Nach Einbruch der Nüchternheit

Die anarchiche Alltagskunst des literarischen Schelms Thomas Kapielski

Als Buchautor, Internet-Kolumnist, bildender Künstler, Stammtischphilosoph, Avantgarde-Musiker und Nasenflötist bildet der geistreiche Rhetoriker und Stilist Thomas Kapielski mit sprachlichem Witz und surrealem Blick die Banalitäten und Absurditäten das Alltags ab. Seine Kunst brachte ihm neben einer Stelle als Kunstprofessor auf Zeit und einer Einladung zum „Ingeborg Bachmann Preis“ auch Vergleiche mit Arno Schmidt und Eckhard Henscheid ein. Wir besuchten den Künstler in seiner Berliner Wohnung – und seiner Stammkneipe.

Thomas Kapielski hält das wilde Künstler-Ego mit seinem dezidiert bürgerlichen Äußeren in Schach. Heute trägt er braune Cordhosen, Hosenträger, ein feinkariertes, blutoranges Hemd. Als wir ein paar Stunden später hinuntergehen in seine Stammkneipe, „Zur Quelle“, zieht er sich noch Weste und braunes Wolljacket über. „Ich muss Form und Formen wahren“, erklärt er, „sonst werde ich irrsinnig.“ Jetzt bittet er mich erst mal in die kleine, helle, spartanisch ausgestattete Küche: Kühlschrank, Herd und Spüle, ein kleiner Küchentisch, drei Stühle. Anstatt eines Gewürzregals hängt ein maßstabsgetreues Foto von einem Gewürzregal an der Wand – „Küchenkomik“ heißt das Bild. Thomas Kapielski kann sich von seiner Kunst nicht trennen, kauft gelegentlich sogar seine Bilder zurück – mit dem entsprechenden Wertsteigerungsaufschlag. Hinter ihm hängt das „Finnische Aquarell“, von dessen Entstehung er in seinem Buch „Davor kommt noch“ erzählt: „Ich saß damals in Finnland in meinem Mückenkäfig einfallslos vor dem Pelikan-Tuschkasten, malte in Kompensationsabsicht pro Tag etwa zehn Halbe Pilsener im Willibecher vor Sonnenuntergängen, wobei Bier sich mit Tusche ziemlich naturgetreu darstellen lässt, und beschloss, sofort nach Berlin abzureisen, um dort eine hässliche Frau mit hübschem Geld zu heiraten.“

Hier wohnt er immer noch – bzw. wohnte er hier immer schon, mit kleinen Unterbrechungen. Und man hört es ihm an. Kapielski balinert freimütig und fragt jetzt, ob ich einen grünen Tee mittrinke. Ja, würde ich gern mal versuchen.

In den frühen Achtzigern hat er fast gleichzeitig als bildender Künstler und Experimentalmusiker begonnen und arbeitete eine Weile recht erfolgreich mit dem Neo-Dada-Frickler und Industrial-Pionier Frieder Butzmann zusammen. „Wir waren damals im Museum of Modern Arts und weiß der Kuckuck wo noch überall.“ Das Album „War pur war“ legt davon schepperndes Zeugnis ab. Und auch auf seinem neuen Hörbuch „Ringkompressor“ rumpelt und pumpelt es ein paar Mal gewaltig sinnlos oder auch bedeutungsschwer – wie man will. An seine künstlerische Initiationszeit in den 8oer Jahren erinnert, kommt er ins Schwärmen. „Wir sind da jeden Tag zu einer Ausstellungseröffnung gegangen, da war eine Euphorie, und parallel eben auch diese Musiksache. Kassettenproduktionen, jeder hat da was gemacht, da gab es so viele Anlaufstellen und Clubs, da war ich von früh bis spät im Fieber, hab unheimlich viel gemacht. Dummerweise war das die Vor-Google-Ära, deshalb gibt’s dazu so wenig im Netz. Ich habe neulich mal recherchiert über das ‚Zodiac‘ am Halleschen Ufer ein dolles Ding, da spielten Tangerine Dream, Plusminus, Sven Johansson, diese frühe Free-Jazz-Szene, Ummagumma und diese ganzen Bands, dazu gibt’s fast nichts.“

Kapielski füllt zwei große Wassergläser mit dem heißen Tee und stellt sie auf den Tisch, setzt sich, springt dann aber sofort wieder auf. „Zu heiß, da muss noch kaltes Wasser rinn.“ Offenbar hat er Durst.

Wenn die Veteranen von dieser Zeit berichten nicht nur er, auch etwa Peter Glaser oder Blixa Bargeld -, klingt das immer so, als hätte man sich damals durchaus als Teil einer genreübergreifenden künstlerischen Szene begriffen. Die Aufbruchsstimmung scheint alle Künste erfasst zu haben – sogar die Literatur. Kapielski stimmt zu und erzählt, wie seine literarische Sozialisation verlief.

„Ich habe immer gern und viel gelesen, und dann habe ich von Walser so ein Ding gelesen, da habe ich gedacht: Dit könnwa ooch! Da könnte man sich ja sogar sprachlich noch ein bisschen mehr reinschrauben, so wie bei Arno Schmidt oder bei dem Brinkmann in den Tagebüchern. Und dann schreibt man eine Diplomarbeit, und es entwickelt sich auf einmal so eine Begeisterung, an einem längeren Text Tag für Tag zu sitzen. Alle denken ja, das muss eine furchtbare Arbeit sein, aber es macht Spaß. Das habe ich dann also geschrieben und auch rumgeschickt, wie man das so macht, und schließlich bekam ich Antwort von Merve. Wir haben uns ein paar Mal getroffen, waren da immer im ,Slumberland‘ Bier trinken, und da wurde bei denen in der Wohngemeinschaft ein Zimmer frei, also bin ich da eingezogen. Das war so ein Lebensglück und eine Fügung, dass ich den Peter Gente von Merve kennenlernte, der unglaublich gebildet war. Der war so eine Art Regulativ.“ Der setzte ihn auf die Spur. „Kuck dir das mal an, da gibt’s schon jemand. Dann war ich in so einer Anti-Ödipus-Gruppe, wir haben also Deleuze/Guattari gelesen, alles also auch schon ein bisschen theoretisch unterfüttert, nicht nur rein expressiv. Auch Butzmann wiederum, den ich kennenlernte, war ja kein von null kommender elektronischer Musiker. Stockhausen, Strawinsky und so weiter, das war dem alles bekannt. Also auch diese Sache kam nicht rein aus dem Bauch. Und dann rief Erich Maas bei mir an. ,Ich kenne deine Texte aus der ,taz‘, du hast drei Monate Zeit, kannst ein Buch bei mir machen.‘ So kam das dann in die Gänge.“

Seine kurze Kolumnistentätigkeit bei der „taz“ wurde legendär, weil sie in einem Eklat endete. In einem Text hatte Kapielski eine Discothek als „gaskammervoll“ etikettiert und wurde daraufhin von den Gesinnungsethikern und linken Kannegießern exkommuniziert. Das hat sich ihm eingebrannt und eine hübsche Neurose gezeitigt, einen polemischen Beißreflex, wann immer er auf wohlfeile Gutmenschelei und pc-Phrasendrusch stößt. Noch heute wundert er sich, „wie maßlos überzogen das war. Mein Vater saß bei den Nazis im Gefängnis, da mache ich dann doch keine Werbung für sowas, das ist doch eine Unterstellung. Wenn sich jemand von der Frauenbewegung aufgeregt hätte – aber doch nicht so ein Nazi-Scheiß. Also ich war damals geradezu gekränkt und sprachlos.“

Dann folgten aber bald die ersten Publikationen – „Aqua Botulus“ bei Maas, „Der Einzige und sein Offenbarungseid. Verlust der Mittel“ beim Karin Kramer Verlag, die man nicht nur in den Berliner Kunst- und Underground-Zirkeln als Geheimtipps handelte. Schließlich der Durchbruch mit den zweibändigen „Gottesbeweisen“ bei Merve, „Davor kommt noch“ und „Danach war schon“, die ihm sogar eine Teilnahme am Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Gedächtnislesen einbrachten. Wenn auch keinen Preis. Was insofern kein Wunder war, als er seinen Beitrag nicht zuletzt dafür nutzte, gegen den Literaturbetrieb anzustänkern und sogar die Juroren nicht schonte. Ironisch beklagt er da sein böses Schicksal, wäre das nämlich etwas wohlwollender mit ihm umgesprungen, „dann brauchte ich mich heute, mit fast 50, nicht als debütierende Hochstirn auf verderbende Weise unter die Klagenfurter Jugend mischen und von Jury-Fuzzis durchleuchten lassen, die meine Nachkommen sein könnten!“

Kapielski ist ein ziemlich ausgekochter Rhetoriker und großer Stilist. Er hat sich eine ganz eigene, von Lutherschem Starckdeutsch infizierte, mit altväterlicher Gelehrsamkeit und wilhelminischem Pathos gewichste Protz- und Spreizdiktion erschrieben, die immer wieder übertönt wird vom gewitzigen Proletensound der Berliner Eckkneipe oder ironisch angeschrägt von forcierter, bisweilen durchaus alberner Sprachspielerei.

Es sei ihm „zunehmend egal“, schreibt er in „Weltgunst“, „warum, weshalb, worüber. Die Wahl eines Wortes und der Bau des Satzes wollen mir, wider die unermessliche Belanglosigkeit des allgemeinen Weltgeschehens, jetzt als das Zweithöchste gelten. Worte, die mit V vorneweg böse Schnitte machen: Vorschuss, Vietcong, Vierwaldstätter See, Vatikan … Oder verschärft mit Vogelpfau auf Mitte. Raviermewer.“ Henscheid fällt einem da gelegentlich als Gewährsmann ein, der frühe Arno Schmidt und Peter Rühmkorf in seinen Tagebüchern – wirklich zu vergleichen ist das dennoch nicht.

Hat er bis vor einigen Jahren – bis zu den „Gottesbeweisen“ – den „komischen Erzählonkel“ gespielt, so stockt ihm in seinen letzten beiden Büchern „Sozialmanierismus“ und „Weltgunst“ – und dem gerade erschienenen, zu großen Teilen daraus kompilierten Ästhetik-Reader ‚Anblasen‘-der narrative Atem. Die autobiografischen Geschichten sind zu Fragmenten und Miniaturen zerfallen. Er schreibt nunmehr ausschließlich Aufzeichnungen, Sudelbücher, wenn man so will: eine komplexe, kontrastreiche Mischung aus Lektürefrüchten, Meditationen zum gerade gelesenen Theorieschmöker, aus Skizzen, Alltagsilluminationen, Kunstbetriebsklatsch, Kneipendialogen, Aphorismen und immer wieder auch guten Witzen. „Es reichen also auch drei gute Gespräche“, schreibt er über die Beerdigung eines Bekannten, „dass man einem Manne die Ehre erweist, sich an sein Grab stellt und traurig ist, nicht öfter beisammen gesessen zu haben, und dankbar wirft man etwas Erde ins Urnenloch, spricht der Mutter das Beileid aus und diese sagt dann: ,Sie haben aber schöne warme Hände!'“

Aber wo sind die Geschichten geblieben? „Ich habe alle Erlebnisse schon notiert“, lacht er, „ich komme mit dem Erleben einfach nicht hinterher. Ich lebe jetzt einfach mehr in Büchern. Und nur immer über meine Dienstreisen zu schreiben, ist ja auch ein bisschen wohlfeil.“ Das Plotten liege ihm ohnehin nicht so. „Ich schreibe doch mehr durchgrübelt. Mir hat man auch mal ein Drehbuch angeboten, da habe ich mir dann was ausgedacht mit einer Waschmaschinenfirma, und da wird ein Karton angeliefert und da ist dann die Leiche drin, aber nee, ich kriege das nicht hin, da müsste ich mal Kreatives Schreiben belegen,“ Er lacht noch einmal laut auf. Er lese auch nicht so gern Belletristik. Die ist ihm zu gehaltlos. „Es sei denn, die Sprache, die Form funkelt! Immer lieber Theorie, Naturwissenschaft. Geschichte und die Biografien sehr gern; da staune ich dann: Mensch, der war in deinem Alter ja schon tot! Oder römischer Kaiser.“

Ich frage ihn nach seiner Arbeitsweise und nach den Entstehungsbedingungen vor allem der letzten Publikationen, der Sudelbücher. Er beschreibt zunächst das heterogene Material. „Das setzt sich aus tausend Teilen zusammen. Da gibt es Sachen, die schon mal in anderen Kontexten publiziert worden sind, die werden dann noch mal verändert. Man muss ja mit dem kostbaren Gut der Veröffentlichung auch wuchern.“ Er lacht. „Dann gibt es die Aphorismen, die sind in einer Kladde notiert. Wenn man mal eine gute Lektüre gehabt oder einen guten Witz gehört hat oder eine Zahlenspielerei.“

Wir gehen hinüber in sein Arbeitszimmer, und er zeigt mir eins dieser Notizbücher. Eine Collage aus Bleistiftnotaten, eingeklebten Zeitungsschnipseln, Zeichnungen. Einige Einträge sind mit grünem Buntstift durchgestrichen, das Zeichen, dass er sie verwertet hat. Er hebt diese Kladden auf, einmal weil er sie schön findet, zum anderen um „späteren Philologengenerationen Arbeit zu geben“. „Das ist also das Material. Und später wird das durchkomponiert. Ich komme mir da eher wie ein Musiker vor. Da werden zunächst mal die formalen Dinge beachtet, die Tonarten etc., und dann versucht man das zu ordnen, eine Einheit herzustellen, etwas Ganzes zu bauen aus verschiedenen Sätzen. Da wird nochmal ganz viel versetzt. Die einzelnen Texte bekommen eine Überschrift, dann noch intern eine Nummerierung. Für diese Ordnungssachen gibt es Pläne, die sehen aus wie Notationen von Stockhausen. Skizzen, die zeigen, was zusammenstehen soll. Und dann wird auch immer noch nachträglich was eingebaut, der Text wird gesättigt, genudelt. Denn auf einmal begegnet man ständig Dingen, die da noch gut hineinpassen. Vieles wird natürlich auch verworfen. Der eine Traum da.“

Ich schaue ihn fragend an. „Da gibt’s doch diese Anekdote. Ein Drehbuch-Autor sagt: .Mensch, ich träume immer die fantastischsten Drehbücher und vergesse die morgens wieder.‘ Ja‘, sagt ein Freund, ,dann musste das nachts gleich notieren.‘ Dann macht der das, steht auf und freut sich schon auf die Notiz, und es steht da: ,Mann liebt Frau.'“ Kapielski lacht mit. „Manchmal werden dann noch Fotos eingebaut und Zeichnungen, das ist dann wieder eine ganz andere Dimension. Je mehr man daran arbeitet, umso mehr arbeitet man daran, weil das ganze Buch im Kopf ist.“

Ein solcher Entstehungsprozess kostet Zeit. Kapielski gehört nicht zu den Saisonarbeitern, die jeden Herbst mit einem neuen Buch aufwarten. „Das sind ja ungeheuer komprimierte Texte. Ich weiß auch nicht, wenn so ein Buch fertig ist, ob ich nochmal eins schreibe. Das muss ich offen lassen. Ich möchte nicht an so einen Punkt kommen, wo man das einfach so machen muss, und dann würgt man sich da einen Blödsinn heraus“, er grinst hinterhältig, „der wahrscheinlich auch noch großen Erfolg hat.“

Aber bisher habe er dann doch immer wieder angefangen. ,Jetzt kommt ja auch die dunkle Jahreszeit. Ich stehe früh auf, und dann setze ich mich an den Computer, mir macht das Spaß, und bis mittags um eins habe ich dann schon sechs Stunden getippt. Außer man fühlt sich ein bisschen vermatscht, weil Stammtisch war…“

Dieses fragmentarische, aber nie improvisierte oder vorläufige Schreiben führt er gerade im Internet fort. ,Ja, der Blog“, er stöhnt und wiegelt ab, „den mache ich eigentlich gar nicht so gerne. Ich muss auch zum Glück nicht so oft. Ich will auch nicht so oft. Für mich ist das mehr so eine Art Taschengeld von Zweitausendeins, da ist die Miete schon mal bezahlt.“

Dennoch, Kapielskis Blog (www.zweitausendeins. de/writersblog/kapielski) ist nicht oder jedenfalls nicht inerster Linie schwarzes Brett oder Eigenbewerbungspodium und schon gar nicht Probebühne. Fulminant eloquent und gut abgehangen und also auch höchstens alle zwei Wochen teilt er hier mit, was ihm, zumeist lesend, widerfahren ist. Man könnte das fast eins zu eins wegdrucken und hätte ein neues Merve-Tasehenbuch. Kapielski gehört ja zu den wenigen Autoren, deren Bücher zunächst ins Taschenbuch gehen und dann erst im Hardcover erscheinen (bei Zweitausendeins). Dort dann immer leicht verbessert, mit weniger Druckfehlern, und vor allem mit vielen weiteren Fotos angereichert. Die sollte man nicht übersehen. Stilleben aus dem Irren-Alltag sind das: triste Hotelbetten, Nachttische, Papierkörbe, Wandlampen, laufende Fernsehgeräte etc. Sie dokumentieren gewissermaßen den profanen, trivialen Urgrund, den der Autor in seiner Kunst ganz dialektisch aufhebt.

Beim Gesamtkunstwerk Kapielski gehört das sowieso alles zusammen. Literatur und „optisches“ Werk gehorchen der gleichen ironischen Strategie. Mit großer Emphase schmeißt er sich zunächst als Künstler in die Brust und beansprucht die goldene Gloriole, baut sich aber so schräg vorm Leser bzw. Betrachter auf, dass man auch gleich die gekreuzten Finger hinterm Rücken sieht. Das hat Gründe. Für ihn ist die künstlerische Nobilitierung erklärtermaßen nichts weiter als eine Verabredung der kulturellen Marktschreier- und somit bloßer Zufall. „Gute Kunst setzt sich durch, weil man gut nennt, was sich durchsetzt“, lautet seine oft wiederholte Maxime. Und dafür sorgt

eben nicht die tatsächliche Qualität, sondern die Erfolgstüchtigkeit des Künstlers. „Man hatte mir mal einen Künstleraufenthalt auf Schloss Wiepersdorf angeboten, und da sträubte ich mich zunächst, aber dann haben wir da schöne Familienferien gemacht, und ich habe die Erfolgstüchtigkeit der Bildenden Künstler studieren können: Es gibt da so ein Jahrbuch, dicker Wälzer, stehen alle Stipendien drin, Bewerbungszeug, Künstlerverschickung auf lau. Es ist unglaublich! Und das kannten die dort gleichzeitig mit mir verschickten Künstler natürlich auch alle. Und dann abends: Warste schon auf Schloss Solitude? Schlecht ohne Auto in die Stadt zu kommen. Haste schon bei der Sparkassenstiftung? Kennste den? Der kann nicht nein sagen. Und dann hatten auch alle so laminierte Mappen zum Vorzeigen. Dann wiederum die Richtungsdebatten: Du musst unbedingt Fotos machen, aber große Formate und bloß kein Bromsilber… Also das war alles schon ganz schön gewieft.“

Kapielski hat noch einmal Tee nachgeschenkt und kommt jetzt auf das grundlegende „Problem der Moderne“ zu sprechen. „Bis Manet konnte man doch vor ein Gemälde treten und im emphatischsten Sinne, als Fachmann gar, von gut und schlecht reden.“ Die Moderne hingegen ist rätselhaft, hermetisch. Die Deutung des Werks wird plötzlich wichtiger als das Werk selbst. Jetzt müssten Fachleute die Artefakte absegnen, müsse die „Kunstdeutungsstaffel“ anrauschen und die fast weiße Leinwand mit einer Bedeutung autladen, die sie aus sich selbst heraus gar nicht habe.

Mit dieser Bedeutungslücke, die natürlich genügend Platz lässt für Scharlatanerie aller Art, spielt Kapielski gern in seinen eigen Arbeiten. Er liefert die ironische Selbstentlarvung gleich mit – etwa im aktuellen „Gesamtluftwerk“, dem aufblasbaren Gummi-Abbild seines literarischen Werks. Grandiose Idee, aber ein bisschen Koketterie ist dabei, denn gerade die Literatur nimmt er ja ziemlich ernst, die ist ihm durchaus mehr als „Bluff und Blase“. „Ich komme mir immer wie ein Rosstäuscher vor, wenn jemand mir meine Kunst abkauft. Bei Büchern ist das anders, die lege ich reinen Gewissens auf den Tisch. So mag wohl auch ein Maler der klassischen Zeit gefühlt haben: Soweit kann ich das, habe das Beste gegeben, die thematischen Anspielungen stimmen, die Gesichter sind frappant geworden, ist sein Geld wert, wird viel Freude machen. Literatur ist sowohl formal als auch inhaltlich gründlicher zu beurteilen.“

Dieses schlechte Gewissen ist wohl auch seiner etwas unorthodoxen Arbeitsweise geschuldet. „Ich sammle übers Jahr Ideen in einem Heftchen, ich habe ja kein Atelier, sondern mache das hier in meiner Küche. Das darf man ja gar keinem sagen. Ich kaufe irgendwann ganz viele Keilrahmen, Pinsel und Farben und so was und habe dann schon von vornherein so eine Zuversicht des Gelingens. Und so bastele ich in einer Woche 20 Dinger, anschließend kommt alles raus, und ich bin froh, dass erst mal wieder Ruhe ist.“ Er braucht auch den konkreten Auftrag, etwa eine Ausstellung. „Sonst fange ich gar nicht erst an. Ich will auch kein Atelier, ich kenne das ja von den Künstlern, die gehen dann jeden Tag dahin, lesen Zeitung, pflegen bei Terpentinduft ihren Müßiggang. Das kann ich mir gar nicht erlauben, das muss dann ja stehen.“

Trotzdem ist er seit einiger Zeit ganz gut im Geschäft. Vor allem sein Zürcher Galerist verkaufe gut. „Ich kriege dann immer einen Anruf.“ Er imitiert den Schweizer Dialekt. „Thooomas, irrch chab gute Narrchrirrchten. Es rchat jemand deinen ‚Castrop-Rauxel‘ gekaaauft.‘ -Ja, wer macht denn sooowas?‘ – ,So darfst du mrrcht fraaagen, Thooomas!“‚ Er lacht laut.

Ich schlage vor, eine Kleinigkeit essen zu gehen. Und Kapielski schlägt vor, in seiner Stammkneipe um die Ecke ein Bier zu trinken. Also machen wir das. Auf dem Weg zur „Quelle“ sprechen wir über die Kneipe als Gedankenumschlagsplatz und – so hat er es mal irgendwo etwas ironisch bramarbasierend formuliert – als „letzter Hort der freien Rede“. Er schmunzelt über die eigene Großsprecherei. „Ja, das stelle ich immer wieder fest. Es wird natürlich auch viel Blödsinn erzählt. Was mich in letzter Zeit beunruhigt, ist so ein neuer, ungenierter Antisemitismus. Die Juden sind schuld. Da schreite ich dann immer ein. Seid ihr blöd, wir haben doch hier gar keine Juden, was ist denn nun schon wieder mit den Juden? Das beobachtet man mittlerweile in den korrektesten Kreisen, natürlich immer unter dem Vorwand des Antizionismus. Kapital, Amerika, der Krieg im Irak, dastecken die Juden hinter, das kann ich nicht ertragen.“

Wir setzen uns an den ersten Tisch, nahe dem Eingang, etwas außerhalb der Kampfzone. Die „Quelle“ – „Meine Quelle“, grinst Kapielski – ist für einen frühen Donnerstagnachmittag schon ganz gut gefüllt. Drei Tische und der Tresen sind besetzt. Eine Frau im Jogginganzug versucht sich am Daddelautomaten. Und während wir hier sitzen, kommen weitere Gäste, die Kapielski freundlich begrüßt. Man scheint sich zu kennen. „Tschacka“, die spindeldürre, blondierte Thekenfrau mit der notorischen Eisenfresserstimme, die eigentlich Sabrina heißt, fragt nach einem forschen „Tach“, ob ich das gleiche nähme „wie er“. Also eine Flasche Flensburger, 0,5 l, ohne Glas. „Gib ihm mal ein Glas“, versucht Kapielski zu vermitteln, aber ich will mich hier nicht unbeliebt machen und lehne ab. Kapielski bestellt Hackbraten und bekommt Buletten, ich bestelle Leberkäse und bekomme Leberkäse, den sie mit einem energischen „Tschacka“ serviert. Daher der Name! Sie beugt einer möglichen Reklamation Kapielskis vor, indem sie die Achseln zuckt. „Ist zwar kein Hackbraten, aber egal.“

Wir kommen schließlich auf seinen vorherigen Job als Dozent zu sprechen. Sechs Jahre immerhin hatte er an der Kunsthochschule in Braunschweig eine Professur für „Spiel, Bühne und Performance“ inne. Sein derzeitiger Nachfolger ist Christoph Schlingensief. „Der ist natürlich nie da. War zu erwarten.“ Er habe seine Arbeit jedoch ernst genommen, würde das auch durchaus noch mal machen. „Natürlich aus finanziellen Gründen.“ Er lacht einmal mehr sein sympathisch dröhnendes Lachen. „Aber ich bin auch ganz froh, dass das erst mal aufgehört hat, das hat mich unheimlich gut wieder auf Trab gebracht. Man kriegt doch solche Verbeamtungserscheinungen, die würde ich jedem gönnen, so, sagen wir mal ab 60, hähä, davor ist das zu früh.“

Er erzählt, wie er überhaupt zur Professur kam: dass sich der Kunsttheoretiker Hannes Böhringer damals für ihn verwendet und ihm überhaupt erst den Tipp gegeben habe, sich dort zu bewerben. „Das ist sowieso der einzige Weg. Blinde Bewerbungen haben gar keinen Sinn. Ich wurde den Pädagogen zugeschlagen und saß da hinten ein bisschen abgesondert, bei den Handwerkern, mit denen ich auch prima klarkam. Das ist wunderbar, wenn man mit den Handwerkern klarkommt, da kriegt man auch immer alles, Lampen und weiß der Kuckuck. Ich saß da also in der äußersten Ecke, und dann kamen Studenten, die schon etwas von mir kannten. Und denen habe ich gesagt, ich weiß auch nicht genau Bescheid, den Schein unterschreibe ich euch, und ihr müsst damit zum Prüfungsbüro gehen und abkaspern, ob der was wert ist oder nicht. Lind so kamen eigentlich immer nur welche, die so richtig interessiert waren, gute Leute. Einer von denen hatte Bäcker gelernt und wurde dann immer gefragt, wie scheiße das war. Nein, sagte der, das war toll, Bäcker, morgens früh um vier, die Backstube riecht gut… Dann hat der zwei Kneipen gehabt in Speyer, und dann hat er sich bei der Kunsthochschule beworben, weil er so ein Filmfaible hatte, und ist also bei mir gelandet. Solche Leute saßen um mich herum, und die haben natürlich in Arealen Kenntnisse, die ich wiederum nicht habe. Computerprobleme zum Beispiel kennt man nicht mehr.“

Zudem habe er noch eine Vorlesung angeboten, eine dem eigenen Werk gemäß sehr abwechslungsreiche Veranstaltung, in der er Werke aus Musik, Kunst, Literatur und Philosophie vorgestellt habe. „Da konnte man sein mangelhaftes Abitur aufkäschern. Ich habe denen zu m Beispiel was vorgespielt, die kennen ja heute sowenig, das ist ganz erstaunlich. Also habe ich Avantgarde gespielt, mal was Elektronisches, aber auch Barock, Opern von Reinhard Keiser. Auch mal Musik von Adorno, ein paar Texte dazu gelesen. Und dann immer noch ein bisschen frei improvisiert, zur Aktualität von Studiengebühren zum Beispiel.“

Die Vorlesungen seien unterschiedlich gut besucht worden. „Je nachdem wie die das bekannt gemacht haben. Ich habe denen auch immer gesagt, wenn hier schon einer so was macht, dann müsst ihr das doch anständig annoncieren. In einem Jahr hatte ich sogar zehn eingeschriebene Gasthörer, ältere Herrschaften. Insgesamt waren das mitunter 50 bis 80 Leute.“ In seiner Studentenzeit sei die Vorlesung eher verpönt gewesen. „Diese autoritäre Struktur, einer erzählt, die anderen hören zu – die wollten lieber alle diskutieren. Ich dagegen habe das immer als angenehm empfunden, bin auch nach meiner Studienzeit immer noch hingegangen, habe da drin gesessen und einfach gute Einfälle bekommen. Nicht dass man da irgendwas abkupfert, sondern dass man inspiriert wird. Ich habe auch gerne Vorlesungen gegeben, im Grunde habe ich dabei am meisten gelernt.“

Eins vor allem habe er seinen Studenten mitteilen wollen. „Menschenskinder, ihr müsst das realistisch sehen. Es gibt nicht so viele Plätze für Berühmte. Man muss unheimlich viel Glück haben, einen Trend treffen, für Resonanz sorgen auf vielfältige Art. Wenn man einen Scheißgaleristen hat, und der kümmert sich nicht, haste schon wieder Jahre verloren. Wie bei einem Fußballer, falscher Verein, Verletzungspech, aus. Darum kümmert sich das Institut nämlich normalerweise nicht, und das finde ich ignorant, fast verdrängerisch. Es weiß ja kein Mensch, was aus den ganzen Absolventen tatsächlich wird. Wenn man das wüsste, vielleicht -würde das den Sinn der ganzen Institution in Frage stellen.“

Kapielski bestellt noch ein Flensburger, ich einen Kaffee. Tschacka bringt ihm den Halben und stellt mir auch einen hin. Kapielski kuckt mich fragend an, ich winke ab, aber in Getränkefragen wird kein Pardon gegeben. „Nee, er wollte doch einen Kaffee!“ Als Tschacka den Kaffee bringt und die leeren Teller abräumt, zeigt sie feixend auf das ungegessene Deko-Tomatenachtel. „Du bist wohl kein Tomatenfreund, wa?“ Einmal mehr kommt mir Kapielski zur Hilfe. „Kannst du es ihm bitte einpacken!“

Eine Stunde später sitze ich wieder im Zug und höre den Gesprächsmitschnitt ab. Ich transkribiere eine Passage sofort, weil sie mir so gut ans Ende des Artikel zu passen scheint. Wir sprechen da über den Nachruhm und wie man den zu bewerkstelligen habe. Ein Bestseller-Erfolg zu Lebzeiten ist wohl eher zweitrangig, wenn nicht gar hinderlich, weil das immer etwas anrüchig wirkt und die Strahlkraft des Kunst-Nimbus beeinträchtigt. Insofern stehen die Chancen bei ihm ja ganz gut, gebe ich zu bedenken.

„Ich hoffe doch!“ lacht Kapielski. Er wünsche sich schon, dass „wenigstens die Mormonen mein bescheidenes Werk mit auf Mikrofilm in ihr atombombensicheres Menschheitsreservoir hinabnehmen. Selbst wenn das dann nur durch unser restlos anorganisch gewordenes Sonnensystem schwirrt.“

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