Ohne Klang-Kosmetik & Kompression

Niemand weiß, wie und wann Blind Lemon Jefferson starb. Man nimmt an, daß er 1930 in Chicago bei einem Schneesturm erfror. Mit billigem Fusel abgefüllt, soll er an einer Straßenecke eingeschlafen sein, und man habe ihn dort erst Tage später gefunden, nach der Schneeschmelze. Geboren ca. 1897 in einem texanischen Nest als das jüngste von sieben Kindern, machte sich Lemon mit 15 oder 16 Jahren auf den Weg ins 65 Meilen entfernte Dallas. Er war allein, ohne Ausbildung und ohne Geld, er war schwarz und er war blind. Während sich im fernen Europa Millionen für Kaiser und diverse Vaterländer massakrieren ließen, fand Lemon in seinem beinahe aussichtslosen Überlebenskampf Halt an einer Gitarre. Er hatte eine hohe, aber dunkle Stimme voller Traurigkeit und Tragik, und er entwickelte in wenigen Jahren einen Gitarrenstil, der geschwind war und rhythmisch so unkonventionell, daß er bis heute erratisch in der Blues-Historie steht.

Fostforward. Ende der 20er Jahre hatte Jefferson mehr als 100 Songs verfaßt über Zuchthäusler und Huren, Gott und Gevatter Alkohol. Seine Platten verkauften sich dermaßen gut auf dem Markt für „Race Music“, vor allem im tiefen Süden, daß sichjefferson ein ausschweifendes Leben in den Bordells und Bars leisten konnte. Der mutmaßlich letzte Song, den er für Paramount aufnahm, war eine Bearbeitung der alten Texas-Ballade „Two White Horses In Line“: „Heart stopped, hands cold/ You heard coffin sound?/ Poor boy in ground“ – und dann: „There’s one favor I ask of you/ Please see that my grave is kept dean.“ Fast vier Jahrzehnte später wurde der Bitte Folge geleistet Seit 1967 markiert ein Marmorstein die Grabstätte des Blind Lemon Jefferson.

„See That My Crave Is Kept Clean“ ist nur einer von 84 Tracks auf „Anthology Of American Folk Music“, von denen jeder seine eigene Geschichte hat und von denen nicht wenige Geschichte schrieben. Die Dekade vom Jazz-Age der Mittzwanziger über die Weltwirtschaftskrise bis zu den Hungerjahren der Depressionszeit brachte Not und mit ihr Musik, die sich nicht zuletzt mit den Entbehrungen der Menschen beschäftigte. In die Zeit von 1926 bis 1934 fiel die erste mediale Massenverbreitung tradierter, bis dahin nur regional verbreiteter Spielweisen. Der Ursuppe mündlicher Überlieferung entstiegen Blues und Hillbilly. Old Timey Mountain Music, Gospel und Spirituals. Die schwarzen Scheiben, die sich 78mal in der Minute drehten, sorgten für Verbreitung und konservierten die konsumtiven Phasen des Folk für die Nachwelt.

Harry Smith, kein Feldforscher wie John und Alan Lomax, sondern Sammler und selbst noch ein Kind zum Zeitpunkt der Aufnahmen, suchte sich die ihn beeindruckendsten 78er aus, teilte sie grob in „Ballads“, „Social Music“ und „Songs“ ein, legte seine subjektive, mehr von Instinkt als von Wissen geleitete Auswahl in einer selbstgemachten Broschüre dar und veröffentlichte das ganze Paket erstmals 1952 auf Folkways. Die Mutter aller Folk-Compilations erschien auf drei Doppel-LPs, die mit der Eigenwerbung prahlten: „The tone – without the scrateh“. Was schon deshalb Blödsinn war, weil sämtliche Tracks von Smiths zigmal abgenudelten Original-78’s überspielt wurden. Und das Smithsonian Institute hält sich heute zu Recht zugute, bei der Digitalisierung der historischen Tondokumente auf Kosmetik und unnötige Kompression verzichtet zu haben.

„Let’s face it, all the stuff from the ’20s and ’30s and ’40s and ’50s has been reprocessed so it can fit onto a CD, and you don’t get the impact that it had when we played it over a record player with a needle on a piece of plastic or whatever it is, and it had impact.“ Diese wahren Worte sprach unlängst Bob Dylan, und natürlich treffen sie auch auf diese 6-CD-Box zu. Andererseits: Was die soziokulturelle Bedeutung dieser Musik betrifft und ihre schiere Vitalität, läßt sich die Sammlung nur noch von den homogeneren „Bristol Sessions“ übertreffen, jener berühmten Initialzündung im Sommer 1927, der wir unter anderem die frühesten Aufnahmen von Jimmie Rodgers und der Carter Family verdanken.

Letztere ist auch auf der „Anthology“ mehrmals vertreten. Dazu mythische Figuren des Ur-BIues wie Furry Lewis oder Blind Willie Johnson. Mississippi John Hurt, bevor er von der Bildfläche verschwand, um erst 30 Jahre später wieder „entdeckt“ zu werden. Charley (oder Charlie) Patton als The Masked MarveL die 5-String-Banjo-Attacken von Clarence Ashley, Uncle Dave Macon oder Dock Boggs, einem Bergarbeitet, der die Schufterei unter Tage liebend gerne gegen die Boheme eines Musikenjascins eingetauscht hätte, dessen religiös eiferndes Weib jedoch nichts wissen wollte von dieser Teufelsidee, Geld fürs Musizieren zu nehmen und bei Barndances und anderen öffentlichen Feiern der Frivolität Vorschub zu leisten. Die Falschspielerei und Schwarzbrennerei, derer ihr Gatte sich dann und wann schuldig machte, schien ihr Weltbild weniger nachhaltig zu erschüttern.

Der Appalachen-Fiddler und Bluegrass-Vorläufer Eck Robertson, der Country 8i Western-Pionier Ken Maynard. The Carolina Tar Heels und ihr 1929 aufgenommenes Sozialfanal „Peg And Awl“, die Moritat von „Stackalee“, besser bekannt eigentlich von John Hurt, hier aber gesungen vom weißen Hillbilly-Gitarristen Frank Hutchison (die Vorlage übrigens für Wilson Picketts Soul-Heuler „Stagger Lee“ 40 Jahre später). Nicht alles hier ist von überragender, übergeordneter Bedeutung, doch erfüllen auch die Novelty-verdächtigen Songs eine immanente Funktion und tragen nicht unwesentlich dazu bei, die Ära des Aufbruchs in der amerikanischen Folk Music ins kollektive Gedächtnis einzugravieren.

Die Musik auf „Anthology“ kulturprägend zu nennen oder ihr das Prädikat „Besonders wertvoll“ umzuhängen, wäre ein böses Understatement Nennen wir diese Sammlung milder und mahnender, wilder und wüster Songs aus grauer Folk-Vorzeit auch nicht „Compilation“, denn das meint heutzutage nur noch schnöde Zweitverwertung. Daran dachte Smith, der 1991 starb, zuletzt. „Had he never done anything with his life but this Anthology, Harry Smith would still have borne the mark of genius across his fbrehead“, urteilt JohnFaheyim beiliegenden Essay-Booklet, einer nützlichen, weil diskursiven Ergänzung zur ebenfalls mitgelieferten (im Faksimile!) Orginal-Broschüre Smiths. Der teilt hier großzügig seine Schellack-Schätze mit uns. Oder, wie Peter Stampfel in seinen Liner-Notes ganz unprosaisch jauchzt: „If God were a DJ, he’d be Harry Smith.“

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