Mit Anarchie die Welt retten: Reykjaviks Ex-Bürgermeister Jón Gnarr zu Gast in Wien

Ein Künstler und Punk, der sich aus Spaß zum Bürgermeister von Reykjavik wählen ließ und als Außenseiter die isländische Hauptstadt generalsanierte: Jón Gnarr hat nach vier Jahren die Macht nun freiwillig wieder abgegeben und war in Wien auf Besuch. Von Markus Brandstetter.

Er ist nicht der Erste, der als Kunstprojekt eine Partei ins Leben rief – wie es aber mit Jón Gnarr und der von ihm gegründeten „Besti flokkurinn“ (auf Deutsch: Beste Partei) weiterging, ist weltweit wohl einzigartig. Als absoluter Außenseiter 2010 in die Wahl zum Bürgermeister von Reykjavik gegangen, gelang Gnarr, heute 47, Comedian, Schauspieler, und Surrealo-Anarchist, das quasi Unmögliche: Nicht nur gewann er mit beachtlichem Vorsprung die Wahlen in der isländischen Hauptstadt, sondern schaffte es auch in seinen vier Jahren Amtszeit, das von der Wirtschaftskrise in den Bankrott getriebene Reykjavik generalzusanieren: das städtische Verkehrsnetz auszubauen, eine Schulreform ins Leben zu rufen und den größten staatlichen Energiekonzern zu retten. Freilich bedurfte es für derlei Reformen unpopuläre Maßnahmen, aber Gnarr hatte wenig zu verlieren. Eine Amtsperiode sollte das mittlerweile zu völligem Ernst gewordene anfängliche Spaßprojekt dauern, vier Jahre mit ambitionierter Agenda in vielerlei Hinsicht, allerdings mit einem absehbarem Ende. Ein gesteckter Rahmen, der ihn zwar bereits im zweiten Jahr an den Rande der Belastbarkeit trieb („Und ich habe fünf Kinder, glaubt mir, ich weiß was es bedeutet müde zu sein und tagelang nicht zu schlafen“), der es ihm aber ohne den Gedanken einer Wiederwahl ermöglichte, auch unpopuläre, aber nötige Entscheidungen zu treffen.

Nach Wien ist er für eine Diskussionsrunde gekommen, die vom Aktionsradius Wien veranstaltet wurde, „Ein Abend mit Jón Gnarr“. Ein Unkostenbeitrag der Besucher deckt Gnarrs Flugkosten ab. Man hätte nicht einmal mit einem Viertel der Leute gerechnet, die am Abend in die Bunkerei des Augarten gekommen sind – kurz davor verlegte man die Veranstaltung vom hauseigenen Büro in eine größere Venue.

Gnarr ist offensichtlich kein typischer Politiker. Als Jugendlicher ein Außenseiter, war es in erster Linie Punkrock, der ihn durch seine Jugendjahre brachte. Das Tattoo der für ihn wichtigsten Band, Crass, prangt deutlich und groß als Tätowierung auf seinem Unterarm. Er bezeichnet sich auch heute noch als Anarchisten, nachzulesen ist das in seinem neuen Buch „Hören sie gut zu und wiederholen Sie“: irgendwo zwischen Chomskys „Libertarian Socialism“ und Tolstois christlichem Anarchismus (Gnarr ist Atheist), Surrealismus und Fernöstlichem liegt Gnarrs anarchisches Ideal – Gewaltlosigkeit, Selbstbestimmung, Kreativität. Und freilich: Humor.

Begonnen hatte alles mit obskuren Wahlslogans und Versprechungen: gratis Handtücher für jedes Freibad, die Errichtung eines Jurassic Parks in der Stadt und einen Eisbären für den städtischen Zoo (den er zu Ehren des bekanntesten isländischen Kulturexports „Björk“ taufen wollte). Ablehnung und Hohn seiner Konkurrenten, allesamt eingesessene Politiker, waren ihm sicher. Irgendwann aber zeigten die Umfrageergebnisse, dass es zwei Möglichkeiten gibt: entweder noch schnell den Hut drauf werfen, und das am besten mit einem finalen Witz. Oder: es wirklich zu versuchen.  Gnarr und seine Parteikollegen, allesamt Freunde und Freundinnen aus der Künstlerszene, die er via Facebook dazu gebracht hatte, teilzunehmen, entschieden sich für die zweite Option.

Wann es ihm klar geworden sei, dass es kein Zurück mehr geben würde? „Ich hatte schon recht früh den Verdacht, dass da etwas Größeres daraus wird“, erzählt Gnarr. „Es begann als eine Art künstlerische Initiative. Ich wollte eine Gruppe an kreativen Leuten versammeln  und daraus eine Kampagne machen. Ob das Leute kaufen würden, wusste ich nicht, aber zumindest würden wir Spaß haben. Ich war auch müde und irritiert darüber, wie Politiker über Künstler reden. So, als wären das zweitklassige Leute, oder Belastungen. Das ist einfach so falsch. Wenn es um Island geht: Weltbekannt ist es für Kunst, vor allem für Musik. Wohin auch immer ich gehe, fragen die Leute mich: Woher bist du? Island? Oh, Björk! Island ist Björk! Island heißt Kreativität und Kunst, und ich wollte ihnen zeigen, dass wir auch ganz clevere und kreative Leute sind. So richtig ist es mir aber erst eine Woche vor der Wahl aufgegangen: da hatte ich schon den Verdacht, dass ich bald Bürgermeister sein werde.“ (lacht).

Gnarr pflegte einen neuen Stil der Politik – und als Strategie zog er das Tao und das Wu Wei heran: Beleidigungen seiner Opponenten ließ er nicht nur an sich abprallen, sondern konterte ihnen mit Freundlichkeit. „Es tut mir leid, dass Sie glauben, ich wäre ein schlechter Bürgermeister“ antwortete er auf derartige Beleidigungen, „Aber ich halte mich für einen guten Bürgermeister. Ich will Ihnen erklären wieso, und ihnen auch sagen, dass Ihre Ablehnung auf Einseitigkeit beruht, ich halte sie für sehr fähig“. Auch antworte Gnarr auf Fragen, für die er keine Antwort hatte, mit einem einfachen und belächelten „Ich weiß es nicht“. All das ließ seine Prozentzahlen stetig nach oben steigen.

2014 war dann Schluss, sein letztes Projekt hatte er nicht mehr umsetzen können: Reykjavik zur militärfreien Zone zu erklären. Daran sei er gescheitert, vielleicht sei er auch manchmal zu mild aufgetreten in einigen Sachen. Man hätte ihn – und das nicht nur in Island – gerne in einer zweiten Amtsperiode gesehen, Gnarr lehnte ab. Nach vier Jahren ist also Schluss, die „Beste Partei“ hat er aufgelöst, seine Parteifreunde machen weiter, haben die Björt framtíð (Helle Zukunft) gegründet. Mittlerweile stellen wieder die Sozialdemokraten (Allianz) den Bürgermeister. Gemeinsam mit den Piraten, den Linksgrünen und Gnarrs Nachfolgepartei bildet die Allianz eine Vier-Parteien-Koalition. Während Gnarr, der nie ein Politiker sein wollte, sozusagen noch rechtzeitig davon gekommen ist, sind seine Freunde also dort gelandet: in der Berufspolitik.

Gnarr: „Ich sage nicht, dass ich kein Politiker bin, weil ich auf Politiker herabschaue oder keinen Respekt für sie habe, überhaupt nicht. Darum geht es nicht. Ich bin einfach keiner, ich habe nicht, dass was es braucht, ein Politiker zu sein. Ich bin eine kreative Person, ein Künstler, das ist meine Berufung. Andere haben die Politik als Berufung, das heißt nicht, dass du eine schlechte oder linke Person bist. Ich war einfach ein Outsider, der von draußen die Welt der Politik erfährt. Das ist so, als wenn ich eine Frau spiele: ich spiele gerne Frauen, bin aber selbst keine. Mein Ratschlag an meine Freunde und auch meine Kinder, an überhaupt jeden, ist: Mach, was dich glücklich macht – mach es. Und was immer du tust: Fokussiere auf die Dinge, die dir gut tun, die glücklich machen, das zählt. Ich habe keine Tricks, keine cleveren Ratschläge“. Darauf hin wirft Gnarrs Frau Joga ein: „Die Leute, die geblieben sind, haben es einfach mehr genossen, als wir es getan haben“.

Gnarr ist ein internationales Phänomen, Lady Gaga und Russell Brand zählen zu seinen Fans, Yoko Ono verleiht ihn dieses Jahr den  „Lennon Ono Grant For Peace“-Preis – und nicht nur in Island lebt die Hoffnung, dass sich Gnarr bei den nächsten Wahlen gar zum Präsidenten von Island wählen lassen könnte. Was er davon hält?

„Es ist einfach noch zu früh mir, das zu entscheiden: Ob ich überhaupt daran denken könnte“, so Gnarr. „Ich erhole mich immer noch von dem anderen Job. Meinen Bürgermeister-Posten aufzugeben, war wie eine Beziehung zu beenden. Es war okay, aber es ging einfach in verschiedene Richtungen. Es ist bittersüß. Und jetzt schon in eine andere Beziehung zu treten: das ist noch zu früh, ich brauche noch Zeit für mich. Aber ich bin schon gerührt, dass die Leute wollen, dass ich Präsident wäre. Oft frage ich mich auch, was für ein Präsident ich sein würde“.

„Ich bin auch sehr gerührt, und ich verstehe die Leute Islands auch, die Jón als Präsidenten haben wollen“, fügt seine Frau Joga an. „Sie bekämen damit nämlich einen lustigen und guten Präsidenten, der alle Regeln brechen würde. Zum Beispiel müssen ja alle Leute aufstehen, wenn der Präsident reinkommt – er würde da sicher interessante Sachen damit machen. Aber mir reicht es schon in einer Beziehung mit ihm zu sein“.

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