Kritik: „28 Years Later“ – Der englische Patient

Als politischer Film, als Brexit-Film, ist „28 Years Later“ so überzeugend wie sein Vorgänger. Boyle ist sein Comeback zu wünschen, Garland überzeugt als Autor

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„Es gibt seltsame Leute auf dem Festland“, sagt Jamie (Aaron Taylor-Johnson). „Deshalb ist Heimat so wichtig.“ Die Gefahr liegt in der Fremde. Regisseur Danny Boyle nutzt seine PR-Tour für „28 Years Later“ bislang, um den Job zu übernehmen, den eigentlich die Zuschauer übernehmen sollten: Die „Elevated Horror“-Ebene zu interpretieren, die Figuren wie Jamie darlegen. Dieser Zombiefilm ist seine Kritik am Brexit. Daran, dass es nicht gut ist, die Abgeschiedenheit zu wählen. Boyle bezeichnet die Brexiteers als Idioten.

Die Rückkehr des britischen Zombie-Albtraums

„28 Years Later“, seine Fortsetzung von „28 Days Later“, erzählt genau davon. Von jenem geografisch bedingten, von vielen Bürgern der Insel empfundenen paradoxen Gefühl aus Furcht und Stolz. Keine Landesgrenzen zu haben, bedeutet vielleicht Freiheit und Sicherheit vor unliebsamen Nachbarn. Aber im Notfall eines Kriegs auch unvorteilhaftes Alleinsein. Zombie-Quarantäne als Quittung für leidenschaftlichen, wenn auch im Brexit-Voting nur mit knapper Mehrheit erkämpften Isolationismus.

Die Insel als Sinnbild für Brexit-Isolation

Auf einer schottischen, wenige Quadratkilometer großen Insel schirmt sich eine Gemeinschaft (ihr folkloristisches Fiddel-Diddel-Leben erinnert an das Borat-Kasachstan) vor dem Rage-Virus ab, das 28 Jahre nach Ausbruch längst eingedämmt werden konnte. Rage wütetet nur noch auf den britischen Inseln, wo die Menschen ihrem Schicksal selbst überlassen werden. Jamie geht mit seinem Sohn Spike (Alfie Williams) auf eine Festlandtour, damit der 12-Jährige zum Mann wird, mit Pfeil und Bogen ein paar Infizierte tötet, die Welt da draußen zum ersten Mal sieht und danach umso lieber aufs vertraute Eiland zurückkehrt. Boyle montiert in seine Aufbruchsaufnahmen einige Szenen von Filmen, in denen tapfere Ritter die Belagerung der Burg abwehren.

Jamie und Spike überqueren den Damm, marschieren in den Wald. Sie sehen ein Kriegsschiff im Meer. „Quarantänekontrolle“, sagt Jamie. „Wahrscheinlich die Franzosen.“ Denn wer Großbritannien verlassen will, wird getötet. Auch eine Pointe: Würde Europa die Briten nach dem Brexit überhaupt zurückhaben wollen?

Eine neue Generation in der alten Welt

Irgendwann strandet ein schwedischer Soldat auf dem britischen Festland. Er muss Kindern wie Jamie erklären, wie sich die Zivilisation ohne britische Teilhabe weiterentwickelt hat. Dass es jetzt Smartphones gibt, „wie ein Radio, nur mit Fotos“. Dass auf diesen Handyfotos Menschen mit Schönheitsoperationen zu sehen sind, die die jüngste britische Generation, deren Body-Positivity-Leben auf Mittelalterniveau gesenkt wurde, nicht nachvollziehen können (der Soldat Erik dient eben genau jenem einzigen Grund: den Protagonisten zu zeigen, was sie draußen verpassen – für die Geschichte ist er nicht notwendig).

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Im Wald begegnen sie „Slow-Lows“, am Boden kriechende Zombies. Jamie sagt: „Diese Langsamen sind aber nicht weniger gefährlich“. Vielleicht ein Insiderwitz von Danny Boyle und seinem Autor Alex Garland, die im Jahr 2002 mit „28 Days Later“ die rennenden Zombies überhaupt erst populär gemacht haben. Und sich damals über den „Urvater der Untoten“, George A. Romero, öffentlich amüsierten, weil der mit seinen lahmen Schlurfern keinen Schrecken mehr verbreitet hätte. Der Kommentar Jamies erscheint als postumes Versöhnungsangebot an den 2017 verstorbenen Regisseur.

Denn „28 Years Later“ war 2002 ein sensationeller Erfolg. Boyle und sein Autor Alex Garland, beeinflusst vom Playstation-Spiel „Resident: Evil“, belebten das Zombie-Genre neu. Auch wenn die Rage-Mutanten keine Untoten sind, sondern wahnsinnig gewordene, daueraggressive Menschen mit Persönlichkeitsverlust. Zwei Jahre später erschienen George A. Romeros „Land of the Dead“, Edgar Wrights „Shaun of the Dead“ sowie Zack Snyders „Dawn of the Dead“-Remake. Zombies gelten seitdem als die kassenträchtigsten Monster, auch wenn in dieser Filmgattung keine neuen Impulse mehr gesetzt werden.

Mehr als bloßer Horror

Für „28 Days Later“ ließen Garland und Boyle sich von den Ängsten des neuen Jahrtausends beeinflussen: vor Rinderseuche, Maul- und Klauenseuche, Ebola, Nine-Eleven-Terror. Ebenso diente das Virus als Metapher für die zunehmende Alltagswut. Um die Jahrtausendwende wurde der Begriff „Road Rage“ populär, heute gibt es allein auf YouTube zig Kollektionen aus „Road Rage“-, „Train Rage“- oder „Air Rage“-Schnipseln, in denen mehr oder weniger friedfertige Menschen aus nichtigen Gründen, ein falsch gesetzter Autoblinker, ein Niesen des Sitznachbars in der zu engen Holzklasse, zur Gefahr für ihre Mitbürger werden.

Rage fand auch visuell einen (viel kopierten) Ausdruck. Boyle erarbeitete eine technische Darstellungsoptimierung seiner Mutanten. Mit seinen Canon-XL1-DV-Kameras konnte er durch deren Verfügbarkeit von enorm kurzen Verschlusszeiten Bilder mit übertrieben harten Bewegungen produzieren. Er reizte diese Funktion voll aus und entfernte zudem jedes dritte oder vierte Bild, was im Resultat zu einem Stakkato-Effekt führte. Die Abfolge der scharfkantigen und unvollständigen Einzelbilder sieht so aus, als würden sie nicht nur springen, sondern einander überspringen. Diese Kreaturen rannten wie die Teufel, ohne sich viel zu bewegen.

Ein Drama im Kleinen

Als politischer Film, als Brexit-Film, ist „28 Years Later“ so überzeugend wie sein Vorgänger. Boyle und sein Autor Garland hatten einen Plan. Den haben sie umgesetzt. Dies ist Garlands erstes Drehbuch ohne Regie seit „Never Let Me Go“ von 2010, und „28 Years Later“ sollte ein Argument für ihn sein, sich nach vier schlechten Regie-Arbeiten in Folge, „Annihilation“, „Men“, „Civil War“ und „Warfare“, aufs Schreiben zu konzentrieren. Wie Shyamalan: genialischer Autor, schlechter Regisseur.

Und wie in den besten Zombiefilmen wird auch in „Years“ keine Weltausbruchsstory mit global zusammenbrechenden Zivilisationen erzählt, deren Generäle und Ärzte die Hintergründe einer Krankheit diskutieren. Sondern ein Drama im Mikrokosmos Familie. Also das Große im Kleinen. Spike will die Isolation seiner Gemeinschaft „The Village“-mäßig verlassen, um Hilfe für seine Mutter (Jodie Comer) holen zu können. Isla (der Name!) wirft sich wie Linda Blair auf ihrem Bett herum und stößt Flüche aus, aber Spike fürchtet, sie könnte nicht nur psychisch erkrankt sein.

Zwischen Kunst und Gore

„28 Years Later“ hat einige beeindruckende Set Pieces, allen voran die Verfolgungsjagd eines „Alpha“-Zombies (unglückliche „Walking Dead“-Terminologie) über eine Dammstraße. Die Flucht vor diesem Monster wird mit Wagners erwartungsfreudigem „Rheingold“-Vorspiel untermalt. Als könnte der Einbruch des Wilden in die Dorfgemeinschaft zu unerwarteten Glücksgefühlen führen.

Dies ist ein Zombies-in-der-Natur-Film, der nach dem Trailer eigentlich nur Böses erahnen ließ, sah er doch aus wie ein „Walking Dead“-Ableger mit Lookalikes von Rick und Carl Grimes. (Andererseits: „TWD“-Schöpfer Robert Kirkman ließ sich für den Ich-erwache-aus-dem-Koma-und-die-Welt-ist-anders-Anfang seines Comics offensichtlich von „Days“ inspirieren)

Der Fan-Service greift tief

„28 Years Later“ ist als Auftakt einer Trilogie angelegt, und weil das „28“-Franchise in den vergangenen 23 Jahren eine Menge Fan-Fiction erzeugt hat, bemühen Boyle und Garland sich nun um eine Kanonisierung biologischer Rage-Gesetzmäßigkeiten. Dazu gibt es Fan-Service. Wie bei Boyle üblich einige kontraintuitiv anmutende Needle Drops (wie am Beispiel von Richard Wagner). Eine verlassene Tankstelle ist nicht mit „Shell“, sondern nur noch mit „Hell“ gekennzeichnet, ein Wink an das „Hell(o)“-Zeichen am Strand aus Teil eins. Der Jumpcut vom erlegten Alpha zur Dorfkneipe, in der Heldengeschichten geschwungen werden, erinnert an Leonardo DiCaprios schnell montierter Tapferkeitserzählung vom erlegten Hai in „The Beach“.

Körper, Virus, Reproduktion

In „28 Days Later“ gab es viele Tote, aber nicht einen einzigen Gore-Moment, kein abgetrenntes Körperteil, nicht einen erkennbaren Biss. Die Uneindeutigkeit senkte nicht nur den Preis für Spezialeffekte, sie machte die Infizierten auch zu mysteriös handelnden Organismen. Sie schienen nicht an (menschlicher) Nahrung interessiert zu sein. Bei einer Fressorgie, dem Money Shot des Splatterkinos, waren sie nicht zu sehen. Viele der Tobenden begnügten sich damit, ihren Opfern Blut ins Gesicht zu spucken, auf dass das Virus in Mund, Augen, Ohren oder Nase gerät. Es ging den Tollwütigen also um Vermehrung, nicht Ernährung. Und in „Days“ blieb unklar, warum die Infizierten am Ende zusammenbrachen.

Das ist in „28 Years Later“ anders, die Mutanten fressen, wann immer sie können. Und vermehren sich nicht nur durch Tröpfcheninfektion, sondern auch durch Sex. Hier stellen sich Fragen: Warum sehen alle Alphas aus wie Jason Momoa? Macht das Virus sie so groß und stark, oder werden nur geborene Anführer Alphas? Was machen die Infizierten mit den Neugeborenen – die allesamt gesund geboren werden? Boyle und Garland unterwerfen sich hier leider dem Diktat einer lediglich vermuteten Ungeduld der weltweiten Zombie-Community, die in Zombie-Fortsetzungsfilmen unbedingt eine Evolution der dummen Wüteriche würden sehen wollen. Auch Untoten-Meister Romero unterlegte sich diesem Zwang und zeigte Zombies als lernfähige Wesen, die zu Anführern ihrer Art werden können, auch deshalb waren „Land of the Dead“ und „Survival of the Dead“ so schulmeisterlich.

Plazenta-Magie und Alpha-Zombies

Die Babys der Mutanten sind auf natürliche Weise geschützt. „Das ist die Zauberkraft der Plazenta“, sagt Dr. Kelson (Ralph Fiennes), ein Eremit, der gleichermaßen Landarzt wie Schamane ist. Vor allem ist er Wildhüter. Er will den Alpha namens Samson nicht erlegen. Er betäubt ihn nur, mit seinen Narkosepfeilen aus dem Blasrohr. Kelson hat die Koexistenz dieser neuen, dem Menschen mindestens ebenbürtigen Lebensform anerkannt. Erstaunlich, dass Ralph Fiennes ausgerechnet in einem Horrorfilm eine Rolle spielt, die ihn so gelassen wie selten präsentiert. Gestählt durch die Dreharbeiten zu seinem „Odysseus“-Film, zeigt sich der 62-Jährige hier auch mit überzeugend-nacktem Oberkörper.

Kelson ist ein Survivalist, eine Figur, der wir in den folgenden Filmen hoffentlich nochmal begegnen, auch wenn seine Motivationen zweifelhaft erscheinen. Er betäubt Spike, um ihn bei einem bevorstehenden kritischen Lebensereignis handlungsunfähig zu machen, mit dem Einverständnis ausgerechnet von Spikes eigener Mutter. Was soll man sagen: Spike got spiked.

Ein gemischtes Vermächtnis

Wird „Years“ so bahnbrechend sein wie „Days“? Sicher nicht, aber das ginge auch nicht – „Days“ hatte das Genre neu definiert. Doch die Figuren, Jamie, Spike, Isla, Dr. Kelson, sind weit komplexer als es Jim, Selena und Hannah in „Days“ waren (Hannahs Vater Frank war da schon interessanter). Cillian Murphy ist seit seinem Oscar-Gewinn für „Oppenheimer“ so gegenwärtig wie nie. Aber nicht in diesem Film. Man denkt kein einziges Mal an seinen Jim, und wo er denn bleibt.

Danny Boyles Triumph bei den Oscars mit „Slumdog Millionär“ 2009 machte ihn als Regisseur nicht mutiger, wenngleich seine jüngsten Filme zumindest auf routinierte Weise geistreich waren, auch dank der Kooperation mit Drehbuchdialog-Größen wie Aaron Sorkin („Steve Jobs“, 2015) und Richard Curtis („Yesterday“, 2019). Seine beiden Streamingserien, jene über den Getty-Sohn sowie die Sex-Pistols, hat ja keiner gesehen. Das Comeback ist ihm zu wünschen. „28 Years Later“ beweist wieder einmal, dass Boyle beides ist: ein Schauspieler-Regisseur und ein Effekte-Regisseur.

Für seine Regie-Nachfolgerin Nia DaCosta, die den zweiten Teil „Bone Temple“ derzeit filmt, hat er ein vergiftetes Geschenk hinterlassen. „Years“ endete mit einem Fight, der derart Camp wirkt, als hätte das Cobra-Kai-Dojo die Dreharbeiten gekapert. Dieses Personal wird im „Bone Temple“ zu sehen sein. Mit denen darf sich dann Cillian Murphy herumplagen, der als Jim zurückkehrt.