Ladehemmung für das Album

Beschleunigte Zeit: Band um Band wird durchs globale Dorf getrieben, Musik ist allgegenwärtig, schnell verfügbar und bisweilen kostenlos. Die Entwertung eines Kulturgutes oder die Reduktion aufs Wesentliche? Trotz Downloads und sinkender Verkaufszahlen: Großartige Alben hat dass sie die Texte liefern könnten. Aber sie haben mich davon überzeugt, es selbst zu tun. Sie haben das neue Jahrtausend dennoch zu bieten.

Ewige Hoffnung von Journalisten und anderen Vereinfachern ist es ja, dass das kalendarische Ende einer Dekade auch inhaltlich eine brauchbare Wegmarke darstellen möge. Selten erfüllen die Zeitläufte diesen Wunsch, was freilich keinen Menschen besonders stört. Wir vier Jungs vom lokalen Indierock-Kollektiv „Supergabi“ jedenfalls, mit unseren knallengen T-Shirts aus dem Münchner Kleidermarkt und schiefen Slacker-Frisuren, bemerkten das neue Jahrtausend erst im Jahr 2001.

Bevor in New York die Weltordnung in Scherben ging, kam von dort in diesem Jahr mit den Strokes und ihrem „Is This It“ eine Erschütterung über Ohrenhausen, die uns unvorbereitet traf. Müde hatten wir zuvor mitangehört, wie in Großbritannien das Britpop-Ding im Pathosmatsch verebbt war, wie es sich zuletzt als „Quiet is the New Loud“-Splittergruppe selber leise gedreht hatte. Einer von uns, Jochen, hatte sich im Radiohead-Universum verloren und war wie seine Lieblingsband mit komplizierter Dekonstruktion beschäftigt. Langeweile lag über den Gratis-CDs der Musikzeitschriften, die genauso schnell Mode geworden waren wie die Rockfestivals, die alle Wiesen in Krater verwandelten. In diese Lethargie brach das dumpfe, später einer Garage zugeschriebene Geräusch, mit dem die beiden Gitarren der Strokes und Julian Casablancas‘ Stimme unvergleichlich lässig voran stampften. Wir hörten das Album zwei Wochen lang, dann fetzten wir unsere Die-Sterne-Poster von der Bandraumwand, schrieben alle Texte auf Englisch und trugen wieder Chucks statt Puma. Der enorme Widerhall der Strokes macht sich bis heute in Form einer Springflut an „The“-Bands deutlich, deren „NewRock“ von Schweden (Mando Diao) bis Neuseeland (The Datsuns) ähnliche Komponenten aufweist: Enorme Jugend bei gleichzeitig maximaler Unbekümmertheit der Protagonisten, weitgehend unpolitisches, mehr hedonistisches Sendungsbewusstsein und ein undogmatischer Umgang mit der Rockhistorie. Das Album als Gesamtkunstwerk hatte bei diesem Programm keinen besonderen Stellenwert. Schon „Is This It“ war bei aller Brillanz mehr Songsammlung als ganzheitliche Wunderkammer. Die knallende Single war in ihrem Wesen der „The“-Fraktion viel näher als die Langstrecke.

Die Lethargie war also weg, dafür wurde es jetzt stressig. Supergabi gaben ihr erstes und letztes Konzert, danach gründeten wir ein DJ-Kollektiv, das schien uns logistisch einfacher. Allerdings hatten wir viel mehr zu tun, um dabei auf dem neuesten Stand zu bleiben. Es vergingen zwischen 2003 und 2006 kaum zwei Wochen, in denen in England nicht eine brutale Hitsingle veröffentlicht und die dazugehörige Rotzlöffel-Band durch London getrieben wurde, um sie schließlich an der ersten Albumlänge scheitern zu lassen. Und die Menschen, die mittwochabends im Münchner Atomic Cafe zu unseren Vorschlägen tanzten, wollten immer die allerneuesten dieser Knaben. Unsere Hit-Radare rotierten deswegen wie die Ventilatoren im Jahrhundertsommer ’03. Die Plattenkoffer quollen über vor geheimsten Wochen-Hits. Die Koffer konnten auch regelmäßig ausgemistet werden, denn wenige der gehypten Rockbands verdienten mit ihrer dritten Single noch Würdigung. Wenige verdienten überhaupt noch etwas.

Der Fortschritt der Web-Bandbreiten und das herzverfettete Stillhalten der Musikindustrie hatten zu einem Musikalien-Tauschhandel im Netz geführt. Die unübersichtlich vielen Nachfolger der revolutionären Napster-Idee (1999!) beförderten Musik schneller als erwartet zur digitalen Palettenware und räumten mit zwei Hürden auf: Dem VÖ-Datum und der Kasse. Schon rein technisch kam es im Zuge dieser Umwälzung mehr auf den einzelnen Song als auf das Album an. Wer wenig Platz und langsames Netz hatte oder bei iTunes 99 Cent pro Lied zahlte, pickte sich nur die besten Stücke heraus. Wer dagegen mit offenem Visier Tonnen von Musik auf seinen MP3-Player stapelte, interessierte sich wenig für fahrer jobbte, konnte sich mit gewissem Stolz

die vom Künstler gedachte Ordnung der Lieder, baute eigene Playlists oder hörte sich im Shuffle-Modus durch eine Bibliothek von Einzeltiteln.

Irgendwann in dieser Zeit muss es auch gewesen sein, dass wir verliebt waren und erstmals keine Mixkassette nutzten, um der betreffenden Madame unsere Liebe zu beweisen. Wir machten CDs. Und heute denken wir in solchen Fällen darüber nach, gleich einen fertig bestückten MP3-Playerzu verschenken. Ein Mixtape mit 400 Songs.

Das Album war also am Beginn des neuen Jahrtausends schwer angezählt und damit die Idee, dass es mit ihm auch im Popkontext so etwas wie eine Sinfonie geben könnte. Aber ganz vorbei war es noch nicht. Jenseits der Gitarrenschlacht standen wir immer wieder im kleinen Laden des Hausmusik-Labels und wühlten uns eingeweiht durch eine durchaus sinfonische Strömung zeitgenössischer Musik. Schließlich: Der epische Postrock, der sich seit Mitte der Neunziger zwischen Weilheim und Chicago um Soundcollagen aus Jazz, Rock und Elektronik kümmerte und die Identität neuer Popmusik zwischen moderner Kakophonie und ebenso moderner Reduzierung suchte, erfuhr 2002 mit Notwists „Neon Golden“ seinen funkelnden Schlusspunkt. Das vielspurige Meisterwerk trägt nicht nur einen schlichten Kreis auf dem Cover, es ist auch in sich von atemberaubender Geschlossenheit und holte die Hörer an den verschiedenen Schnittstellen ihrer Begeisterung ab. Albummusik, gemacht auf Apfelcomputern.

Was vom Notwistschen Meisterstück blieb, war das Modell des Kollektiven im Indie, das sich schließlich vor allem in Toronto im Zuge einer Post-Folk-Bewegung fortsetzte. Zu dieser Musik konnte man nicht mehr so gut tanzen, was sich fein traf. Unser DJ-Kollektiv war nämlich aufgelöst, wegen sich abzeichnender Differenzen. Auf das, was aus Kanada kam, konnten wir uns aber alle noch einigen, Radiohead-Jochen genauso wie Mario, der zu den Wurzeln des Country aufbrach, und ich, der nach dem perfekten Popsong suchte. Namentlich im Gefolge der Exilamerikaner von Arcade Fire – der maßgeblichsten Indie-Band, die die Nullerjahre hervorgebracht haben – formierte sich nun auch in den USA eine frische, intellektuelle Musikszene. Sie verstand es nicht nur, das Album als Chance für ihre emotionalen Klanglandschaften neu zu begreifen. Ihre Platten und Konzerte waren auch erste Leuchtfeuer einer Jugendbewegung, die sich nach der Bush-Lethargie wieder zu artikulieren begann und die schließlich in einem weltweiten Happening namens Obama enden sollte.

Zunehmend begannen Bands wie Broken Social Scene oder Stars, auch das Web für sich zu nutzen, statt es zu beklagen. Die Decemberists veröffentlichten 2005 als erste Band das Video zu ihrem Hit „Sixteen Military Wives“ zuerst auf Bit-Torrent.com. Stars stellten 2007 ihr großartiges Album „In Our Bedroom After The War“ gleich online zum kostenpflichtigen Download bereit, weil sie kein Verständnis mehr für die Verzögerung einer klassischen Veröffentlichung hatten.

Durch den offensiven Umgang mit den neuen Technologien erlangten viele Bands einen guten Teil ihrer Autonomie als Künstler zurück – und das kam auch dem Album zugute. Medienwirksam veröffentlichten Radiohead 2007 das neue Der Fortschritt der Web-Bandbreiten und das herzverfettete Stillhalten der Musikindustrie hatten zu einem Mu-Album „In Rainbows“ ebenfalls zunächst im Online-Direktvertrieb. Das Werk konnte nur komplett herunter geladen werden, zu einem Preis, den die Käufer selbst bestimmten. Gleichzeitig offerierte die Band eine Luxus-Edition für 40 Pfund, mit aufwändigem Artwork, Vinyl-Beigaben und Fotos. So erfuhr das Prinzip Album eine prominente Würdigung.

Dauerhaft aufhellen lässt sich seine Zukunft damit vermutlich nicht und auch nicht durch die Tatsache, dass sich die Vinyl-Verkäufe im Vergleich zu den Neunzigern wieder verdoppelt haben. Liebhaber sind an dieser niedlichen Entwicklung schuld, genau wie am Erfolg der Radiohead-Luxus-Edition. Noch gibt es eben Menschen, die wissen, dass man Musik am Stück und nicht in Scheiben kauft.

Dieses nostalgische Wissen aber hat am Ausgang der Nullerjahre relativ wenig mit der Realität junger Musikwahrnehmung zu tun. Auch wenn die Musikindustrie nur einen langsamen Rückgang der Albumverkäufe meldet – Blogs transportieren heute schneller als jedes Magazin die wichtigsten neuen Songs und Sounds und zwar meistens via dazugehörigem (oder selbstgebasteltem) Musikvideo und somit als Einzelportion.

Neue Bands stellen auf myspace vier Lieder bereit, die ausreichen müssen, um die Leute zu ihren Konzerten zu locken, denn nur damit verdienen sie noch Geld. Nach einem Full-Lenght-Album, wie es für uns vor zehn Jahren noch Pflicht war, sehnt sich ein junger, begeisterter Konzertbesucher nicht mehr zwingend. Die Sehnsucht nach dem ersten Remix seines Lieblingsliedes liegt heute viel näher.

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