Panikraum des Geistes

Die Literaturwissenschaftlerin und brillante Essayistin Silvia Bovenschen wagte sich im Angesicht des Todes an ihren ersten Erzählungsband

Zunächst mal ist man einigermaßen konsterniert. Die Frau, die in ihrem vorletzten Buch „Älter werden“ ebenso offen wie unlarmoyant über ihre schon Jahrzehnte währende MS-Erkrankung und die daraus resultierende Behinderung Auskunft gegeben, sich sogar in ihrem Rollstuhl hat ablichten lassen, steht mit einem herzlichen, leicht ironischen Lächeln in der Tür und macht einen Schritt zur Seite, um mich hineinzubitten. Ich versuche mir die Überraschung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Silvia Bovenschen sieht gut aus in ihrem hellen Hosenanzug, dezent geschminkt, mit dunkelroten Fingernägeln-viel zu gut, zu energisch und strahlend für das Bild, das man sich imaginiert hatte. Wieviel Kraft und Selbstbeherrschung sie diese kurze Vitalitätsdemonstration kostet, beweisen dann aber die unsicheren Schritte hin zu ihrer Gehhilfe.

Ich folge ihr in einen hellen, loftartigen, mit diversen Designklassikern stilvoll, aber heimelig ausstaffierten Wohnraum. Rechts die Chaiselongue, an der Stirnwand eine Küchenzeile, die von einem mächtigen Tresen halb verdeckt wird. Davor stehen zwei bequeme Sessel und ein kleiner Bistro-Tisch, darauf der aktuelle „Spiegel“ und ein blaugläserner Aschenbecher. Silvia Bovenschen raucht gern.

Ihr Werk ist schmal, hatte aber von Anfang an sein Publikum. Ihre Dissertation „Die imaginierte Weiblichkeit“ schraubt den feministischen Diskurs in Deutschland erstmals auf eine gewisse theoretische Höhe. Sie unterscheidet hier zwischen der realen Frau in der Geschichte und den von der männlichen Geschichtsschreibung produzierten Imaginationen und Wunschbildern von Weiblichkeit, die sich immer schon vor die Wirklichkeit stellen. Ein unmittelbarer Zugriff auf die weibliche Kulturgeschichte ist somit gar nicht mehr möglich. Diese Differenzierung gehört inzwischen zum axiomatischen Kernbestand des Feminismus.

Sie erschreibt sich einen Namen als Essayistin, macht ein Buch über Mode, als das innerhalb der Intelligenzia noch für degoutant gehalten wird. Sie arbeitet bis Ende der 90er Jahre als Dozentin für Literaturwissenschaft an der Uni Frankfurt, in einer subalternen Position, weil in der Bundesrepublik Behinderte nicht verbeamtet werden, ist dann für ein paar Jahre Jurorin beim Klagenfurter Bachmann-Preislesen. „Schlimmer machen, schlimmer lachen“, ihre gesammelten Essays von 1997, werden mit viel Beifall bedacht, einen richtigen, immerhin mit zwei Literaturpreisen gewürdigten Coup landet sie indessen mit ihrem Buch „Über-Empfindlichkeit“ (2000), in dem sie das meist unterschätzte Empfindungsphänomen der Idiosynkrasie in seinen vielen Ausprägungen beschreibt, ob als emotionales Frühwarnsystem, Katalysator für Produktivität oder in seiner eingeschliffenen Version als dumpfes Ressentiment.

Dann die Hinwendung zur Belletristik. Vor zwei Jahren veröffentlichte sie ihren grandiosen Notizenband .Älter werden“, eine luzide, stilistisch einmal mehr brillante, noch dazu wohlkomponierte Sammlung von Miniaturabhandlungen, autobiografischen Reflexionen, Glossen, Aphorismen, die zum Bestseller wird—wider Erwarten. „Zumal in Deutschland der Essay ja nicht so hoch im Kurs steht“, stimmt sie zu. „Ich habe gemerkt — durch Briefe und in Gesprächen—, dass sehr unterschiedliche Leute da sehr Unterschiedliches herausgeholt haben. Es gab Leute, die haben durchgelacht, es gab Leute, die fanden es furchtbar tragisch, aber doch schön. Ich habe nur immer gestaunt…“ Durchgelacht? Ja, ich hat‘ te eine Lesung, da habe ich fast die traurigsten Stellen aus dem Buch vorgelesen, und die haben gebrüllt vor Lachen. Ich kann es Ihnen auch nicht erklären, aber ich nehme das so, wie es war. Der Berliner würde sagen: Ooch jut! Mir ist alles recht. Aber ich habe an der Rezeption dieses Buches gemerkt, dass unterschiedliche Jahrgänge und Typen das Buch ganz unterschiedlich gelesen haben. Also, wenn man das planen wollte, man würde es nicht hinkriegen.“

Kürzlich ist nun ihr erster wirklicher Erzählungsband erschienen, „Verschwunden“, der in, Alter werden“ eigentlich schon poetologisch vorbereitet wird, sich also beinahe wie eine Probe aufs Exempel liest. Bovenschens Alter ego Daniela Listmann ist ernstlich erkrankt und fordert ihren Freundeskreis auf, ihr Geschichten vom Verschwinden zu erzählen, die sie in einem Buch sammeln will. In ihren Notizen spricht Silvia Bovenschen einmal von den „Fristen“, die man gewährt bekommt in den Momenten völliger Gegenwärtigkeit, in denen der Fluß der Zeit stillzustehen scheint. Und eben diese totale Gegenwart schenkt das Erzählen. Die Erzählungen handeln somit nicht nur vom Verschwinden, sie sollen es auch noch eine Weile aufhalten, den drohenden Verlust des Lebens vergessen machen. Man ahnt das autobiografische Fundament dieses Erzählkonzepts. „Ich war zu dieser Zeit in einer katastrophalen Verfassung. Ich habe ja MS und hatte da gerade meine zweite Krebsdiagnose bekommen. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben in einer absoluten Paniksituation. Ich bin kein ängstlicher Mensch im Großen und Ganzen, diese Situation war für mich neu. Und ich dachte wirklich, du kannst nicht dauernd Angst haben. Ich musste das, was da kommen würde, was ich zum Teil auch kannte, auf mich nehmen und gucken, ob ich da noch einmal durchkomme, und das Buch war mein Panikraum. Ich konnte meinen Geist da ganz drauf verwenden, ich musste mich disziplinieren.“

Nachdem sich ihre gesundheitliche Situation entspannt hatte, die Operation und anschließende Chemotherapie erfolgreich verlauten waren, begann sie, die Erzählungen untereinander zu vernetzen und den narrativen Rahmen zu bauen. „Danach kam eine wunderbare Zeit, dahabe ich rumgespielt, die Sachen verstrebt, Anspielungen eingewebt, zum Beispiel in einem Monolog mal das ganze Jakob von Hoddis-Gedicht, Weltende‘ durchdekliniert, das muss aber niemand merken, das waren dann die Spaße, die ich mir geleistet habe.“

Was diesem Buch fehlt, sind starke Charakterzeichnungen. Ihre Erzähler sind bisweilen ganz unsichtbar, zur reinen Funktion degradiert. „Sie können Figuren relativ schnell, durch Beschreibungen, durch Adjektive sozial und psychologisch ausstatten“, wendet sie ein. „Das habe ich ganz bewusst nicht gemacht. Mag sein, dass der Ausstattungsmangel eine gewisse Verkargung bedingt. Das wollte ich so. Es war ursprünglich noch viel karger. Dann habe ich es zwei, drei Freunden zum Lesen gegeben, und die haben gesagt: Bitte, bitte, kleine Hilfen …“ Aber selbst bei den drei Protagonisten, die sie am stärksten als Persönlichkeiten profiliert, denkt man eher an unterschiedliche Gemütszustände der Verfasserin. „Verschwunden“ liest sich über weite Strecken wie ein erzählerisches Selbstgespräch der Autorin – und weist so wieder zurück auf ihr essayistisches Werk.

Beim Abschied bitte ich sie sitzen zu bleiben, aber sie müht sich trotzdem in den Stand, stützt sich auf ihren Gehbock und begleitet mich zum Ausgang. „Nee“, sagt sie, als ich durch die falsche Tür gehen will, „na, sie können sich gern in meinem Schlafzimmer umsehen, aber da wollen sie wohl nicht hin.“ Sie grinst und hebt die Hand zum Gruß.

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