Parole Brandi: Das Gesicht der alten Dame

Unsere Kolumnistin wird 40 – und spürt, wie sich alles verwandelt.

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Ich habe ein Buch geschrieben und es handelt in gewisser Weise von „der Pubertät“. Meine Protagonistin Ella ist 16 Jahre alt und stellt das Leben und die Menschen fundamental infrage.

Ich selbst werde diesen Sonntag 40, und ich stelle fest: Es gibt mehrere Pubertäten im Leben eines Menschen. Gerade stehe ich an der Schwelle zu einer. Es gibt erstaunlich viele Ähnlichkeiten zwischen dem, was wir im Allgemeinen mit dem Wort bezeichnen, und der Lebensphase, in dich ich gerade komme.

Am fernen Horizont der Zellen zeichnet sich zum Beispiel ein ganz neues Gesicht ab. War in meinen Zügen mit 16 schon die Frau hinter ein bisschen Babyspeck versteckt, deren Gesicht ich mit 25, 30 Jahren erhalten sollte, entdecke ich heute beim Blick in den Spiegel hier und da schon einen Schatten der alten Dame, die als ganz eigenständiger „Gesichtstyp“ mit neuem Aroma hinter meinen Wangen und in meinen beginnenden Schlupflidern wartet.

Komische Gefühle

Aber nicht nur das, auch die Hormone fangen offenbar an, sich langsam zu bewegen und sich mit zunehmender Geschwindigkeit in den Tiefen meines Körpers umzurühren, als würde irgendein Miraculix in mir drin einen langen Löffel in einem Bottich voller Botenstoffe drehen. Komische Gefühle steigen plötzlich in mir auf, die sich anfühlen, als würden sie nicht zu mir gehören, von einem anderen Ort, aus einer fernen Zeit stammen, vielleicht sogar gar nicht aus meiner eigenen Biografie, sondern aus dem Leben meiner Vorfahren, meiner Ahnen?

Anders als in den Teenagerjahren lohnt sich mit 40 schon einmal der Blick auf das bisherige Leben, nein, er scheint sich quasi aufzudrängen – jedenfalls tat er das bereits bei meinen Eltern.

Kein Bock mehr auf Popkultur

Als meine Mutter 40 Jahre alt wurde, hatte sie gerade eine Lebenskrise hinter sich und stand an einem Scheideweg. Lange Jahre hatte sie als Radiomoderatorin bei WDR1 gearbeitet. Dieser Job hatte ihr viel Spaß aber auch viel Stress beschert, vor jeder Sendung war sie unglaublich aufgeregt, wie sie sich heute erinnert, und mit Ende 30 ging es ihr zunehmend auf den Wecker, immer in Sachen Popkultur up to date sein zu müssen. Bestimmte Themen hörten nach und nach irgendwie auf, sie zu interessieren.

Also begab sie sich auf die Suche nach etwas mit mehr Substanz und kam schließlich darauf, eine Ausbildung zur Heilpraktikerin zu machen. „Was für ein Wunder, unseren Körper nämlich, wir da mit uns herumschleppen, damit wollte ich mich näher befassen, das hat mich unheimlich interessiert“, meinte sie am Telefon, als ich sie nach der Zeit ausfragte, in der sie so alt war wie ich jetzt.

Für sie war diese Entscheidung die totale Kehrtwende. Von einem Leben zuerst als Bandmitglied in der politischen Rockband Cochise, dann als Radiomoderatorin (ihr wurde im Anschluss ein Job bei dem neu entstandenen Sender „1LIVE“ angeboten, auf den sie aber intuitiv keine Lust hatte), ging es nun quasi auf die Schulbank zurück, wo Anatomie gebüffelt werden sollte.

Sie hat in diesem Beruf insgesamt 20 Jahre lang gearbeitet.

Das ganze Geld mit Quatsch verdient

Auch mein Vater hatte mit 40 einen interessanten Wendepunkt zu verzeichnen. Als „die Jobs ausblieben“ und er sich „überlegen musste, ob ich wieder Taxi fahre, was ich leider total gehasst habe“, fragte ihn meine Tante Sabine Brandi, die schon viele Biografien durch einen schlauen Vorschlag zur richtigen Zeit gedreht hat, ob er nicht vielleicht eine Radio-Comedy schreiben wolle,  für WDR2.

So begab es sich denn, dass sich mein Vater mit 40 Jahren vorerst von seinen Rockstar-Ambitionen verabschiedete und den Piloten zu etwas schrieb, was ich im Rückblick als sein absolutes Masterpiece bezeichnen muss: eine Radio-Comedy mit dem Titel „Vom Winde Verwirrt“.

Man kann sie heute nur noch in Form einer CD im Internet bestellen, und ich möchte es hiermit jedem und jeder empfehlen, der/die einen Sinn für Simpson-bzw. Pumuckl-esken 90er-Jahre-Humor ohne jedwede politische Korrektheit besitzt. Und das dürften ja einige unter euch sein.

Über diesen Wurf, der in zwei Staffeln bei WDR2 gesendet und gefeiert wurde und in dem mein Vater zusammen mit seinem Kollegen Guntmar Feuerstein alle Rollen selber sprach und wo sowohl Filmmusik als auch Soundeffekte ihres Gleichen suchten, kam Papa an seinen nächsten, seinen eigentlichen Job, den er viele Jahre danach ausüben sollte. Er wurde von Sony Columbia Tristar als Drehbuchautor entdeckt und zusammen mit zwei Kollegen konzipierte und schrieb er für das Fernsehen RTL-Kultserien wie „Nicola“, „Alles Atze“ und „Ritas Welt“.

Kurz gesagt: Mama wurde 40 und wollte nochmal „was solides“ machen und wurde Heilpraktikerin (für manche Menschen ein Widerspruch, das ist mir klar) und Papa wurde 40 und verdiente ab da sein Geld mit Quatsch.

Und ich?

Musik als Schicksal

Nun, ich werde jetzt 40 und habe noch nicht so richtig eine eine Ahnung, was jetzt kommt. Offensichtlich habe ich angefangen, Texte und sogar Bücher zu schreiben. Das ist neu. Fühlt sich auch ein bisschen an wie das erste Mal, dass ich ein Alter erreiche, in dem ich sowas wie eine Chronistin der Ereignisse sein darf. Mit 30 wäre das lächerlich gewesen.

Auch die Musik will ihren Platz im Leben meiner Familie immer wieder neu erfinden.

Musik als Beruf ist und bleibt eine Zerreißprobe und damit stehe ich in diesen Zeiten wahrlich nicht alleine da.

Das Gefühl, dass Musik etwas so befriedigendes, deckungsgleiches mit meiner Essenz sein kann, wie sonst nichts und niemand auf der Welt, nichts so perfekt auf mir sitzt und eine Seite von mir offenbart, die ich als sprechende oder schreibende Person unmöglich ausleben kann und auf der anderen Seite die vielen, vielen Opfer, die dafür zu bringen sind, dass mensch sich regelmäßig fragt, ob es das noch wert ist, diese zwei Seiten ringen miteinander in so gut wie jeder musikalischen Biografie, die ich kenne und schätze.

Schreiben als Ausweg?

Worte zu schreiben und damit Geld zu verdienen, erscheint mir trockener, nüchterner, gnadenloser und auch irgendwie hilfloser als einen Song zu schreiben. Ein Song entzieht sich allem, er schwebt als Kaleidoskop der Emotionen im Raum, und je nach Lichteinfall, strahlt er uns unsere Stimmung in ihren ureigensten Farben zurück.

Ein Text ist klanglos, ungefähr und spröde dagegen.

Aber genau das beginnt mich anscheinend über die Zeit auch immer mehr zu faszinieren. Vielleicht übernehme ich von meinen beiden Eltern auch gerade genau das wesentliche ihrer mit 40 eingeschlagenen Pfade: Schreibend wie mein Vater will ich mich um substanzielleres als „nur“ Popkultur kümmern, so wie meine Mutter.

Am Ende raten wir wahrscheinlich unser ganzes Leben lang – oder um es mit Hape Kerkeling zu sagen (der überraschenderweise seinerseits auch mit um die 40 eine Heilpraktikerausbildung angefangen hatte, als gerade mal gar nichts ging): „Das ganze Leben ist ein Quiz und wir sind nur die Kandidaten…“

Noch ein wenig im Nebel meines bevorstehenden Geburtstages stehend, warte ich als neue 40-Jährige Generation jetzt also auf mein Stichwort.

Wahrscheinlich habe ich es längt bekommen.

Und wahrscheinlich hat es irgendwas mit Romanen zu tun.

Charlotte Brandi schreibt freiberuflich unter anderem für ROLLING STONE. Weitere Artikel und das Autorenprofil gibt es hier.