LEBEN FÜR DEN SAMSTAG

Erst war es Pech. Dann chronischer Ärger. Am Ende wurde er richtig aggressiv, der Lesnik Edvard, genannt Eddy, aus Höhenkirchen bei München, wenn es mal wieder auf ein Champions-League-Finale zuging. Eines, bei dem seine Bayern dabei waren, und das kam ja öfter vor.

Im Mai 1987 zum Beispiel, an diesem eigentlich geilen Tag in Wien. Das Praterstadion hatten sie, die Roten, praktisch für sich, es waren kaum Porto-Fans da. Und dann gab es doch eine Niederlage, eine saudumme. 1999, gegen Manchester United in Barcelona: noch schlimmer. 2001 konnte Lesnik nicht nach Mailand mitfahren, da war er 41, eröffnete gerade sein Versicherungsmaklerbüro, es ging einfach nicht. Kahn hielt drei Elfmeter, Bayern gewann gegen Valencia. Ausgerechnet, als er fehlte! Die Endspiele, diese Scheiß-Champions-League-Endspiele, sagt Eddy Lesnik, heute 53, mittlerweile Chef eines Brötchen-Bringdienstes und Vorstand des ältesten FC-Bayern-Fanklubs Südkurve ’73 -diese Endspiele hätten ihm schwer zugesetzt. Das war nicht das berühmte Europaturnier-Trauma der Bayern. Das war sein ganz persönliches.

2010, Madrid: wieder nichts. Das sogenannte Finale dahoam, 2012 gegen Chelsea: 3:4 nach Elfmeterschießen. Und jetzt? 2013, so kurz nach dem schmissig erkämpften 2:1-Triumph Ende Mai im Finale in Wembley, nach all dem Brüllen und Stammeln und Arme-Hochreißen -ist der böse Geist nun endlich ausgetrieben? Besiegt, so wie Borussia Dortmund?

„Ich habe in London keine Träne geweint“, sagt Lesnik, der in einer Bierwirtschaft am Münchener Ostbahnhof hinter seinem Glas sitzt. „Auch später nicht. Keine Freudenträne.“ Lesnik, Bayernfan seit 1972, Typ Musketier mit Kinnbart, schnell und klug, kann bei solchen Themen sehr ernst werden. „Aber ich habe so ein geiles Gefühl seit diesem Samstagabend. Und das geht nicht weg! In unserer Facebookgruppe haben wir uns damals alle umbenannt: Triple-Sieger Flo, Triple-Sieger Peter und so weiter. Wir alle sind Triple-Sieger. Keiner nimmt uns das.“

Am 9. August wird die Fußballbundesliga wieder starten, mit dem Freitagabendspiel Bayern gegen Mönchengladbach. Ein paar Karten werden neu gemischt, sportlich und metaphorisch, vieles wird wie immer sein in dieser insgesamt 51. Saison – und doch steht jetzt schon fest, dass sie für Hunderttausende von Fans die beste, größte, fiebrigste, haarsträubendste ihres Lebens werden wird. Die Spielzeit aller Zeiten. Vielleicht, weil Eintracht Braunschweig endlich wieder dabei ist. Vielleicht wegen des spanischen Hipsters Pep Guardiola oder irgendeines heimlichen Lieblings, der im Ruhrpott oder in Schwaben oder Frankfurt plötzlich von der Bank ins Spiel stürmen wird. Wegen einer lange fälligen Revanche. Oder einfach deshalb, weil die ewige Treue zu einem Verein ja immer wieder diese schluckaufartigen, schwer erklärbaren Momente von extremer Verliebtheit hervorbringt. Die plötzlich kommen und eine Saison komplett verzaubern, obwohl gar nichts besonderes los war.

Natürlich wird in der Runde 2013/14 auch wieder die Zukunft der deutschen Fußball-Fankultur auf dem Spiel stehen. Ganz tragisch. „Chaos-Saison: 788 Verletzte bei Fußball-Randale“, schrieb erst vor Kurzem der „Focus“, als der Vorsitzende der Innenministerkonferenz die Schandbilanz der letzten Erstund Zweitliga-Spielzeit vorstellte. Bebildert mit einem der tausendfach gesehenen, extra rotstichigen Fotos, auf denen Stadionbesucher mit bengalischen Feuern winken, vermummt, sodass man leider nicht sehen kann, ob sie dabei lieb oder böse schauen. Immerhin, ein Rückgang der Gewalt gegenüber 2011/12 (damals 1.142 Verletzte, davon 235 Polizisten). Und, wie oft betont wird, ja keine allzu hohe Quote bei derzeit über 13 Millionen verkauften Tickets pro Saison, allein in der ersten Liga. Aber es muss was gemacht werden, denn das hier ist ja Politik.

Man kann die deutschen Fußballfans auch ganz anders sehen. Sie und ihre im Reich der Popkultur so rar gewordene Hingabe. Den unglaublichen Zeit-, Geld-und Emotionsaufwand, den sie in Reisen und Stadionchoreografien stecken. Die Aura der Gefahr, die angeblich viele Leute davon abhält, Bundesligaspiele zu besuchen, aber mindestens genau so viele erst richtig anzieht. Und man muss nicht unbedingt zu den Ultras gehen, den Stammesfürsten und Kapuzen-Outlaws der Stehplatztribünen, um diese Frage zu stellen: Sind Fußballfans 2013 die letzten echten Rock’n’Roller?

Am Biertisch in München, bei Eddy Lesnik vom Südkurve-Fanklub, haben sich noch der Wickenrieder Hermann und der Rexauer Horst dazugesellt, zwei alte Working-Class-Schlawiner in schicken Polohemden, seit den Siebzigern dabei. Sie überhaupt zu fragen nach dem Rock’n’Roll, das wäre fast eine Frechheit. Die Südkurve ’73 war schon 1978 in der „Bravo“. Die Zeit der großen Fahrten, der Bundesbahn-Sonderzüge, in denen es zur Sache ging, mit 70,80 Mann. 1979, am letzten Spieltag, der Angriff der Bremer Wölfe, aber die kriegten sie nicht klein. 1982 das Pokalfinale in Frankfurt, vor dem die Züge aus München und Nürnberg genau gleichzeitig im Hauptbahnhof ankamen und plötzlich Hunderte von Gleisbett-Steinen auf die wackeren Südkurvler niederregneten, wie in „Braveheart“.

Ein Bayernfan zu sein, das hatte damals nichts Kokettes, null Lifestyle-Wert. Außerhalb Süddeutschlands gab es fast keine Verbündeten. Das Olympiastadion war oft halb leer, die Mannschaft spielte ebenso oft mies. „Irgendwann war ich abgehärtet von den vielen Niederlagen“, sagt Wickenrieder. Egal. Die Jungs aus der Südkurve kamen immer und immer wieder. Trotzdem. Bis heute. Es hat auch mit Sturheit und Unvernunft zu tun, wenn man einen Sportverein so konsequent liebt.

Heute ist ja alles anders. Seit den 90er-Jahren, seit dem Beginn des Dauererfolges, seit Allianz-Arena, seit Sommermärchen, Champions-League-Bambam. Seitdem noch der letzte Depp ein Bayernfan sein will. Mit Geld. Ohne rotes Herz. Freibier-Freunde, die zur Meisterfeier am Marienplatz kommen, um gratis Paulaner zu saufen. Die paar Tausend Mitglieder des Schnösel-Fanklubs 13 Höslwanger, von einem Wirt bei Rosenheim gegründet, 1995, als Eddy Lesnik für seine Gruppe längst den Aufnahmestopp beschlossen hatte, weil es keinen Sinn mehr ergab, Fremde in den inner circle einzuführen (sein Sohn Robert und dessen Kumpel Michi waren die letzten, 80 Mitglieder sind es seither).

„Schon jetzt kommt es vor“, erzählt er, „dass ich im Stadion bei irgendeiner tollen Bayern-Aktion aufspringe, zum Anfeuern -und von hinten tupft mich ernsthaft einer auf die Schulter: ,Setz dich hin, wir sehen ja gar nichts!'“ Lesnik fand heraus, dass die zwei Sitze hinter ihm einem Dauerkartenbesitzer aus der Gegend von Oldenburg gehören. Der in acht Jahren praktisch nie da war, aber alle zwei Wochen seine Heimspielplätze sauber im Internet verhökert, zum dreifachen Preis. „Eines ist klar: Wenn wir irgendwann nicht mehr rausfahren, wenn ich irgendwann meine Jahreskarte zurückgebe“, seufzt er, und da seufzt er wirklich: „Dann stehen 10.000 andere da, die sie haben wollen.“

Das geile Gefühl, das Triple-Feeling, das Rot im Herzen, das wird davon natürlich nicht weniger. Das ist was anderes.

Sie stimmen ja auch keine große Kulturklage an, die bayerischen Veteranen. Kein Schmonz über die gute alte Zeit, über das Desinteresse der jungen Leute, die lieber vor dem Computer sitzen als im Stadion. Dass die Allianz-Arena in der Liga längst als Ort mit steriler Atmosphäre verschrien ist, dafür sehen sie konkrete Gründe, und die haben viel mit dem Sicherheitskonzept zu tun, mit vorauseilendem Gehorsam, den Folgen des notorischen Liga-Papiers „Sicheres Stadionerlebnis“, das im Dezember 2012 beschlossen wurde. An der berühmten Südkurve soll es ab der kommenden Saison neue Drehkreuze geben. Die es technisch nicht mehr zulassen, auch nur einen einzigen zusätzlichen Anfeuer-Fan hineinzuschmuggeln. Es könnte der endgültige Tod der Stimmung sein.

„In Rostock oder Dresden gibt’s ein paar Tausend Mann, die gehen jeden Tag ins Fitnessstudio, haben solche Muckis, weil sie sonst leider nicht viel zu tun haben“, sagt Eddy Lesnik, irgendwann nach dreieinhalb Stunden im Wirtshaus, in denen alle ihre Biere sehr langsam getrunken haben. „Natürlich kenne ich die nicht persönlich, natürlich bauen die viel Mist, aber: Die halten zusammen! Das sind die Jungs, die noch den Rock’n’Roll in sich haben! Vielen gefällt das nicht, dem Staat, der Polizei, anderen Fans. Viele Stadien würden die am liebsten aussperren. Aber das ist nun mal eine Subkultur. Und wenn man lange genug zum Fußball geht, so wie wir: Dann fängt man irgendwann an, die zu respektieren.“

Aus dem Fernsehen bleiben ja meistens nur die Knallchargen hängen. Der Vogel, der 2012 beim Platzsturm in Düsseldorf den Elfmeterpunkt klaute. Maskottchenkerle mit affigen Schnurrbärten, die in Boulevardmagazinen als Superfans auftreten. Die Hamburger Ultras, die mit Pyrofackeln aus Versehen ihr eigenes Banner verbrannten. Andere, die große Flaggen wie Umkleidekabinen benutzen, damit die Polizei sie nach dem Spiel nicht erkennt. Sichtbar gemacht werden meistens nur die Extreme. In einer Fankultur, deren Mitglieder einem ja ausnahmslos beteuern, wie unvorstellbar komplex die Wahrheit sei.

„Die Sache mit den Ultras ist eine Scheingefahr“, sagt zum Beispiel Marc Quambusch, 43, Borussia-Dortmund-Fan seit dem fünften Lebensjahr. „So wie der Scheinriese bei ,Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer‘: Je näher du ihnen kommst, desto harmloser werden sie. Aus der Ferne sehen sie martialisch aus, die Pyro, die Masken. Aus der Nähe siehst du meistens nette Leute, die ihren Verein lieben und Lust haben, was zu gestalten.“

Quambusch, ein massiver, 1 Meter 93 großer Kerl, der in Hamburg als Entwickler und Produzent fürs Fernsehen arbeitet, hat sich zum Treffen in einer Schanzenviertel-Pizzeria ein Ultra-Trikot angezogen. „Für den Erhalt der Fankultur“, gelbe Revolutionsoptik, zwei Figuren mit gereckten Fäusten. Schon zur Begrüßung sagt er, druckreif: „Mein großes Ziel ist, mein Leben von allem zu befreien, was nichts mit Fußball zu tun hat.“ Ultra sei er nicht. Zu alt. Eher freier Radikaler. Der noch immer in BVB-Bettwäsche schläft.

Wenn ein derart Vernarrter ein gültiges Ticket fürs Derby Schalke-Dortmund wieder zurückschickt, muss es einen exzellenten Grund dafür geben. Im September 2010 war das, als in der Gelsenkirchener Veltins-Arena mal wieder die Preise stiegen. Mit Topzuschlag auf über 20 Euro pro Stehplatz, über 50 pro Sitzplatz. In Dortmund-Foren ging schon die Nachricht herum: Eigentlich kann man da nicht mehr hinfahren. Wenige Stunden später war aus dem Gemurre eine konzertierte Protestaktion geworden, Quambusch, medienkompetent, spielte den Sprecher. „Kein Zwanni! Fußball muss bezahlbar sein!“ ist mittlerweile ein vereinsübergreifendes Netzwerk, wurde sogar schon von den Engländern kopiert, bei denen das Problem noch größer ist. Die Forderung: Schlachtenbummler bei möglichst allen Auswärtsspielen von Zuschlägen und Preiswucher zu befreien. Weil sie mit Reisekosten ja schon genug gestraft sind. Und die einzige Alternative eben das Daheimbleiben ist.

Die naheliegendste, gewaltloseste Art der Selbstermächtigung: Stören die Vereine das feine Gleichgewicht, kündigen sie die Balance von Geben und Nehmen auf – dann sollen sie mal sehen, wie öde der überregulierte Fußball der Science-Fiction-Zukunft aussehen wird. „1.500 Derby-Tickets wurden zurückgeschickt“, erinnert sich Quambusch an den Gründungsboykott. „Zum ersten Mal seit Menschengedenken war das Derby nicht ausverkauft. Wir haben es in Dortmund in der Kneipe geguckt.“ Manch mal erscheinen die „Kein Zwanni“-Leute geschlossen zu spät zum Spiel, zwölf Minuten, weil sie ja der zwölfte Mann sind. Die Aktion „12:12“, mit der Ende 2012 Zehntausende von Fans gegen die „Stadionerlebnis“-Reform des Ligaverbandes aufmuckten, lief ähnlich. Zwölf Minuten Schweigen nach dem Anpfiff. Die Hörbeispiele, die man im Netz finden kann, klingen gruselig.

Viele Klubs haben auf die Zwanni-Aktionen reagiert. Dortmund, HSV, Hertha und andere haben Zuschläge für Gästefans gestrichen, Preise vereinheitlicht. Haben damit eingestanden, dass es eben nicht die wirtschaftliche Rechnung sein kann, ein Stadion irgendwie mit Leuten vollzukriegen. Sondern dass es schon die richtigen sein müssen.

„Wenn hier alles ganz rational zuginge, würde ja ein Fan von Arminia Bielefeld nie ins Stadion gehen. Der sieht immer nur Scheißfußball, gewinnt nie was -wieso sollte der sein Geld da hintragen? Na, weil es in Wahrheit ums Leiden geht“, sagt Quambusch, der zurzeit Crowdfunding-Geld für eine BVB-Doku sammelt. Und der kommenden Saison zwiespältig, fast wehmütig entgegenschaut. „Ich habe die Befürchtung, dass es eines der letzten richtig schönen Jahre werden könnte.“ Zu viele Retortenvereine auf Dauer, Klubs ohne echte Fanbasis. Wolfsburg, Hoffenheim, bald vielleicht RasenBallsport Leipzig, RB wie Red Bull. Auch das macht den Rock’n’Roll kaputt.

Letzter Szenenwechsel: Berlin-Schöneberg. Ein Café mit Alter-Westen-Charme, Bücherwänden und Sofas, in einem davon Gerd Eiserbeck und Günter Schlögel, beide Mitte 40, Latte-Macchiato-Trinker, „Kicker“-Leser, nicht „11 Freunde“. Sie erzählen vom Langnese-Familienblock, den es seit 2005 bei Hertha-Spielen im Olympiastadion gibt. Rauchfrei, die Tickets konnte man letzte Saison auch bei Lidl kaufen. Jahrzehntelang hatten die hauseigenen Hertha-Frösche als die übelsten, nach rechts driftenden Raufbolde der Liga gegolten, jetzt triumphiert Langnese. „Der Verein wollte deeskalieren“, sagt Eiserbeck. „Familien ins Stadion locken, damit es voller und ruhiger wird.“ Er kennt die Probleme, er ist Polizist.

Dass Eiserbeck und Schlögel schwul sind, hat sie auch in Zeiten des wildesten Frosch-Regimes nie davon abgehalten, zur Hertha zu gehen. Der Fußball hat ein Macho-Herz, daran hat sich seit uralter Zeit wenig geändert. Ein Spieler darf eher zugeben, mit einer minderjährigen französischen Prostituierten geschlafen zu haben als mit einem ausgewachsenen Mann. Aber man sieht es dir ja nicht an der Pudelmütze an. Es sei denn, du gibst dich offensiv zu erkennen.

„Irgendwann hörte ich: Da gibt’s noch andere Schwule im Stadion. Ich kannte die bloß nicht“, sagt Schlögel. Es war zu der Zeit, als viele Heterofreunde nicht mehr mitkamen, weil sie plötzlich Familie hatten. „Und über gewisse Themen lässt es sich unter Gleichgesinnten doch leichter reden.“ 2001 gründete er mit drei anderen die Hertha-Junxx, den ersten schwul-lesbischen Fußball-Fanklub Deutschlands. 100 Leute waren sie zwischendurch mal. Klaus Wowereit lehnte die Ehrenmitgliedschaft ab. Claudia Roth nahm an, natürlich.

„Klar wollten wir auch provozieren“, sagt Schlögel. Seine Mama nähte ihnen das Hertha-Wappen auf eine Regenbogenfahne, damit zogen sie ins Stadion ein. Und, Überraschung:

Fast niemand schien etwas dagegen zu haben. „Es gab es ein paar blöde Kommentare am Anfang, aber nichts Schlimmes“, sagt Gerd Eiserbeck, der heute Junxx-Vorsitzender ist. Einmal rissen überforderte Galatasaray-Fans ihnen die Flagge runter, das war’s aber auch. Sie gehören längst dazu. Dem Verein ist es recht, gut fürs Image.

Sicher werden nicht alle der heute rund 20 homosexuellen Fanklubs so respektiert. Aber selbst der positive Sonderfall zeigt nun mal, wie der Zusammenhalt wächst, wie sich Ultras und Normalos, Heteros und Schwule immer stärker als Kämpfer derselben Seite begreifen. Jetzt, wo Hertha wieder aufgestiegen ist, wollen die Junxx auch wieder häufiger nach auswärts fahren. Sich zeigen, Lethargie bekämpfen. Die Vorsitzende der Blue Dolphins hat ihnen schon freie Plätze im Bus angeboten. Sie ist Lesbe, die Chefin eines Hetero-Fanklubs.

„Fußball leert den Kopf. Radikal und komplett“, schreibt Fußballexperte Christoph Biermann.“Teilt man diesen Zustand mit vielen Menschen, wird der Sog noch größer.“ Der Nebel aus Zigarettenrauch, Würstchendunst und irgendwas Verbranntem, das Pfeifen im Ohr von der Tröte nebenan, das grelle Leuchten der Fahnen, Transparente, Choreografien, die spätestens in der zweiten Hälfte einsetzende Heiserkeit, all die großen Momente. Das ist der Gedanke, der von dieser kleinen Sommerpausenreise bleibt: dass das nicht alles sein kann. Dass der Fußball sich seinen Kern -das, was ihn überhaupt mal zu einer Bewegung gemacht hat -nur dort bewahren wird, wo die Fans sich eben nicht als Konsumenten sehen. Nicht nur als Zuschauer, obwohl es genug Vereine und Innenministerkonferenzen gibt, die alles dafür tun würden. Sondern als Stimme eines Spiels, das ohne sie einfach stumm wäre.

Die Vorstellung, irgendwann könnte eine Generation von Bundesliga-Guckern heranwachsen, die ihre eigene Macht und Verantwortung nicht mehr kennt, die ist wirklich unerträglich. Dagegen müssen sie kämpfen. Das ist derzeit die größte Gefahr in deutschen Stadien.

Am 19. Mai, während der Siegerehrung im Berliner Olympiastadion, trug Hertha-Kapitän Peter Niemeyer die Zweitliga-Meisterschale demonstrativ in die Ostkurve. Reichte sie über die Balustrade an die Fans, ließ los. „Als ob er den Leuten sagen wollten: Ihr seid ein Teil der Mannschaft!“, meint Gerd Eiserbeck. Die Trophäe kam ordnungsgemäß zurück. Ein letzter Vertrauensbeweis.

Top 11 -Die besten Mitgröl-Songs aus den Stadien

VON RALF NIEMCZYK UND FABIAN PELTSCH

Lightning Seeds feat. Baddiel &Skinner „Football ’s Coming Home (Three Lions)“

Entstanden zur Euro 1996 in England. Die musikalische Kooperation der Lightning Seeds und des Fußball-TV-Comedy-Teams David Baddiel/Frank Skinner ist der prägnanteste und erfolgreichste Song der Fußballmoderne. Für spätere Turniere entstanden diverse Remixe und Updates.

Gary and the Pacemakers „You‘ ll Never Walk Alone“

Aus dem melancholisch-kämpferischen Musical-Song, entstanden im letzten Weltkriegsjahr 1945, ist durch die Coverversion von Gary and the Pacemakers sowie den Liverpool-Fans an der Anfield Road DER Fußballklassiker überhaupt geworden.

The Farm „All Together Now“ Ursprünglich eine Anti-Kriegs-Saga aus dem Ersten Weltkrieg. The Farm schufen daraus einen völkerverbindenden Popsong, der überaus stadiontauglich ist.

Blur „Song 2“ Ähnlicher Fall wie bei den White Stripes. Nie als Fußball-Klopper gedacht, funktioniert aber dennoch. Nicht nur am Hamburger Millerntor.

Albert C. Campbell &Henry Burr „I’m Forever Blowing Bubbles“ Bereits im Jahre 1919 für ein US-Musical komponiert, avancierte der Seifenblasen-Song in Großbritannien zur knuffigen Vereinshymne des Londoner Clubs West Ham United.

New Order „World In Motion“

Poppigster und bester Fußballsong aller Zeiten. Entstand zur WM 1990 in Italien als Koop mit der englischen Nationalmannschaft unter dem Bandnamen Englandneworder. Am Text bastelte Comedian Keith Allen mit.

Lotto King Karl „Hamburg, meine Perle!“ Wenn King Lotto zu HSV-Heimspielen auf der Hebebühne im Ex-Volksparkstadion steht, wird es selbst reservierten Hanseaten warm ums Herz.

Götz Alsmann „Preußen Münster“ Calypso-Hymne des Retrokönigs mit der Tolle für seinen putzigen Heimatverein; und dies, obwohl er sich eigentlich gar nicht sonderlich für Fußball interessiert.

Turbonegro „I Got Erection (St. Pauli-Version)“ Die norwegischen Schweinerocker bekommen eine Erektion auf den heiligen Stadionstufen von St. Pauli und bezeichnen von dort aus die Spieler von Hansa Rostock als „Heavy Metal Pussies“.

Pet Shop Boys „Go West“ Im angeblich so homophoben Fußballmilieu wurde diese Gay-Hymne – über die gesangliche Vereinnahmung der Dortmunder Südtribüne -zum Allerweltskracher.

The White Stripes „Seven Nation Army“ Als US-Amerikaner hat Bluesrocker Jack White nicht viel mit Fußball am Hut. Als sein Rocksong – über die Fanszene von Lazio Rom -zum europaweiten Tribünenkracher avancierte, zeigte er sich milde amüsiert.

VOM BETZENBERG IN DIE PLAYSTATION -WIE SICH DER FUSSBALL VERÄNDERT

VON K ATRIN WEBER-KLÜVER

D as erste Tor der Bundesligageschichte, Timo Konietzkas 1:0 für Borussia Dortmund im Spiel bei Werder Bremen in der ersten Spielminute des ersten Spieltags ist, natürlich, ein historisches. Es dürfte in keinem Rückblick auf 50 Jahre Bundesliga fehlen. Allein: Es gibt von diesem Tor kein einziges Bild, weder ein Foto noch eine Filmaufnahme. Viele Jahre später hat Timo Konietzka Mitstreiter von damals versammelt, um die Szene nachzuspielen. Vor einer Kamera, die festhielt, wie die älteren Herren sich an der Kopie zum Original in ihren Köpfen versuchten. Der Mensch braucht Bilder. Sonst glaubt er sich und der Welt nicht.

An jenem Nachmittag des 24. Augusts 1963 verfolgten ein paar Zehntausend Zuschauer in den Stadien, wie auf den Rasenplätzen Spieler des Hamburger oder Meidericher SV, aus Braunschweig oder Saarbrücken herumflitzten. Also: Was damals eben als Herumflitzen galt. Die Fans zu Hause saßen am Radio, studierten Zeitungsberichte und Kicker-Tabellen. Und, ja, im Ersten Programm gab es Kurzberichte. Jedoch nur von ausgewählten Spielen, am Anfang hieß das Ganze nicht mal „Sportschau“ und begann auch erst um zehn Uhr abends. Aber wie war das aufregend: Eineinhalb Minuten vom Betzenberg! Im Fernsehen! Wow!

Meist aber machten sich Fußballfans selbst ihre Bilder. Nicht als Rekonstruktion, wie Konietzka es tat. Sondern als reine Fantasie, deren Verankerung in der Wirklichkeit jeder selbst bestimmen konnte. Der tagträumende Fan dachte sich einfach aus, wie triumphal seine Mannschaft einen Sieg errungen hatte. Wie es wirklich war -egal. Wer kannte schon die Wahrheit? Damals. Einmal ganz davon abgesehen, dass die Abwesenheit der einen Wahrheit zum Wesen des Fußballs gehört. Zwei Fans vertreten mindestens drei Meinungen. Dabei ist es in der Regel ohne Belang, ob sie Experten oder Einfaltspinsel sind. Aber das ist eine andere Geschichte.

Heute ist von jedem beliebigen Bundesligaspiel alles als bewegtes Bild verfügbar. Man kann jede Partie eines jeden Spieltags live im Fernsehen oder Internet sehen. Und auf allen Medien gibt es im Rahmenprogramm Vorberichte, Ticker, Datensammlungen, Spielanalysen, Zusammenschnitte, Nachgespräche. Es ist: die totale Verfügbarkeit. Wo einst eine selbst zu bespielende Leerstelle war, weil es fast keine Bilder gab, gibt es nun so viele, dass Spiele keine singulären Ereignisse mehr sind, sie gehen auf in einem einzigen großen Bilderstrom. Werner Kutzops verschossener Elfmeter entschied 1986 die Meisterschaft, gegen Bremen, zugunsten von Bayern. Es ist ein Ereignis, das sich verankert hat, in der Erinnerung vieler. Seitdem hat es manchen spektakulären Titelkampf gegeben. Aber sie verschwimmen immer mehr. 2001 die Meisterschaft der Herzen -wer verhinderte die noch mal wie? Und wie lief es noch mal 2006 oder 2007? In einem reißenden Strom von Bildern gibt es keinen Anker mehr.

Verloren gegangen ist in der Bilderflut, was man märchenhafte Überhöhung nennen könnte, oder auch: Mythos. Mythos, Fußball-Mythos zumal, ist das Gegenteil von Verfügbarkeit, Mythos ist nur möglich, wenn Fantasie die Fakten umrankt. Ständige Verfügbarkeit entwertet jedes noch so wertvolle Gut und lässt die Fantasie verhungern. Mythos lässt sich nicht streamen.

Allein: Vielleicht brauchen Fußballfans heute Mythos auch gar nicht mehr. Je komplexer das Spiel über die Jahre geworden ist, desto größer wurde das Interesse der Zuschauer -nicht aller, aber vieler -diese Komplexität zu durchdringen. Und für die fachliche Analyse von Systemen, Laufwegen und Passgenauigkeit sind Bilder und Daten nützlich, je mehr, desto besser. Mythos ist da nur noch Ergänzungsspieler. Wenn überhaupt.

Zugleich dient der Bilder-und Datenstrom, der das wilde Spiel zum berechenbaren Strategiemanöver umdeutet, seit einigen Jahren nicht mehr nur dazu, die Realität auf dem Rasen zu analysieren, vielmehr formt er eine eigene Hyperrealität. Die echten Spiele werden übersetzt in immer perfekter zu steuernde Optionen für virtuellen Fußball an Computer und Konsole. Wenn aber leibhaftige Fußballspieler zum Material für eine virtuelle Fiktion schrumpfen, die in ihrem Potenzial die echten Kicker an Virtuosität übertrifft, wirkt die Wirklichkeit selbst immer langweiliger. Realität stößt an Grenzen, die ein virtuelles System ignorieren kann. Selbst die besten Fußballprofis der Welt sind gefangen vom Transfer ihrer schweißtreibenden Körperarbeit in Pixel auf der Playstation. Lionel Messi, so heißt es, liebe diese als Datenpaket optimierte Form seiner selbst, die zu ihrer absoluten Topform aufläuft, wenn Messi Messi spielt: geschmeidige Schlenker um verblüffte Gegner, Pirouetten, bei denen der Ball zwischen den Füßen hin und her tanzt, ein Torschuss mit unmöglichem Flugwinkel. Wow!

Für das echte Ereignis bedeutet das nichts Gutes. Wer als einfacher Fan seine Fußballsozialisation -wenn man davon noch sprechen kann – auf der Playstation erlebt, nicht mehr im Stadion, wird von der Originalveranstaltung enttäuscht, zumindest irritiert sein: zu wenig Tricks, zu wenig Tempo; und dann das ganze Gestochere auch noch ohne Nahaufnahmen und Perspektivwechsel, nur in dieser einen Totalen, die der Blick mit den eigenen Augen ermöglicht.

Reality sucks.

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