Missglückte Welthungerhilfe via Internet

Es sollte das größte Ding seit "Live Aid" werden, doch "Net Aid" lief eher unter unter "Pleiten, Pech und Pannen". Statt der erhofften Milliarde besuchten nur 2,4 Mio. die Internet-Liveshow

Wer auch immer in Deutschland und vielen anderen Ländern behauptet, er habe in der Nacht vom 9. auf den 10. Oktober das „NetAid“-Festival gesehen, der ist ein Lügner. Vollmundig angekündigt als das weltweit größte Musikereignis seit „Live Aid“, geriet die in New York, London und Genf synchron veranstaltete Show technologisch, musikalisch sowie organisatorisch zu einer eher peinlichen Lachnummer für alle Beteiligten. Dabei hatte „Net Aid“ sogar göttlichen Segen: Bono, einer der Hauptinitiatoren, hatte ein paar Wochen zuvor eine 20-minütige Audienz beim Papst und sicherte sich bei dieser Gelegenheit – u. a. mittels einer „Fly“-Brille für Paul – die propagandistische Unterstützung der Kirche für die Benefiz-Show zugunsten der UN-Armenhilfe. Am Zweck kann es nicht gelegen haben. „NetAid“ gilt als die musikalische Achse des UN-Entwicklungsprogramm UNDP. Vor zwei Jahren hatte die UNO-Versammlung die „Dekade zur Bekämpfung extremer Armut“ ausgerufen. Der „NetAid“-Koordinator bei den UN, Robert Piper, hatte die Idee, das lahmende Programm mit Popstarhilfe in Schwung zu bringen: „Das Millennium stand ins Haus, und wir suchten nach einem schlaueren Weg, unsere Aufgabe zu bewältigen.“ Der „schlaue“ Weg war schnell gefunden: 13 Stunden Star-Auftritte in drei Ländern, weltweit im Internet übertragen, mitpräsentiert von Stars wie Model Iman, Anjelica Huston oder Catherine Zeta-Jones, und mit viel Geld, Technik und Know How gesponsert von Computer-Firmen wie „Cisco“ und der Unternehmensberatung „KPMG“. Vor allem die Verantwortlichen bei „Cisco“ hatten sich im Vorfeld weit aus dem Fenster gelehnt. 300 „Linux“-Server sollten im „RealVideo“-Verfahren den Event per Internet auf die Bildschirme in aller Welt ausstrahlen („streamen“) und durch die ruckelfreie Bildübertragung die beiden „Cisco“-Zentraltechnologien „IP Multicast“ und „IP/TV“ für zahllose potenzielle Neukunden interessant machen. Eine Milliarde „Visits“ waren in jener „NetAid“-Nacht angepeilt Das Fiasko der vormals größten Web-Liveübertragung sollte sich nicht wiederholen: Bei einer Internet-Modenschau des Online-Shops „Victoria’s Secret“ war dessen Website in diesem Sommer wegen völliger Überlastung des einzigen Datenzentrums zusammengebrochen. Was ein netter Abend mit Freunden wie Bono, David Bowie oder Sting auf dem heimischen PC-Monitor werden sollte, entwickelte sich für die meisten Internet-Musikfreunde zur reinen Geduldsfadenspinnerei. Allenfalls ein paar Auserwählte in Universitäten mit schnellem Anschluss an das, Jnternet2″ sahen die Übertragung in PC-Game-Qualität. Der Rest der Webwelt holte sich bei einer pixeligen Rukkeldiaschau in Briefmarkengröße nur rote Augen und wunderte sich, dass auch die Musik meist so druckvoll wie ein Kurzwellenradio rüberkam. Ernüchterung auch bei Thomas Ritstetter, Sprecher der für die Gestaltung der „NetAid“-Seite verantwortlichen Firma KPMG Consulting: „Vielleicht war es ein bisschen ehrgeizig, die Internet-Technologie an diesem Punkt einzusetzen. Aber der Anreiz des Internets bestand darin, die Leute zu einer sofortigen Spende zu bewegen.“ Die Gesamtsumme der online abgegebenen Spenden waren bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe aber noch immer nicht veröffentlicht Doch „NetAid“ war nicht nur für geduldige Internetnutzer alles andere als die Antwort auf „Live Aid“. Allenfalls die 60 000 im Wembley-Stadion feierten eine zünftige Musikparty mit Acts wie den Eurythmics, Catatonia, Stereophonics, The Corrs, Bush, David Bowie, Bryan Adams, Robbie Williams und George Michael (der seinen Auftritt so schlecht fand, dass er noch in der selben Nacht über seinen Manager der BBC verbot, Ausschnitte daraus im TV zu senden). Im Genfer „Palais Des Nations dagegen langweilten sich Michael Douglas und der UN-Generalsekretär Kofi Annan gemeinsam mit 2000 geladenen Gästen bei den Auftritten von Texas, Michael Kamen oder Bryan Ferry. Das „Giant’s Stadium“ in New Jersey war gar mit knapp 37 000 Besuchern nur zum Drittel gefüllt. Trotz interessanter Paarungen auf der Bühne -Bono mit Wyclef Jean, Quincy Jones und Meryl Streep,Jimmy Page mit den Black Crowes und Puff Daddy, Sting und Sänger Cheb Mami, Puff Daddy mit Slash – wollte Stimmungjedoch nicht so recht aufkommen. Selbst wenn „NetAid“ sich über die kommenden Monate als gut besuchte Spendenannahmestelle etablieren sollte – für Zuschauer und viele Akteure bleibt eher die Erkenntnis, dass dieses Festival wenigstens für einen guten Zweck war. Doch was viele dachten, sprach die Catatonia-Sängerin Cerys Matthews als einzige offen aus. Auf die Frage, ob „NetAid“ denn an der Armut in der Welt etwas ändern würde, kreischte sie ins Reportermikro: „Einen Scheiß wird es ändern!“

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