Exklusiver Auszug aus „Shoot `em in the Head“: eine Film- und Seriengeschichte der Zombies“ – Michael Jackson und die Video Nasties

Wie Zombiefilme in den frühen 1980er-Jahren ein ganzes Land verrückt machten – und wie Michael Jackson sie für sich zu nutzen wusste

Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Buch „Shoot `em in the Head“: eine Film- und Seriengeschichte der Zombies“ von ROLLING-STONE-Redakteur Sassan Niasseri (Schüren Verlag, 2023).

„SHOOT ‚EM IN THE HEAD: EINE FILM- UND SERIENGESCHICHTE DER ZOMBIES“

Die Anzahl aller bislang gedrehten Zombiefilme ist bis heute nicht bekannt. Auch deshalb nicht, weil es keine Definition für dieses Monster gibt. Nicht alles, was «Zombie» im Titel trägt, ist ein Zombiefilm. Andersrum gilt: Nicht jeder Zombiefilm trägt den «Zombie» im Titel.  Allein eine «Zombie»-Schlüsselwortsuche in der Internet Movie Database (imdb), der größten Film- und Seriendatenbank, ergibt im Februar 2023 volle 4127 Treffer. Darunter fallen auch Werke, die man hierzulande nur schwer auftreiben könnte. Unzählige Filme sind in vielen Ländern nach Veröffentlichung indiziert oder beschlagnahmt worden, manche stehen bis heute auf dem Index, obwohl aktuelle Serien wie „The Walking Dead“ explizitere Darstellungen beinhalten als George A. Romeros „Zombie 2“. Das 1985 veröffentlichte „Verdammt, die Zombies kommen“ hat heute eine Altersfreigabe von nur 16 Jahren. Darin ist unter anderem zu sehen, wie ein Untoter den Kopf eines Menschen hohlmampft.

Viele Konsumgüter werden durch ein Verbot begehrenswerter. Auf Filme trifft das ganz besonders zu. Für Minderjährige ist es eine Mutprobe, das «Ab 18»-Siegel der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft GmbH (FSK) zu brechen. Indizierte Filme wiederum sind Sehnsuchtserlebnisse für Horror-Aficionados, weil sie dann Werke begutachten könnten, die eine Prüfstelle für unzumutbar hält. „Zombie“ und „Zombie 2“ steigerten in den 1980er-Jahren ihre Popularität, weil sie nicht verbreitet werden durften. Mit ihren Indizierungen erreichte die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz natürlich das Gegenteil ihrer Absicht, Filme aus dem Gedächtnis zu tilgen. Slasher-Freaks wollten jetzt erst recht wissen, was «Zombie im Kaufhaus» eigentlich sein soll.

In Großbritannien wurden viele dieser Werke unbeabsichtigt aufgewertet, indem sie eine Etikettierung erhielten. Fraglich ist, ob die britische National Viewers’ and Listeners’ Association (NVALA), eine Interessengruppe aus Lehrern, Elternverbänden, Sozialwissenschaftlern, Journalisten und religiösen Vereinigungen, ihrer Mission nicht allein deshalb schon schadete, weil sie einer Vielzahl von Horrorstreifen per Katalogisierung einen übergreifenden Namen gab: «Video Nasties». Aufgrund einer Gesetzeslücke durchliefen im Vereinten Königreich manche Filme keine Altersbewertung oder Zensurprüfung. Zwar kamen sie nicht ins Kino, aber die NVALA befürchtete Schlimmeres: Sie könnten auf VHS-Kassetten in die Hände von Kindern gelangen, wenn sie als «direct to Video»-Werke erscheinen.

George A. Romero will einen weiteren Zombie-Film machen.
George Andrew Romero (* 4. Februar 1940 in New York; † 16. Juli 2017)

Der Druck erreichte das Parlament. Die Regierung verabschiedete den Video Recordings Act 1984, ein Gesetz, das die Filmprüfstelle British Board of Film Classification (BBFC) zu einer Altersbewertung von Videofilmen verpflichtete. Als problematisch gelistet wurden zeitweise bis zu 82 solcher «Video Nasties». Ungewollt tat die NVALA mit ihrer beflissenen Aktenarbeit dem wissbegierigen Horrorfilm-Nachwuchs einen Gefallen. Nun wurde im UK erstmals schwarz auf weiß definiert, was man verbotenerweise unbedingt anzuschauen hat. 82 Streifen? Diese makabre Vorauswahl arbeiten wir ab. Von A bis Z! Die Auflistung erreichte auch deutsche Kinder und Teenager, die ebenso wild auf das Zeug wurden.

„Mama, Papa, Zombie – Horror für den Hausgebrauch“

Im Jahr 1984 wurde im ZDF eine Doku mit dem boulevardesken Titel „Mama, Papa, Zombie – Horror für den Hausgebrauch“ gezeigt, die vermeintliche Folgeschäden des Horrorvideo-Konsums bei Kindern und Jugendlichen diskutiert; wahrscheinlich bot diese Ausstrahlung die einzige Gelegenheit, Karin Tietze-Ludwig bei einer Anmoderation das Wort «Zombie» aussprechen zu hören. Der Reportage-Titel bezieht sich auf den kolportierten Erfahrungsbericht, «Zombie» sei das bereits dritte Wort gewesen, welches eine Dreijährige gelernt habe, also direkt nach «Mama» und «Papa», zurück- zuführen auf ihr Filmerlebnis mit einem Splatterstreifen.

Wie etliche ältere, unsere Moralvorstellungen, Erziehungsmethoden und auch Selbstzweifel behandelnden Dokumentationen hat Mama, Papa, Zombie eine gewisse BRD-Patina angesetzt. Sie fiel in die Helmut-Kohl-Jahre. Jede Sekunde erwartet man einen Schwenk in die Fußgängerzonen von Städten wie Hannover und den Anblick klotziger, grauer Kaufhäuser, davor Blumenkübel, vor denen sich ein Punk mit Irokesenfrisur und Stecknadel im Gesicht fläzt. Wir belächeln die in der Reportage vorgeführten Professoren in ihren zu engen Blazern, die Erzieher mit Schnauzbärten, jene in Jeansanzüge eingepackten Street Worker von 1984, vor allem die dogmatischen Mütter und Väter, die bei einer nachgestellten Elternkonferenz neugierig zusehen, wie die Lehrerin eine VHS-Kassette in die Schublade des Rekorders schiebt, um den Eltern mit der Bitte um anschließende Diskussion jenen Film vorzuführen, über den ihre Viertklässler in der Unterrichtspause reden. Die Eltern schauen sich „Ein Zombie hing am Glockenseil“ (1980) an und äußern am Ende die Befürchtung, ihre Kinder sprängen Mitschülern an die Kehle, falls sie solchen Gemetzel-Inszenierungen ausgesetzt seien und falsche Handlungsideale entwickelten. Nur ein Vater ist unbeeindruckt, bemängelt vielmehr «erzählerische Schwächen» in der «Ausarbeitung der Charaktere» von Lucio Fulcis Werk. Anscheinend hat er geglaubt, die Aufgabenstellung für ihn und die anderen Erwachsenen habe in einer Filmkritik bestanden. Heute wissen wir, dass die «Video Nasties» keine Staatskrise ausgelöst haben, dass die Kindergeneration keinen Kollektivschaden davongetragen hat.

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Allerdings ist „Mama, Papa, Zombie ein wichtiges Zeitdokument“. Eines, das heute kaum noch diskutierte Streitfragen behandelt, zumindest keine, die zu Vorlagen für Gesetzesänderungen im Jugendschutz führten. Paragrafen mit Zungenbrecher-Namen wie §4 Gjs oder §7 JÖSchG kannte damals jeder Videothekenbesitzer. Die Gesetzesvorgaben bedeuteten, dass Videothekare ihre Läden dichtmachen müssten, würden sie nicht-jugendfreie Filme offen anbieten, also im für alle Kunden zugänglichen Bereich.

Für Minderjährige wurde ein roter Vorhang zur neuen Grenzmarkierung, dahinter gab es nicht nur Pornos, sondern eben auch die Gewaltschocker. Außerdem wurden Videothekenbesitzer verpflichtet, auf den Kassettenhüllen eine Alterskennzeichnung durch verschiedenfarbige Punkt-Aufkleber vorzunehmen: Ein grüner für Filme ab sechs und zwölf, ein blauer für solche ab 16, und einen roten Punkt bekamen Filme für Erwachsene. Ab 1985 zierten jene heute bekannten, größeren Sticker mit den FSK- Altersangaben 0, 6, 12, 16 und 18 die Hüllenvorder- oder -rückseiten.

Allein 1984 wurden, wie „Der Spiegel“ berichtete, nach «flächendeckenden Großaktionen» in Videotheken an Rhein und Ruhr gegen rund 700 Videothekare, die sich nicht an die Verleihregeln hielten, Ermittlungsverfahren eingeleitet. Augenscheinlich wussten Videothekenbesitzer die Überwachungs-Panik für ihr Geschäft zu nutzen. Ich wuchs in einer norddeutschen Kleinstadt mit 24.000 Einwohnern auf, und um 1984 herum gab es dort bereits drei Videotheken sowie sechs Supermärkte oder Hi-Fi-Läden, die Video-Ecken einrichteten, improvisierte Abteilungen, abgetrennt durch den Vorhang. Sogar mein Friseur stellte irgendwann diese klobigen, verrauchten Videobuchhüllen, die den Kassetten einen ehrwürdigen Hauch von Ledereinbänden verleihen sollten, in seine Regale. Als Werbeträger für Video-Home-Systeme sind Friseure perfekt, man kann nicht wegrennen, sobald sie anfangen zu Schnippeln und dabei ihr Sortiment runter- beten. VHS war für meinen Coiffeur kein Nebengeschäft mehr, sondern eine nicht zu unterschätzende Einkommensquelle.

Nahezu alle diese mehr oder weniger professionellen Videothekare in meiner Stadt warben in ihren Schaufenstern mit dem Zombie-Kinoposter, also einem Film, den sie gar nicht zur Ausleihe anbieten durften. Aber wenn man draußen das Plakat sah und dann seinen Weg in den Laden gefunden hatte, blieb man eben an den VHS-Hüllen anderer Streifen hängen.

Auch Politiker, Gewaltforscher und vor allem Zensoren kommen in Mama, Papa, Zombie zu Wort, deshalb bietet der Film unbezahlbare Einblicke in die Arbeit von Prüfern der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (heute Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz). Drei vor der Kamera eher unsicher sprechende Menschen um die 30, zwei Frauen und ein Mann, begutachten „Muttertag“ (1980) und kommen in ihrem inszenierten Arbeitsgespräch zu dem Schluss, dass der Film eine Indizierung verdiene, weil die «Tendenz» vorhanden sei, «die Gewalt der zwei Mädchen am Schluss sei gerechtfertigt». Eine exzentrische, keinesfalls bei korrekter Deutung der Handlungsentwicklung zutreffende Einschätzung, agieren die zuvor entführten zwei Film-Mädchen gegenüber ihren Peinigern doch in Notwehr. Durch die Arbeit solcher Prüfer, und seien sie nur übermotiviert durch unnötigen Perfor- mancedruck für die Zuschauer, entstehen folgenschwere Beschlüsse. Folgenschwer für Filmemacher, deren Werke nicht mehr vertrieben werden können, folgenschwer für Zuschauer, denen etwas entgeht.

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„Mama, Papa, Zombie“-Regisseur Claus Bienfait ging in Klassenzimmer und filmte Kinder, die auf die Lehrerfrage «Wer von euch weiß, was ein Zombie ist?» begeistert mit den Fingern schnipsten. Er ging ins Jugendzentrum, wo er Heranwachsenden, denen der erste Oberlippenflaum wuchs, ein dickes Mikro mit überdimensioniertem, Hitparaden-verdächtigen Popschutz unter die Nasen hielt. «Action, Neugierde und Spannung», gaben die einander wegdrängelnden Kids zu Protokoll, deshalb schauten sie Zombiefilme.

Manche Verteidiger des direkt per Heimvideo distribuierten Horrorfilms, darunter der Geschäftsführer einer Filmproduktionsfirma, berichten von finanziellen Einbußen durch Verbote, navigieren aber hart am Rande der Verschwörungserzählung. Politiker, sagt einer aus der Video-Branche, würden das VHS-Grusel-Geschäft per Gesetz einschränken und Leuten wie ihm schaden wollen, damit sie das parallel erblühende Privat-Kabelfernsehen fördern könnten.

Der Pädagoge Joachim H. Knoll vernichtet die Zombies mit einem Postulat: «Horrorfilme führen Brutalität vor, die menschlicher Würde zuwiderläuft. Mitleid und Erbarmen, Hilfsbereitschaft und Zuneigung, alles wichtige Faktoren im menschlichen Zusammenleben, kommen in diesen Filmen überhaupt nicht vor. Gewalt wird als Lustprinzip verherrlicht, Gewaltlosigkeit als Feigheit denunziert.»

Der heute emeritierte Professor schlägt einem solche Sätze regelrecht um die Ohren. Da möchte man sich fast für die eigene Kindheit, geprägt von Video-Blutbädern, angeschaut ohne elterli- che Erlaubnis, schämen.

Knoll scheint ein Vertreter der Lerntheorie zu sein, nach der das Gesehene in sozial unerwünschtes Verhalten, also Aggressionen umgewandelt wird. Demgegenüber steht die Katharsistheorie, nach der Filmfiguren unsere Stellvertreter sind, die unsere Aggressionen für uns ausleben.

Allerdings trifft Knoll auch eine pointierte Einschätzung: «Kindern und Jugendlichen werden in der neuen Medienwelt Antworten auf Fragen gegeben, die sie gar nicht gestellt haben.»

Diesen Satz sollte man sacken lassen.

Der Professor hat recht.

Gäbe es keine Horrorfilme, würden sie uns wahrscheinlich nicht fehlen.

Nur, wer kann schon mit Gewissheit voraussagen, welche Eindrücke die kindliche Fantasie fördern und welche Eindrücke der kindlichen Fantasie schaden? Splatter gibt es nicht nur im Horror-Genre. Schauen wir einmal auf die Märchen, die wir dem Nachwuchs vortragen, über unzählige Generationen hinweg. Kann die «Befreiung» Rotkäppchens und ihrer Groß- mutter aus dem Bauch des bösen Wolfs ohne Blutvergießen abgelaufen sein? Das Mädchen befand sich mindestens eine Nacht im Verdauungstrakt des Tiers. Oma noch länger. Wie sieht jemand aus, den man dann aus einem Magen zieht? Die Brüder Grimm gehen nicht ins Detail. Aber Kinder stellen Fragen: «Wie kamen die Menschen denn aus dem Bauch heraus? Wie geht Befreiung?» Schon müssen Eltern in ihrer Erzählung improvisieren. Gewalt ist Bestandteil fast aller Märchen.

Die heimischen Medien standen ebenso ratlos vor der Frage, wie mit den «Video Nasties», für die es im Deutschen keinen Listennamen gab, umzugehen war. Mit einer Mischung aus Faszination, Abscheu und trotziger Ironie widmete sich „Der Spiegel“ den Zombiestreifen und titelte ungelenk «Zum Frühstück ein Zombie am Glockenseil»; der Heimvideo-Boom habe den Genres, in denen viel Blut fließt, beeindruckende Umsatzzahlen beschert. 45 Prozent aller Verkaufs- und Verleiherlöse, ermittelte das Magazin, entfielen 1984 auf Horror, Krieg und Action. Und vieles davon sähen auch Kinder, und das schon, wie der Artikel in seiner Überschrift vermeldet, «zum Frühstück». Daraus spricht die Angst, Kinder könnten sich selbst ein Trauma zufügen.

Erst das Netzzeitalter ermöglicht jedem jungen Menschen mit hinreichend intuitivem Technikverständnis den Zugriff auf Gore in Sekundenschnelle

Allerdings stammen solche Berichte aus einer anderen Medienkonsum-Ära. Einer, in der noch Hoffnung bestand, die Kleinen komplett von Gewaltbildern fernhalten zu können. Es gab damals kein kommerzielles Internet, nur Zeitschriften und Fernseher, und über den Fernseher wachten Mama und Papa. Erst das Netzzeitalter ermöglicht jedem jungen Menschen mit halbwegs ausgebildetem, hinreichend intuitivem Technikverständnis den Zugriff auf Gore in Sekundenschnelle, mit Geräten, die in Hosentaschen passen, und ohne Interventionsmöglichkeiten für die Eltern.

„Der Spiegel“ lässt vor allem Haupt- und Sonderschullehrer von zunehmender Gewalt auf den Schulhöfen berichten, anscheinend vermutet das Heft einen Zusammenhang zwischen Fernseherlebnis, Bildung und Brutalität. Es resümiert jedoch: «Welche langfristigen Auswirkungen wachsender, vielleicht gar bis zur Sucht gesteigerter Videokonsum auf Familie und Gesellschaft, auf Psyche und Verhalten von Kindern und Eltern haben mag, bleibt einstweilen reichlich nebelhaft.» Und das ist bis heute so geblieben.

Die meisten der Werke sind in Deutschland (und Großbritannien) heute unzensiert im Handel oder finden sich auf digitalen Kinderspielplätzen wie YouTube zur freien Ansicht. Aber der Zauber der «Video Nasties» hat etliche älter gewordene, einstige «Kassettenkinder» nicht losgelassen. Mit Censor kam 2021 ein britischer Film über die «Video Nasties» ins Kino. Eine Zensorin meint bei der Überprüfung eines Horrorstreifens eine echte Aufnahme vor sich zu sehen – das Verschwinden ihrer als vermisst geltenden Schwester.

„Night creatures call / and the dead start to walk in their masquerade“

Im Dezember 1983, ein halbes Jahr vor Verabschiedung des britischen Video Recordings Act 1984, feierte auf der anderen Seite des Atlantiks ein Zombiekurzfilm seine Premiere. Er dauerte 14 Minuten, wurde im US-Fernsehen gezeigt und präsentiert die vielleicht eindrucksvollsten, also schauerlichsten Untoten.

Michael Jacksons Musikvideo zum Song «Thriller» richtete sich keineswegs an ein Nischenpublikum. Es sollte so viele Menschen wie möglich gleichzeitig schockieren wie begeistern und die Verkäufe zum gleichnamigen Album ankurbeln. Mit Kosten von 500.000 Dollar war Thriller das bis dahin teuerste Musikvideo aller Zeiten und setzte bis ein Jahr nach Erscheinen knapp eine Million Einheiten auf VHS ab – ein Rekord.

Michael Jackson war ein Fantasy- und Horrorexperte. Er liebte den „Weissen Hai“ und bearbeitete seinen Freund Steven Spielberg so lange, bis er das Audiobook für dessen „E.T. – Der Ausserirdische“ einsprechen und ein Lied aufnehmen durfte, «Someone in the Dark», in dem der Alien im Hintergrund krächzt. Im «Can You Feel It»-Video seiner Band The Jacksons feuerten er und seine Brüder mit Blitzen herum, die so klangen wie die Laserstrahlen aus „Krieg der Sterne“.

Jackson ahnte, dass er nicht zum Schauspieler geboren war, aber er wusste, was zu tun ist, um dennoch in Musik und Film Ansagen zu machen. Zombies waren 1983 noch immer die Monster der Stunde. Er hätte George A. Romero als Regisseur anfragen können, vielleicht tat er das auch. Wenn ja, dann erfolglos. Mit John Landis verpflichtete er stattdessen einen Filmemacher, der mit „American Werewolf“ (1981) ein genauso witziges wie furchteinflößendes Werk über einen amerikanischen Touristen gedreht hatte, der im Vereinten Königreich gleichzeitig mit den Londonern sowie einer Infektion mit dem Wer-Virus klarkommen muss. Und es gab auch Untote in Landis’ Film, sie schrien ohrenbetäubend schrill, trugen Nazi-Uniformen und schossen aus Uzis.

Der Lupus sah bombastisch aus, unübertroffen bis heute, die Masken, vor allem die Kontaktlinsen der Werwolf-Darsteller, machten Angst. Augen sind, Sinnspruch hin oder her, zumindest im Horrorfilm das Fenster der Seele: David Naughtons Make-up in der Traumsequenz im Wald, als Jenny Agutter sich über den bettlägerigen Infizierten beugt, verantwortet den härtesten aller Jump-Scares – an ihn reichen höchstens noch Captain Howdy/Pazuzu in „Der Exorzist“ und Danny Glick in „Brennen muss Salem“ heran. Einen recht frühen Kontrapunkt zur Augen-Hysterie setzte Roman Polanski 1968 in „Rosemaries Baby“. Der frisch entbundenen Rosemarie (Mia Farrow) steht das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als sie ihren Säugling das erste Mal sieht. Aber Polanski verwehrt uns den Gegenschuss auf den kleinen Adrian, den wir daher nie werden begutachten können, und zitiert lediglich den brillanten Dialog aus Ira Levins Romanvorlage. «Was habt ihr mit seinen Augen gemacht!», schreit Rosemarie die Satanisten an. Einer antwortet stolz: «Er hat die Augen seines Vaters.»

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Michael Jackson führte nun die lebenden Leichen in den Pop ein. Er ließ sie zu seiner Musik tanzen. Zwischen Romeros Zombie und Thriller lagen gerade mal fünf Jahre, und die Dreharbeiten zu Zombie 2 lagen noch in weiter Ferne. Dennoch muss der Jackson-Clip die Romero-Crew beeindruckt haben. Zombie-Maskenbildner Tom Savini gilt als künstlerischer Freidenker, aber seine 1985 in Zombie 2 präsentierten gräulichen Masken mitsamt ihrer verwucherten, ausgebeulten Gesichtsknochen und riesigen vorstehenden Gebisse kamen einem bekannt vor. Sie ähnelten denen von Thriller-Designer Rick Baker, der schon den „American Werewolf“ kreiert hatte.

Vielleicht trug Jackson etwas zu dick auf, indem er beschloss, sich im Laufe der 14 Minuten nicht nur in einen Werwolf, sondern auch in einen Zombie, und am Ende wieder zurück in einen Menschen und dann erneut in einen Werwolf zu verwandeln. Mit diesem Schaulaufen wollte er zwei der drei populärsten Monster würdigen. Im Gegensatz zur Darstellung des Zombies war die des Lykanthropen jedoch sensationell missraten. Das Tier sieht, verglichen mit Bakers vorangehender American Werewolf-Schöpfung, erbarmungswürdig aus, wie eine Perserkatze mit Baseballjacke. Werwölfe gehören außerdem auf vier, nicht auf zwei Beine. Viele Filmemacher lassen die Viecher nur aus einem Grund aufrecht laufen: Weil unter ihrem Kostüm ein Mensch steckt, der «Man in a suit». Das ist billiger und unkomplizierter, als am Boden eine Puppe zu animieren, die wie ein Wolf sprinten soll und es doch nicht könnte. Und ein Mensch, der sich auf Händen und Füßen fortbewegt, sähe einfach nicht bedrohlich aus. Keiner kann so rennen. Deshalb der «Man in a suit» auf zwei Beinen. Gut möglich, dass auch Jackson befürchtete, sich im Vierfüßlerstand lächerlich zu machen.

Mit Horrorfilm-Legende Vincent Price hatte Jackson für «Thriller» einen Sprecher engagiert, der das Lied mit einem als «Rap» betitelten Gedicht zu seinem Ende führt. Bei den Worten «The foulest stench is in the air / the funk of forty thousand years / and grizzly ghouls from every tomb / are closing in to seal your doom» buddeln sich die Untoten in Landis’ Video aus ihren Gräbern (was sie in keinem der sechs Romero-Zombiefilme tun).

Die Kooperation mit Price war eine weitere schlaue Maßnahme des 25-Jährigen Jackson. Im Clip vereint sie Vintage-Grusel aus dem Munde des einstigen Gruseldarsteller-Königs mit den State-of-the-Art-geschminkten Monstern. Wenn der erfolgreichste Popstar der Welt glaubte, mit den abstoßendsten Ungeheuern einen Reibach machen zu können, ein Millionenpublikum zu erreichen – wer sollte ihm da widersprechen?

Thriller ist kein «Video Nasty», es gibt darin kein Blutvergießen, bietet nur sanften Grusel. Aber es liefert eine Wendung. Als in Großbritannien die VHS-Zombies verboten werden sollten, war es Michael Jackson, der mit seinen Dance-Zombies die Lücke im Schubfach des Videorekorders wieder füllte.

Schüren Verlag
Michael Tullberg Getty Images

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