschow.
Ein hellblauer Lada Niva brauste in diesem Literaturherbst an den Feuilletons und den wenigen verbliebenen Großschriftstellern vorbei in die Bestsellerlisten. An Bord zwei 14-Jährige, Maik Klingenberg aus Berlin-Marzahn und sein russischstämmiger Mitschüler Andrej „Tschick“ Tschichatschow. Beide in ihrer Klasse äußerst unbeliebt, beide auf der Flucht vor der Langeweile der großen Ferien. Sie wollen mit der gestohlenen Karre in die Walachei fahren, ohne genau zu wissen, wo das ist, und irren durch ein unbekanntes Ostdeutschland. Die beiden sind die Protagonisten aus Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“. Einem Buch mit einer tragischen Geschichte.
Als der Autor im Februar von seinem Hirntumor erfuhr, warf er sich in die Arbeit und setzte sich an ein bereits vor sechs Jahren begonnenes Projekt. Damals hatte er einige Bücher wieder gelesen, die er in seiner Jugend gemocht hatte – Franz Werner Schmidts „Pik reist nach Amerika“, Edgar Allen Poes „Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym“, William Goldings „Herr der Fliegen“, Felix Graf von Luckners „Der Seeteufel“ und Mark Twains „Huckleberry Finn“. „Zu meiner Überraschung hatten alle Lieblingsbücher drei Gemeinsamkeiten: rasche Eliminierung der elterlichen Bezugspersonen, große Reise, großes Wasser“, schrieb er in seinem Blog, in dem er Krankheit und Arbeit dokumentierte. „Ich überlegte, wie man diese drei Dinge heute in einem halbwegs realistischen Jugendroman unterbringen könnte; eine rein technische Frage, schreiben wollte ich das auf keinen Fall.“
Dann schrieb er es doch. Nach nur zweieinhalb Monaten war der Text fertig – „mit einigen dramaturgischen Mängeln“, wie er bei der Buchpräsentation einräumte. Am 17. September erschien „Tschick“, und zunächst passierte nicht viel. Kein Wort über den Roman in den Beilagen der Tageszeitungen zur Frankfurter Buchmesse. Doch die Mundpropaganda – heutzutage nennt man das „virales Marketing“ – lief bereits. Keine Geburtstagsfeier, bei der nicht irgendwer „Tschick“ verschenkte, kein Kneipenabend, an dem nicht irgendwer auf diesen wundervollen tragikomischen Roman zu sprechen kam.
Maik Brüggemeyer