Kritik: Peter Gabriel live in Berlin – Wo Papa der Sledgehammer sein darf

Gabriel ist und bleibt ein enigmatischer Künstler. Und zwar ausgerechnet vor allem für die, die ihn am meisten lieben wollen – das sind wir, die Hardcore-Genesis-Fans, die „Lamb lies down on Broadway“-Jünger, die, die seinen Ausstieg nie wirklich überwunden haben.

Mein Konzertmoment für die Ewigkeit, also jener Augenblick, den man für immer gespeichert hat, mit allen Sinnen, von dem man nicht nur weiß, was man gesehen und gehört hat, sondern auch, wie es roch und sich anfühlte: Wir sind in der Kölner Sporthalle, es ist Freitag, der 19. Juni 1987. Das Saallicht ist erloschen, alles ist schwarz, angespannte und totale Stille, die sich plötzlich in ekstatischem Jubel entlädt. Noch bevor der Künstler auf die Bühne tritt, ist seine Präsenz auf irritierende, irrationale Art spürbar. Es ist eine fast physische Verbindung zwischen Peter Gabriel und seinem Publikum: vor der ersten Note, vor dem ersten Wort, gegründet nur dadurch, mit Gabriel in einem Raum zu sein. Nie mehr, bei hunderten Konzerten danach, weder bei ihm noch bei anderen, habe ich etwas Ähnliches erlebt. Vielleicht: erleben dürfen.

36 Jahre später ist es taghell, das Konzert beginnt um 19 Uhr. Es wird zweieinhalb Stunden dauern, also zu einem selbst alle Tücken des typischen Waldbühnen-Auslass-Dramas und des öffentlichen Nahverkehrs berücksichtigenden, babysitterablösefreundlichen Zeitpunkt enden. Peter Gabriel auf „i/o“-Tour. Family Business ohne Family. Wo Mama mal schön zu „Solsbury Hill” abhotten kann. Und Papa der Sledgehammer ist.

Hilfe! Ist das tatsächlich Gabriel?

Nein. Wir kommen noch zu „Solsbury Hill“ und „Sledgehammer“, aber jetzt erhebt eine der in (nur in Berlin lustig) Orange gekleideten Bühnenwuselpersonen die Stimme, erzählt in brüchigem Deutsch irgendetwas darüber, was man heute zu erwarten hätte, und da dämmert es schon einigen: Ist das, also, könnte das, dieser Mann da, ist er das, also, ER? Ja. Gabriel kommt nicht auf die Bühne. Er ist schon da. Das ist schräg und irrsinnig sympathisch.

Er zieht die Mütze vom Kopf, jetzt erkennt ihn jeder. Tony Levin kommt auf die Bühne, mit einem Monstrum von Bass. Gabriel fuhrwerkt ein bisschen herum, legt sich ein Keyboard auf die Knie und dann singt er das Lied von der Flut, auf deutsch. „Ja, jetzt kommt die Flut“, diesen Übersong, ursprünglich auf Robert Fripps „Exposure“-Album, in der Übersetzung von Horst Königstein. Der ist nun auch schon lange tot. Laurence, meinem Lichtgeniefreund, der extra aus London eingeflogen ist, stehen die Tränen in den Augen. Allein für diesen Song hat sich die Reise gelohnt Klar. Gabriel.

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Wieder zurück nach Köln. Peter Gabriel, damals 37, erlebte den dritten und erfolgreichsten Abschnitt seiner Karriere. Die Genesis-Jahr lagen fast ein Jahrzehnt zurück. Aus dem scheuen Leptosomen, der aus Furcht vor dem Publikum in Kostüme und Masken schlüpfte, der die obskuren Geschichten der Songs mit noch bizarreren Geschichtchen erklärte (um den Musikern Zeit zu geben, ihre komplizierten Werkbänke zu justieren) und dessen Ausstieg aus der Band das gerade erst erfundene Genre des Progressive Rock erschütterte, war ein Konsens-Künstler geworden. Nach vier düsteren, teilweise ruppigen Alben („I“ bis „IV“) und wirtschaftlichem Totalschaden im Kampf um eine bessere Welt, war „So“, 1986 erschienen, das Coffeetable-Album des Jahres. Live hielt Gabriel die Balance. Das Frühwerk dominierte, die neuen Hits stachen etwas fremdkörperlich – und doch vom deutlich erweiterten Publikum bejubelt – hervor.

2023 wagt Gabriel ein spektakuläres Experiment. Neue Songs dominieren die Setlist. Immerhin: Die Hälfte davon kennt man – wenn man denn ein Supernerd ist – von Gabriels Website, auf der Lieder des kommenden Albums „i/o“ zu jedem Volllmond vorveröffentlicht wurden. To be honest: das nervt. So machen es doch nur Rapper, sagt Thomas, mein ältester Freund und Labelboss von „Inside Out“. Der Typ, dem Steve Howe von Yes blind vertraut. Und er hat Recht: Wir wollen wissen, was wir hören werden. Mitsingen, mitfühlen. Die Sicherheit des gemeinsamen Ablaufs haben. Fünf neue Songs, so hatten die Diskutanten im Genesis-Forum „it“ spekuliert, würde der Meister wohl wagen. Aber zehn? Die Hälfte der Stücke der Gesamtshow? Was erlauben Gabriel?

Peter Gabriel (li.), mit Band

Gabriel ist und bleibt ein enigmatischer Künstler. Und zwar ausgerechnet vor allem für die, die ihn am meisten lieben wollen – das sind wir, die Hardcore-Genesis-Fans, die „Lamb lies down on Broadway“-Jünger, die, die seinen Ausstieg nie wirklich überwunden haben. Von dem, was wir verehren, das große Pathos, dass aus Schmerz und Düsternis erweckt wird, die musikalische Nervosität, die sich in gewaltiger Coda entlädt und die skurrilen Miniaturen, entfernte er sich immer weiter. Wie seine Nemesis Phil Collins forschte er immer tiefer in der amerikanischen Soulmusik und ihren Instrumentierungen, verknüpfte sie mit vor allem afrikanischer, rhythmusgetriebener Ethnomusik und kaltem New Wave. Jaja. Künstler entwickeln sich, das muss so sein (wenn auch nicht unbedingt so wie seine alte, in den Achtziger zur Kirmespolkatruppe verkommene Band). Für diejenigen, die zurückblieben – oder sagen wir doch gleich: hängenblieben – ist das nicht leicht.

Das Publikum in Berlin ist divers. Und das hat nichts mit Geschlechteridentifikation zu tun. Wie Caesar sagen würde: Auditores in tres partes divisus est – so viel großes Latinum muss sein, wir sind hier ja nicht bei Def Leppard. Also: Ein Drittel Heritage-Fans – ihr Lieblingsalbum ist „The Lamb lies down on Broadway“. Ein Drittel „So“-Nostalgiker – sie halten „Don’t give up“ für den besten Song aller Zeiten. Und ein Drittel Leute, die einfach mal gerne an einem lauwarmen Vorsommerabend in die Waldbühne gehen und bereit sind, sechs Euro für ein Bierchen zu zahlen. Gabriel verlangt allen drei Gruppen viel ab. Die alten Fans bekommen nur „Solsbury Hill“ (was sie verachten) und „Biko“ (was sie schon sehr, sehr gut kennen). Die „So“-Leute müssen sich durch die neuen Songs quälen, bis sie endlich von der Bläser-Fanfare erlöst und zum Schulterwiegetanz animiert werden. Das dritte Drittel zahlt halt sechs Euro für ein Bier.

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Nur zwei offizielle Studioalben veröffentlichte Gabriel nach „So“, auch die Tourneen wurden seltener. Bis zur Jahrtausendwende waren sie fast theaterhafte Ereignisse, viel versponnener und traumwandlerischer als die opernhaften Genesis-Shows. Das waren wunderschöne Bilder: Die Band, wie auf einem Boot über die Bühne rudernd, Gabriel in einem riesigen Ballon. Dennoch legte sich ein Agout von gepflegter Langeweile über die Live-Auftritte. „Manufactum“ als Konzert, so in der Art. Später lotete Gabriel aus, wie es wäre, einen oder zwei Schritte zurückzugehen. Doch in der Retro-Tour mit Schwerpunkt auf seine ersten Alben wirkte er, sichtlich gealtert und wohlgenährt, wirkte er wie ein Fremdkörper im eigenen Werk. Das war der Punkt, an dem wir alle einsehen mussten, dass es auch keinen Weg mehr zurück zu Genesis geben würde. Steve Hackett, der Lordsiegelbewahrer der Band, sagte mir: „Stell dir Peter heute mal als Rael vor – unmöglich!“ Und er hatte Recht. Gabriel war kein Rebell mehr, erst Recht nicht der puertoricanische Punk aus der „Lamb“, sondern ein saturierter Großmeister, ein Lieblingsmensch, ein Onkel.

Er hat abgenommen, das ist schonmal gut. Und er hat ausgezeichnete Laune. Redet viel, in seiner Version von Deutsch (und am Abend zuvor Französisch in Paris), das hat im Pathos fast etwas vom „Traumtheater“-Chef Harry Owens, geht viel um Visionen, Wünsche und Gedanken. Alles sehr supernett, da wünscht man sich schon mal den zynischen Gabriel zurück, den von „Not one of Us“ oder „Intruder“, den Exzentriker aus „I have the touch“ oder den Hohepriester von „Lay your hands on me“ – aber all das ist Geschichte und wir wussten das ja auch. Gabriel hat seine Rolle gefunden. Er ruht in sich und im vollem Vertrauen auf seine Band – im Kern natürlich Tony Levin, David Rhodes und Manu Katché, ergänzt durch Josh Shpak (Blasinstrumente) und den streichenden (!) und backgroundsingenden (!) Marina Moor und Ayanna Witter-Johnson. Wobei letztere bei ihrem Duett-Einsatz („Don’t give up“) ein ganz großes bisschen zu viel auftrug – die originale Prekrariatsballade lebt ja vor allem von Kate Bushs un-manieristischem und sehr ehrlich nachempfundenen Gesang.

Überhaupt, „So“ ….

Vor zehn Jahren brachte Gabriel, ganz nach der damals beginnenden Mode der Ewig Großen, sein Album „So“ tutti completti auf die Bühne. Das Ergebnis dieser Sommerabende (auch damals spielte er schon in der Waldbühne) war durchwachsen. Sicherlich für viele ein angenehmer Dip in lauwarme Nostalgie, aber eben auch nicht mehr. Dann war Pause, bis auf ein paar Konzerte, die Gabriel 2016 mit Sting in Nordamerika spielte.

Die „i/o“-Tour stellt Gabriel nun wieder in einen weiten Fokus, so wie vielleicht tatsächlich zuletzt Ende der Achtziger Jahre. Und er – und seine Band – bestehen den Test. Das liegt einerseits an dem unverwüstlichen „So“-Material, andererseits aber auch an Gabriels bis hoch in die Ränge jeder Arena fassbaren Charismas, dass das wirklich hammerharte Wagnis, mit einem fast komplett unbekannten Album auf Tour zu gehen, nicht ganz mühelos, aber souverän trägt. Die Songs sind stark, allen voran „Panopticum“ und „Four Kinds of Horses“ für die Traditionalisten und „Love can heal“ für deren Frauen. Letzteres habe ich nicht wirklich geschrieben. Ehrenwort.

Am Ende kommt, wie erwartet, erhofft, nicht anders vorstellbar, die große Hymne auf den 1977 in südafrikanischer Haft ermordeten Freiheitskämpfer Stephen Biko. Sie ist stets der Schlusspunkt im Set. Gabriel war schon ein politischer Künstler, als Roger Waters noch Alben über eine Erkältung schrieb, lange, bevor er aus seinen Konzerten Agitprop-Workshops mit Musikbegleitung machte … Allerdings: Ein Aufruf an die BBC, den ESC in Israel zu boykottieren, unterschrieb auch Gabriel 2019, das brachte ihn in die Nähe des antisemitischen BDS, ebenso eine Neuauflage des Songs, den seine Band nun zum Finale spielt.

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2023 aber wird „Biko“ wieder in seiner ursprünglich klaren, sehr authentischen Fassung dargeboten, die in bewusst einfachen Worten die Geschichte von Stephen Bikos Tod erzählt und ihre Überhöhung durch kongeniale Musik erfährt: Im besten Sinne ein Lied gegen das Vergessen.

Ein Musiker nach dem anderen, auch das ist Tradition, verlässt die Bühne. Nur noch der Rhythmus bleibt, einem schlagenden Herzen gleich. Und wieder ist der eindrücklichste Moment des Abends derjenige, an dem man Peter Gabriel gar nicht mehr sieht, aber spürt, dass er da ist.

Hannes P Albert picture alliance/dpa
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