„Jeanne Dielman“ von Chantal Akerman: Der beste Film aller Zeiten?!

Auch fast 50 Jahre nach der Premiere ist der 205-minütige Film ein ergreifendes Erlebnis. Er wird von Kritikern gefeiert, ist aber kaum zu sehen.

„Jeanne Dielman, 23, Quai du Commerce, 1080 Bruxelles“ von der großen belgischen Regisseurin Chantal Akerman ist ein Film wie kein anderer: Ein Grundlagenwerk des kinematographischen Feminismus‘, Prototyp minimalistischen Leinwanderzählens und nicht zuletzt ein hochprivates Dokument sensibler Künstlerinnen vor und hinter der Kamera.

Das 205-minütige experimentelle Kunstwerk ist auch heute noch eine Konzentration und geistige Wachheit verlangende Herausforderung, zeigt es doch mit geradezu dokumentarischer Präzision einen auf drei Tage angelegten Ausschnitt aus dem Leben einer Hausfrau, die nach dem Tod ihres Ehemannes ihren Alltag mit streng ritualisierter Abfolge zu meistern versucht.

Hausfrau, Mutter, Hure

Jeanne wird von Delphine Seyrig (zur damaligen Zeit bereits eine Leinwandlegende, deren außergewöhnliches Wirken zwischen Kunstkino wie „Letztes Jahr in Marienbad“ von Alain Resnais und Harry Kümels Edeltrash „Blut an den Lippen“ balancierte) verkörpert, auch wenn das Wort „Verkörpern“ im Grunde nicht einmal ansatzweise ausdrückt, wie sich die französische Mimin ihre Figur aneignet, wie sie mit absoluter Reduktion eines wie auch immer gearteten Spiels dieses in sich verschlossene Menschenwesen zum Leben erweckt.

Es gibt keine einzige der akribisch von Kamerafrau Babette Mangolte komponierten Szenen, in der Seyrig nicht zu sehen ist. Sie macht den Abwasch, kocht Kaffee, schält Kartoffeln, wischt das Badezimmer, putzt Schuhe, erledigt Einkäufe, kümmert sich um ihren – allerdings eher abwesenden – Sohn und empfängt, bevor sie ihren Jungen abends sorgsam bewirtet, zwischenzeitlich Herrenbesuch, um sich damit noch ein kleines Zubrot zu verdienen. Das ist schon alles – und das ist sehr, sehr viel.

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In Jeannes Gesicht zeichnet sich selten einmal so etwas wie Freunde, Anstrengung, Nachdenklichkeit oder gar Traurigkeit ab. Mit beängstigender Kühle und erschütternder Ruhe geht sie ihren Routinen nach. Und es wird sehr schnell klar, dass sie ohne diese stets nach dem selben Muster ablaufenden Aufgaben kaum sie selbst sein könnte.

Es wird wenig geredet in diesem Film, und wenn doch, dann eher über Belangloses oder auf fast unfreiwillig komische Art. So liest Jeanne ihrem Sohn einen Brief von der Tante in Kanada vor, die sich sehnlichst einen Besuch wünscht, zugleich aber ganz nebenher rigide Vorwürfe an die Verwandten in der Ferne richtet. Jeanne zitiert dies aber in einer vollkommen abwesenden emotionalen Tonlage, die den Worten zu keiner Zeit gerecht wird. Die Botschaft verhallt. Hatte sie etwas zu bedeuten? Ein Konflikt schwebt, zumindest auf der Handlungsebene, allenfalls im Hintergrund mit, unendlich weit von den gezeigten Figuren entfernt.

Als der 16-Jährige sich später kurz vor dem Gang zu Bett plötzlich mit eindringlichen Worten an seine Mutter richtet und verkündet, dass er vor einigen Jahren mit aller Macht versucht hatte, die körperliche Liebe zwischen seinen Eltern zu verhindern, würgt Jeanne ihn völlig unberührt ab und knipst das Licht aus.

In „Jeanne Dielman“ wird sehr oft das Licht an- und ausgeschaltet, Türen werden (lautstark) geöffnet und wieder geschlossen. Diese Kleinigkeiten des menschlichen Wirkens, in anderen Filmen selten von Interesse oder eben von psychologischer Bedeutung aufgeladen, sind es, die im Zentrum dieser möglicherweise von der Dingbesessenheit des Nouveau Romans inspirierten Versuchsanordnung stehen. Natürlich wird so auch die Mechanik des Kinos, also das Zusammenspiel von Bewegung, Zeit und Raum reflektiert.

Der weibliche Blick

Cineasten, Filmwissenschaftler und nicht zuletzt auch Feministinnen haben viel geschrieben über den Sinn dieser radikalen Betrachtung einer Hausfrau, Mutter und Hure. „Jeanne Dielman“ wurde als Psychogramm einer von einer patriarchalisch orientierten Gesellschaft zur Gehorsamkeit gezwungenen Frauenfigur verstanden, die diesen Druck wie selbstverständlich verinnerlicht hat. In vielen Sequenzen wird die zwangsneurotische Besessenheit, noch jedes kleinste Detail des Alltags zu beherrschen – und sei es nur durch die Anordnung des Bestecks auf dem Esstisch – geschildert und schließlich, als es aus unerklärbaren Gründen zum Bruch dieser fragilen Ordnung kommt, im Angesicht der Kontrolllosigkeit vorgeführt.

Akerman hat sich nie gegen diese Interpretation gewährt, auch ihr Langfilmdebüt „Ich, du, er, sie“ aus dem Jahr 1974 ist ganz bewusst von einem weiblichem Blick geführt – und auch spätere Werke der Regisseurin, oft deutlich zugänglicher, atmen den Geist des Feminismus, ohne dabei allerdings die Subtilität des Gezeigten einer simplen Botschaft oder einer Kampfansage unterzuordnen. Allerdings hat die Auteurin, die für „Jeanne Dielman“ ausschließlich auf Mitarbeiterinnen hinter der Kamera zurückgriff, einer vorbehaltlosen feministischen Lesart niemals das Wort reden wollen.

Interpretation wird überflüssig gemacht

In der erschöpfenden Wiederholung von immer gleichen, im Grunde belanglosen Tätigkeiten an Orten, die dem Zuschauer durch sich ähnelnde (Stand-)Kameraperspektiven auf fast schon schmerzhaft-stumpfe Art und Weise näher gebracht werden, entsteht allerdings auch eine Einfühlungsperspektive, die jede tiefenpsychologische oder gar soziologische Interpretation über eine sehr überschaubare Anzahl von Codes (Kleidung, Wohnungseinrichtung etc.) entwickelt und zugleich die Veranschaulichung beziehungsweise die Wirkung von Raum und Zeit zum Schlüsselprinzip der Seherfahrung macht.

Vielleicht wollte Akerman vor allem eines erreichen: Interpretation überflüssig machen. Es gibt in „Jeanne Dielman“ nichts zu deuten (auch wenn die letzten zehn Minuten des Films natürlich auch heute noch für lebhafte Diskussionen sorgen und die Motive der Hauptfigur, eine Schere eben nicht für das zu verwenden, was sonst vollkommen logisch dafür vorgesehen ist, sondern als Waffe, unklar bleiben). Es gibt ja auch nichts, das erzählt würde, es sei denn man empfände die Ablauffolge des Alltags – das im Grunde für eine interessante Geschichte kaum verwendbare „Material“ des häuslichen Existierens – als ein schlüssiges Narrativ. Aber das genau ist es eben nicht.

Die Größe von „Jeanne Dielman, 23, Quai du Commerce, 1080 Bruxelles“, der schon durch den nüchternen Titel seine reduktionistische Formsprache andeutet und die Beispielhaftigkeit der Handlung genauso behauptet wie Robert Bresson mit „Au Hasard Balthazar“, besteht darin, den Zuschauer in dieses nicht eine Sekunde langweilige Spiel mit einzubeziehen.

Jeannes Körper, ihre Bewegungen, ihre Stimme, ihr lautes Schweigen, wird zur Chiffre für den Beobachter, der trotz des intimen Einblicks in das Leben eines Menschen nicht das Gefühl bekommt, als Voyeur beteiligt zu sein. Viele Male fährt die Protagonistin mit dem Fahrstuhl (der mit seinem dunklen Brummen, das bis in die Wohnung Jeannes vordringt, omnipräsent bleibt), viele Male öffnet sie im Hausflur den Postkasten (ohne darin etwas vorzufinden), viele Male säubert sie Geschirr, legt das Bett zurecht oder wäscht sich penibel. In der Repetition erschließt sich doch so etwas ähnliches wie ein Deutungshorizont.

Depressive Logik der masochistischen Selbstkontrolle

Chantal Akerman sagte zu ihrem Film einmal, dass er davon handele, wie ein Mensch die Zeit totschlägt, um seelischen Qualen aus dem Weg zu gehen. Natürlich lässt sich erahnen, dass es der Regisseurin, zur Entstehungszeit gerade einmal 25 Jahre alt und nach dem Film schlagartig weltbekannt, vor allem auch darum ging, eine tief verwurzelte (weibliche) Depression in schonungslose Bilder zu übersetzen. Der depressiven Logik, sich der schmerzvollen Erfahrung von Verlust, Scheitern und Erniedrigung zu entziehen und sie durch geradezu masochistische Selbstkontrolle zu ersetzen, entsprechen so die entschleunigten, geradezu leblosen Bilder, in denen die Dinge die Herrschaft über die Seele eines Menschen gewonnen haben.

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All dies wird nur umso deutlicher, da Jeanne schließlich die Oberhand über ihr Leben verliert und in einem impulsiven Moment gewaltsam aus ihrem selbst geschaffenen und vor allem nicht wahrgenommenen Gefängnis ausbricht. Blutverschmiert sitzt sie nach ihrer Tat, auf die zuvor keine Einstellung des Films hätte vorbereiten können, in ihrem Wohnzimmer, nur vom eintönig flackernden Licht der Straßenbeleuchtung erhellt. Es spricht für die eindrucksvolle stilistische Geschlossenheit des Werks, dass auch dieser Gewaltakt auf geradezu introvertierte Art und Weise ausgeübt und von der Kamera eingefangen wird.

„Jeanne Dielman“ ist zugleich auch ein persönlicher Film, der im Gesamtwerk der Filmavantgardistin eine herausragende Rolle einnimmt. „Vielleicht ist dies ein Liebesfilm über meine Mutter“, ließ Akerman einst mitteilen. Die Mutter-Tochter-Beziehung ist in fast in jedem der über 50 Werke der Belgierin in der einen oder anderen Form ganz konkret von Bedeutung. Akermans Mutter hatte Auschwitz und den Holocaust überlebt, doch darüber schwieg sie ein Leben lang. Möglicherweise also ist „Jeanne Dielman“ auch ein Film über das Schweigen, über die Unmöglichkeit des Sprechens angesichts eines unstillbaren, nicht ausdrückbaren Schmerzes.

Humanistische Erfahrung

Ob es sich dabei um ein zwangsläufig weibliches Schicksal handelt, bleibt dabei nicht die entscheidende Frage. Akerman sprach mehrmals davon, dass es in „Jeanne Dielman“ um die Biographie eines im Grunde lebensuntüchtigen Menschen geht, der paradoxerweise das Leben nahezu perfekt beherrscht. Wobei es sich dabei auch genauso gut um einen Mann hätte handeln können.

Die gesamte künstlerische Energie des Films geht von der konzentrierten Form aus, die jeglichen erzählerischen Ballast zugunsten einer ergreifenden, letztlich vollkommen vorurteilsfreien Sicht auf das (willkürlich?) gewählte Schicksal eines Menschen abwirft und dabei zeigt, was in anderen Kinofilmen eben nur eine flüchtige Randnotiz bleibt. „Jeanne Dielamn“ wird so zu einer einzigartigen, humanistischen Erfahrung, die im Kino ihresgleichen sucht.

Der beste Film aller Zeiten?

2023 wurde der Film in der alle zehn Jahre erhobenen „Sight And Sound“-Umfrage nach den besten Filmen aller Zeiten etwas überraschend auf Platz eins gewählt. Es ist keine reine Kritikerumfrage, die zu dem Ergebnis führte: Die britische Filmzeitschrift, die vom britischen Filminstitut herausgegeben wird, fragte mehr als 1000 Menschen, die in den verschiedensten Positionen mit dem Kino verbunden sind. Akermans wichtigster Film hat damit Hitchcocks „Vertigo“ vom Spitzenrang vertrieben, der wiederum den zuvor Dekaden lang vorn stehenden „Citizen Kane“ von Orson Welles verdrängte.

Natürlich bot dies Grund für Diskussionen, lag „Jeanne Dielman“ doch zuvor meist nicht einmal in der Nähe einer Top-10-Platzierung. Deutete sich hier so etwas wie ein Konsens im Sinne eines Zeitgeistes an, der Vielfalt in den Vordergrund stellt und nachträglich die künstlerischen Höchstleistungen von Filmemacherinnen würdigen will? Oder gar eine Zeitenwende in der filmhistorischen Betrachtung? Nicht unbedingt. „Jeanne Dielman“ sticht im Kreise all der anderen Filme, die er hinter sich gelassen hat – neben „Vertigo“ und „Citizen Kane“ sind das „Die Reise nach Tokyo“, „In The Mood For Love“, „2001 – Odyssee im Weltraum“ und, vielleicht noch überraschender in der Platzierung, „Beau Travail“ – durchaus hervor, weil er als einziger ein Werk im Geiste des Experimentalfilms ist. Radikales Kunstkino, ohne Botschaft, ohne Erzählimpuls, getrieben von seiner cineastischen Energie, die sich auf kein anderes Medium übertragen ließe. Es gibt keinen anderen Film, der sich so anfühlt, so sehen lässt wie „Jeanne Dielman“.

Über ihren Wert als Kanon und Konsumempfehlung hinaus bietet eine solche Liste immer auch die Chance, sich den von Zeit zu Zeit sich ändernden Umständen der Betrachtung von Kunst zu stellen und sie zu reflektieren. Dabei fällt auf, dass Kritiker und Filmschaffende im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts einen Film als den bedeutendsten anerkennen, der sich mit Leib und Seele dagegen wehrt, das zu sein, was das Kino ansonsten zu großen Teilen ausmacht. Im Angesicht des schleichenden Verfalls der siebten Kunst aufgrund ihrer Verschiebung vom öffentlichen in den privaten Raum, vom Lichtspielhaus zum Streamingportal, wird ein Anti-Film gewürdigt Das ist auch ein Statement.

Von ähnlicher Aussagekraft ist, dass „Jeanne Dielman“ so gut wie nie im Kino, schon gar nicht im Fernsehen zu sehen ist. Es gibt den Film in einer amerikanischen Importfassung der hochwertigen Cineastensammlung „Criterion“, aber keine europäische DVD oder gar Blu-ray. Das ist ein Armutszeugnis und darf im Angesicht anderer Bemühungen zur Stärkung der Sichtbarkeit genuin weiblichen Kunstschaffens getrost als echtes Trauerspiel bezeichnet werden. Insofern ist es ein Glück, dass der Film nun für einige Zeit im Programm des Kino-Streamers MUBI zu sehen ist.

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