Mit Motetten und Marotten: Die Münchner ENGEL WIDER WILLEN musizieren zwischen der Klassik und Drum’n’Bass

„Nein, bei mir ist unten noch alles dran.“ Hermann Voges knarzt beim Sprechen zwar nicht wie ein schief angestrichener Kontrabaß, aber wann immer über seine Lippen eine gesungene Note kommt, drängt sich die Frage nach der Vollständigkeit seiner Manneskraft auf. Er gehört zu dem knappen Dutzend klassischer Sänger in Europa, die in der höchsten aller Männerstimmlagen singen – dem Countertenor. Mit seinem Münchner Quartett Engel Wider Willen hat er gerade das zweite Album eingespielt, und wieder erhebt sich sein Engelsgesang in Tonhöhen hinauf, die in einem – im weitesten Sinne – Pop-Kontext bislang nirgendwo zu hören waren.

„Engel wider Willen“ gab es bereits im 17.Jahrhundert: Damals war in den Kirchen öffentliches Auftreten von Frauen päpstlicherseits verboten, man wollte aber dennoch auf die hohen Stimmen in der klerikalen Musik nicht verachten. So wurden gesangsbegabte Knaben zu Hunderten kastriert, um ihren glockenhellen Sopran nach der Pubertät zu erhalten. Bei Voges ist an die Stelle eines Messers eine klassische Ausbildung der Kopfstimme getreten.

Die vier Münchner Engel haben eine klassische Musikausbildung absolviert, aber im Grunde sind sie eine Drum’n‘ Bass-Liveband mit Sänger: Vibraphonist Martin Ruhland und Schlagzeuger Thomas Simmerl trafen 1993 den Jazz-Bassisten Siegfried Rössert, jammten ein paar Wochen und stellten erstaunt fest, daß sie auf unentdedkte Schnittstellen zwischen Ambient, Jazz, handgespielten House-Loops und dem Motettensatz aus der marueristischen Hochrenaissance gestoßen waren. Dann ergänzte Voges das Trio und brachte mit seiner eigenwilligen Gregoranik und seinen archaischen Textversatzstücken die dunklen Seiten in der Paradigmenhistorie dieses Jahrtausends in die ohnehin verschrobene Musik der Engel.

Mit wenigen Ausnahmen – listige Verbeugungen vor ihrer bajuwarischen Herkunft in der Gestalt von Gänsebraten oder durchs Dorf getriebenen Säuen – handeln die Texte von archaischen Gefühlen: Krieg und Totschlag, Fegefeuer und Sinnsuche, Einsamkeit und Isolationsfolter. Ihr neues Album „Scheinheilig“ ist, wie auch die sperrigen, unberechenbaren Konzerte, eine Odyssee durch die Abgründe der Musik- und Denkgeschichte. Percussionsverliebt treiben die Himmelsboten durch eine barocke Dekadenz verschachtelter Polyrhythmen, aus der heraus sie nur deshalb wieder auf einen sicheren Pop-Nenner kommen, weil sie trotz verquerer Drum’n’Bass-Hektik und dreistimmiger Vokalakrobatik nie die Gelassenheit strukturiert denkender Notisten verlieren. Produzent Artur Silber mußte nächtelang geduldig die milimetergenaue beste Position für das Aufhahmemikrofon von Ruhlands Marimba finden. Fast alles ist live gespielt, allenfalls triggert Ruhland mal (selbst eingespielte) Samples und Loops von seinem MIDI-Vibraphon aus an.

Auf Michael Cretus Enigma sollte man ihn aber nicht ansprechen: Dessen Gregoranik-Samples stammen meistens von Aufnahmen des Musikwissenschaftlers Konrad Ruhland – Engel Martins Vater.

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