Musik sehen

Ein Samstagnachmittag im Mai 1972. Sensationelles war angekündigt: Die Rolling Stones im Beat-Club mit ihrer aktuellen Single „Tumbling Dice“. Als Uschi Nerke die Band ansagte, sah man bereits im Hintergrund Mick Jaggers Kopf in Großaufnahme. Nerke entschuldigte sich noch schnell für die schlechte Tonqualität, und los ging’s. Sekunden später war ich bitter enttäuscht – und gleichzeitig seltsam fasziniert. Enttäuscht, weil ich fand, dass die Stones lausig spielten (ein Urteil, das der Ahnungslosigkeit des gerade 15-Jährigen geschuldet war). Fasziniert aber, weil ich sie erstmals in bewegten Bildern sah und unfassbar cool fand. Ein Vorgang, der damals einzig durch das Fernsehen möglich war: Der Bildschirm hatte meine Vorstellung von dieser Band entzaubert und im selben Moment verklärt. Vielleicht ist es genau das, was die Visualisierung von Pop so spannend macht – Wirklichkeit trifft auf Phantasie, Inszenierung auf Illusion. Sehen ist eben mehr als nur Hören, Pop mehr als Musik. Die Geburtstunde des Pop und die des Massenkommunikstionsmittels Fernsehen fielen nicht zufällig zusammen, beide waren füreinander geschaffen. Das zeigen allein schon die grandiosen Momente, die wir ab Seite 96 Revue passieren lassen. Nun aber, 50 Jahre nach Elvis‘ Aufstieg, der ohne das TV nicht denkbar gewesen wäre, und eine gute Dekade nach der großen Zeit von MTV, schauen wir uns Musik auf dem Laptop oder dem PC an. Pop hat sich ins Internet verabschiedet. Grund genug, Bilanz zu ziehen und zurückzuschauen auf Marksteine des Musikfernsehens wie Beat-Club, Rockpalast und Formel Eins. Und Grund genug, Leute wie Ray Cokes, Mark Stoermer (The Killers) oder MTV-Erfinder Bob Pittman nach dem Stand der Dinge zu fragen. Übrigens: Den eingangs erwähnten Auftritt der Rolling Stones gibt es bislang auf keiner DVD der Band zu sehen – dafür aber auf der diesem Heft beigefügten Beat-Club-DVD! Viel Spaß mit SOUNDS!

PS: Die nächste Ausgabe trägt den Titel „Cool Britannia“. Weniger poetisch gesagt: Es geht um den englischen Faktor – alles, was die britische Popmusik so anders, so besonders und so liebenswert macht.

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