Rolling-Stone-Porträt

Moses Sumney: Was heißt schon Liebe?

Der Wert der Arbeit. Die Heiligkeit der Ehe. Geschlechtsidentitäten. Monogamie. Die Familie als kleinste Einheit der Gesellschaft. Von Bundestagsdebatten über die Homoehe und das bedingungslose Grundeinkommen bis zur Thematisierung von Polyamorie im „Tatort“ wurde im Mainstream niemals so viel Althergebrachtes zur Diskussion gestellt wie heute. Was die einen als Endstadium in der Selbstabschaffung eines dekadent gewordenen Abendlandes betrachten, bedeutet für andere die Hoffnung, ohne Revolution die Rahmenbedingungen einer Gesellschaft neu abzustecken.

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Niemals verliebt

Moses Sumney ist einer jener Menschen, die Normen und Traditionen nicht für ewige Wahrheiten halten. Sein Debütalbum hat er „Aromanticism“ getauft, ein relativ junger Begriff für das Gefühl, keine romantische Anziehung für andere Menschen zu empfinden. „Es ist ein Konzeptalbum über die Liebe, beziehungsweise über ihre Abwesenheit“, erklärt Sumney an einem regnerischen Sommermorgen in einem Hotelzimmer in Berlin. Der groß gewachsene Musiker wirkt angeschlagen. Eine Erkältung habe ihn wach gehalten, sagt er. Zwischen zwei Kopfschmerztabletten nimmt er seine Sonnenbrille ab, die müden, rot geäderten Augen blitzen herausfordernd: „Ich war noch nie – niemals – verliebt, weißt du? Und ich fragte mich lange: Stimmt etwas nicht mit mir? Auch um solche Fragen öffentlich zu stellen, habe ich diese Songs geschrieben.“

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Den sehr attraktiven und gleichzeitig unnahbaren 27-Jährigen umgibt die Aura eines Asketen. Mit seiner schwarzen Designerrobe, den schweren Stiefeln, der verspiegelten John-Lennon-Brille, dem goldenen Nasenpiercing und den wirr abstehenden Minidreadlocks kann man ihn sich auch gut als Wüstenprediger in einem endzeitlichen Actionfilm wie „Mad Max“ vorstellen. Bei seinem familiären Hintergrund hätte aus Moses Sumney auch gut ein Priester werden können.

Jugend in Ghana

Als Sohn eines Pastorenehepaars verbringt er einen Großteil seiner Kindheit in einer kleinen evangelikalen Kirche im kalifornischen San Ber-nardino. Als Sumney zehn Jahre alt ist, beschließen seine streng religiösen Eltern, mit den drei Kindern in ihr Heimatland Ghana zurückzuziehen. „Die beiden kamen nach Amerika, um uns zu kriegen, mochten das Land aber nie genug, um sich wirklich dort niederzulassen“, sagt Sumney, der heute nur noch sporadisch Kontakt zu seiner Familie hat.

In Accra, Ghanas Hauptstadt, versuchen seine Eltern an ihr altes Leben anzuknüpfen und eine Gemeinde aufzubauen. Obwohl er die Amtssprache Twi einigermaßen beherrscht, bleibt Sumney die Kultur fremd. Für ihn war es bereits zu spät, sich einzugliedern, meint er, zumal sein amerikanischer Akzent ihn sofort als Ausländer verriet. „Unser Lehrer schlug uns alle, aber mich schlug er besonders oft. Wie viele meiner Mitschüler war er der Meinung, ich würde mich für etwas Besseres halten, nur weil ich in den USA geboren bin.“

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Als in sich gekehrter Außenseiter entdeckt Sumney mit zwölf Jahren seine Leidenschaft für das Singen. Doch statt mit den flammenden Gospels seiner Eltern trainiert er seine außergewöhnliche Stimme ausgerechnet mit US-Countrypop, für den er fernab von Amerika eine Leidenschaft entwickelt. Die vor Kitsch triefenden Texte von Faith Hills „The Kiss“ und -Deane Carters „Strawberry -Wine“ kann er bis heute auswendig. Im Bus auf dem Weg zur Schule schreibt er an eigenen Liedern und Gedichten, versteckt die Ergebnisse jedoch in Notizbüchern unter seiner Matratze. „Ich war sehr schüchtern und sang nur für mich“, erinnert sich Sumney, der bis heute musikalischer Auto-didakt geblieben ist und sich das Gitarrespielen mit Video-tutorials beibrachte. Die Kunst war in seinen ersten Teenagerjahren nicht nur ein Halt in der Fremde, sondern auch das Tor zu einer Spiritua-lität, die mit dem Glauben seiner Eltern nichts zu tun hatte. „Ich begann damals diese Intuition für das Überweltliche zu entwickeln. Die Gewissheit, nicht allein zu sein, war ein großer Trost für mich.“

Höhere Energie

Mit 16 kehrt er in die USA zurück – ohne seine Eltern und ohne seine beiden Geschwister. In L.A. schreibt er sich an der Universität von Kali-fornien für den Studiengang Kreatives Schreiben ein und arbeitet nach seinem Abschluss als Werbetexter und Social-Media-Manager für eine auf Pizza spezialisierte Fast-Food-Kette. „Eigentlich ein guter Job“, sagt Sumney mit verschmitztem Lächeln. „Ich wusste trotzdem, dass ich ihn nicht lange machen würde.“ Wenn er gerade keine schmackhaften Foodporn-Fotos postet, arbeitet er weiter an seinem privaten Kammerpop oder sieht sich auf YouTube stundenlang Videos von Ella Fitzgerald und Nina Simone an. Er fühlt eine Seelenverwandtschaft mit den Sängerinnen, die an Herz und Fingern direkt mit einer höheren Kraft verkabelt zu sein scheinen: „mit Gott, oder wie auch immer man diese Energie nennen möchte“, so Sumney.

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Leonard Cohen, der ebenfalls von der spirituellen Durchdringung von Leben und Kunst überzeugt war, sagte einst den Satz: „Wenn ich wüsste, woher die guten Songs kommen, würde ich öfter dort vorbeischauen.“ Unterschied-lichste Künstler wie John Lennon, Tom Waits, -Ozzy Osbourne, Keith Richards und Maynard James Keenan sprachen in Interviews über das Gefühl, letztlich nur ein Medium zu sein, durch das die Musik ihren Weg in die Welt finde. Auch Sumney erklärt, dass es ihm manchmal seltsam vorkomme, in Interviews über seine Lieder zu sprechen, einfach weil er sich oft mehr als ihr Kanal denn als ihr Schöpfer erlebe.

Ich glaube, dass die Songs an einem höheren Ort entstehen

„Ich glaube, dass die Songs an einem höheren Ort entstehen. Vielleicht haben sie in Wirklichkeit gar nichts mit mir zu tun.“ Was nach abgehobener Koketterie eines vermeintlich Auserwählten klingt, relativiert sich sofort, wenn man Sumneys sakrale Popmusik zum ersten Mal hört. Über Harfen, Streicher, Gitarre und Jazzpiano lässt der Radiohead-Fan sein überirdisches Falsett gleiten, oftmals hört man ihn auch nur a cap-pella, mit Auto-Tune-Effekt oder im Duett mit geisterhaften Synths. Seine Musik klingt, als hätten Popol Vuh mit Marvin -Gaye gejammt oder Sigur Rós versucht, ein zeitgenössisches R’n’B-Album mit Jeff Buckley aufzunehmen. Sehr spärlich eingesetzte Beats verankern den an dünnen Fäden schwebenden Neosoul in losen Abständen am Boden. Nur selten, etwa im bereits 2016 veröffentlichten „Lonely World“, fächern zurückhaltende Breakbeats das Gefühl tief empfundener Kontemplation ein wenig auf.

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An die Öffentlichkeit geht Sumney mit seiner ätherischen Musik erst sechs Jahre nach seiner Rückkehr aus Ghana, im Alter von 22. „Ich hatte das Gefühl, dass ich es irgendwann wagen muss“, erzählt er. Nicht lange nachdem er seine erste EP, „Mid City Island“, im Frühjahr 2014 auf SoundCloud gestellt hat, werden Künstler auf ihn aufmerksam, von denen Sumney bislang selbst großer Fan gewesen ist: Beck bittet ihn, den Eröffnungs-song seines zuerst nur auf Papier existierenden „Song Reader“ einzuspielen. Beyoncés Schwester Solange lädt den Newcomer ein, an dem ihre Talente bündelnden Album „A Seat At The Table“ mitzuwirken. Sumneys zweite EP, „Lamentations“, erscheint am selben Tag wie Solanges Meisterwerk – nun nicht mehr im Eigenvertrieb, sondern auf dem Indielabel Jagjaguwar. Die Fünf-Song-12˝ endet mit einem auf Hebräisch gesungenen Stück mit dem Titel „Incantations“, eine Kombination zweier Gebete, die Sumney im Internet entdeckt hat. Obwohl er die Worte nur ohne Sprachkenntnisse nachahmt, ist das getragene Stück ein Höhepunkt seiner Auftritte.

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Es passt perfekt zu der faszinierenden Mischung aus Futurismus und archaischer Feier-lichkeit, die Sumney bei seinen meistens von ihm allein bestrittenen Konzerten zelebriert. Mit einem Loop-Pedal vervielfältigt er dort seine Stimme, vermischt sie mit verfremdeten Gitarrenklängen und schichtet alles zu wolkigen Kantaten auf. Wann immer es möglich ist, spielt Moses Sumney in Kirchen. Dort seien die Zuhörer instinktiv stiller und respektvoller, sagt er. „Ich ertrage keinen Lärm zwischen meinen Songs.“

Ich fühle eine stärkere Verbindung zu Gott als zu anderen Menschen

Die Liebe, die Sumney in seiner Musik auszudrücken versucht, ist nicht in allererster Linie -eine weltliche. „Ich fühle eine stärkere Verbindung zu Gott als zu anderen Menschen. Und die Frage, die ich mir stelle, lautet: Reicht das? Ist das okay? Und ist es überhaupt möglich, eine starke Verbindung mit etwas zu fühlen, das man nicht sehen kann?“

In „Doomed“, der ersten Single von „Aromanticism“, umkreist Sumney seine Ungewissheit in einer Art Dialog mit Gott: „From whence does fulfillment come?“, fragt er mit zarter und barmender Stimme. „I feel you/ But nobody else/ Though you’re someone I can’t see (…) If love-lessness is godlessness/ Will you cast me to the wayside?“

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Er möchte drei Ebenen in seiner Musik zusammenführen, sagt Sumney: eine emotionale, eine spirituelle und eine akademische. Unter Letzterer versteht er auf „Aromanticism“ das künstlerische Hinterfragen tradierter Formen des Zusammenseins, von denen das heteronormative Modell nur das gängigste sei: „Ist es natürlich, nur einen Partner zu haben? Ist es natürlich, überhaupt einen Partner zu haben? Sind überhaupt alle Menschen fähig, andere Menschen auf romantische Weise zu lieben? Es gibt offenbar viele, die gut ohne diese Liebe auskommen. Über die spricht man nur nicht.“

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Sumney beruft sich in seinen Gedankengängen auf die amerikanische Philosophin Elizabeth Brake, die für die Analyse dieser Fragen den zungenbrecherischen Begriff der „Amatonormativität“ geprägt hat. Mit ihm kritisiert die Professorin der Arizona State University die gesellschaftliche Annahme eines „Wir“, das als universelles Lebensziel eine „zentrale, exklusive und amoröse“ Paarbeziehung anstrebt. In ihrem 2012 veröffentlichten Buch „Minimizing Marriage“ fordert -Brake die Dekonstruktion unserer amatonormativen Vorstellungen. Sobald die Ehe und eheähnliche Partnerschaften nicht mehr privilegiert würden, so die Autorin, könnten andere Lebensentwürfe zu Normen unter vielen werden, etwa Singlehaushalte, polyamore und asexuelle Bedarfs-gemeinschaften, Mehrgenerationenfamilien, Freundesnetzwerke und weitere „urbane Stammesverbände“.

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„Aros“ wie Sumney müssten dann nicht mehr das Gefühl haben, gesellschaftlich stigmatisiert zu sein. „Ein Partner kann einen ja auch sehr ablenken: von Gott, von einem selbst“, sagt der Künstler, dessen Müdigkeit bei dem Thema ganz vergessen scheint. „Ich denke, es gibt viele Arten von Liebe. In den vergangenen 200 Jahren wurde sie jedoch zu etwas sehr Weltlichem. Heute dreht sie sich vor allem um Individuen, um persönliche Befindlichkeiten, um das Ego. Dabei denke ich, dass die Liebe in ihrer ursprünglichen Form etwas sehr Göttliches ist. Etwas Transzendentes.“ Einen Eindruck dieser Liebe möchte Moses Sumney in seiner Musik vermitteln. Ob man den attraktiven Asketen trotzdem eines Tages an der Seite eines Supermodels sehen wird, das weiß Gott allein.

 

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