Parole Brandi: Radiohead sind der „Tatort“ der Intelligenzia

Erklärt sich unsere Persönlichkeit aus den kulturellen Vorlieben, die uns geprägt haben?

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Ich bin dafür, wir machen ein neues Horoskop. Äh, also ein Artoscope. Nach dem Motto: Sag mir wen du magst, und ich sag dir, wer du bist. Die unzähligen Studien, die zu dem Thema kulturelle Prägung und Korrelation mit Persönlichkeitsstrukturen gemacht wurden, sollen nicht umsonst gewesen sein. Sich einmal einlesen in den ganzen Scheiß, herausfinden, dass Picasso-Liebhaber heute angepasste Arschlöcher sind (damals zu Picassos Lebzeiten visionäre Entdecker waren). Dass Leute, die lieber ins Ballett gehen als in ein experimentelles Theaterstück zu Hause gerne in ihren Sessel furzen. Und dass Taylor Swift Fans echt zuverlässige, treue Freund:innen sind.

Aus welchen Künstler:innen wir im Laufe unserer Sozialisation „zusammengesetzt“ wurden, sagt definitiv etwas über unseren Charakter und unsere Lebensführung aus. Das wusste schon Nick Hornby, als er in „High Fidelity“ so treffend in bester Werbetextermanier formulierte: „It’s not what you’re like, it’s what you like.“

Wenn mensch nur wieder übt, die richtigen Fragen zu stellen, also etwa; Was hörst du so für Musik? Hast du einen Lieblingsfilm? Bei welchem Buch hast du das jetzt Mal geweint? Dann dürften sich Prozess wie Dating oder auch WG-Castings deutlich straffen lassen.

Tatort-Fans sind gute Mitbewohner

Ich glaube zum Beispiel, dass jemand, der oder die gerne regelmäßig den „Tatort“ schaut, eine Reihe von Eigenschaften besitzt, die in jeder Wohngemeinschaft höchst willkommen sind. Denn diese Person benötigt zum Beispiel schonmal einen gewissen Hang zur Routine und zu Ritualen, was das Zusammenleben mit ihr auf gewisse Weise kalkulierbar machen könnte. Dann mag diese Person im besten Fall auch noch andere Leute, denn das gemeinsame Schauen vom guten alten Tatort ist ja hier und da ein Ding. Und nicht zuletzt hat diese Person sicherlich ein großes Herz, denn sie muss vollständig gelassen über Fehler im Plot, eine bleierne Inszenierung und hier und da auch mal eher etwas abgehangene, anstelle von elektrisierend frische schauspielerische Leistung hinwegsehen können.

Es handelt sich beim klassischen „Tatort“-Fan also im besten Fall um eine Person mit großem Sinn für Rituale und Gemeinschaft und außerdem mit einer hohen Fehlertoleranz. Im schlechtesten Fall erwischt mensch auch mal jemanden, der/die gar nichts mehr merkt. Die Gefahr besteht natürlich auch.

Radiohead Fans sind vielleicht sowas wie die „Tatort“-Fans der Intelligenzia unter den Alternative-Hörer:innen. Du magst Routine? Kein Problem, seit 2007 klingen Johnny Greenwood und Thom Yorke verlässlich absolut gleich. Du hältst nichts von stichhaltigen Storys? Hier bist du richtig, denn, obwohl niemand rafft, was uns dieser Sänger mit seinen Lyrics eigentlich sagen will, verlässt der Glaube an den tieferen Sinn die Anhänger:innen dieser Band ebenso wenig, wie York und Greenwood über die Jahre ihre Vorliebe für zottelige Frisuren loswerden konnten.

Obacht bei Schlager-Fans

Und ich gebe es zu, ich bin auf so manche Sozialisation und Vorliebe schon neidisch gewesen. Eine gute Freundin von mir kann ernsthaft und ohne Ironie „Housewifes of Beverly Hills“ schauen und ist gleichzeitig eingefleischter Bob Dylan Fan. Spektral! Wenn ich sowas wie die Kardashians nur von weitem sehe, bekomme ich sofort ganz müde Arme.

Hier in Dortmund traf ich neulich einen alten Schulkameraden, der mir beim ersten Treffen noch erzählte, dass er Bach und Mahler möge (er ist Anwalt). Und da wäre ich doch fast drauf reingefallen. Etwas später fand ich dann heraus, dass der Typ am folgenden Wochenende zum „Schlagerboom“ in die Westfalenhalle ging. Und mir fiel im selben Moment das Handy aus der Hand, als hätte es plötzlich angefangen zu brennen.

Laut Studie sind Schlagerfans nämlich entweder alt und nett oder jung und dann aber leider  unberechenbare Psychopathen.

So einfach ist es doch nicht

Das, was mich an den Studien zu diesem Thema allerdings stört, ist das einfallslose Raster, nach dem die entsprechenden Rückschlüsse gezogen werden. Diese Studien setzen nämlich gleich, dass, wenn mensch etwas mag, was viele Menschen mögen, diese Person „weniger offen für Neues“, dafür aber „sozial kompatibel“ sei. Und wer Jazz und traditionelle Musik oder Steve Reich mag, ist direkt ein experimentierfreudiger, menschenfeindlicher Typ.

Hm, naja.

Wie wärs, wir gucken uns mal ein paar andere Kriterien an?

Beispiel: Wer als Mitte vierzigjährige Person immer noch die Band Juli hört, ist zwar wahrscheinlich schon etwas nostalgisch, mag aber möglicherweise auch einfach nur gerne Lieder, in denen es um Kalenderfragen und Wasser geht.

Oder: Gefallen dir die Bilder von Hilma af Klint, bist du vielleicht weniger spirituelle Visionär:in als vielmehr auf einer Waldorfschule gewesen. Weiche Konturen geben dir halt ein wohliges Gefühl.

Serien wie „Bridgertone“ oder „Game of Thrones“ schauen Menschen durchaus im Grunde vor allem wegen des Themas „Haare“ (kaum zu glauben, wie viele Karrieren auf Haaren fußen). Und die Bücher von Donna Leon sind einfach für Leute mit Geld, die trotzdem permanent Hunger haben wollen.

Also, mal wieder alles nicht so einfach wie gehofft.

Gute Unterhaltung

Ich für meinen Teil mag komische Musik (hatten wir ja alles bereits geklärt), dafür aber Literatur, die jeder Mensch versteht, also wiederum von Nick Hornby zum Beispiel. In meiner DNA stecken unter anderem „Ein Colt für alle Fälle“, „Die Nanny“ und „Die Gummibärenbande“, außerdem die Gemälde von niemandem (ich bin wenigstens ehrlich). Und trotz temporärer Arbeitsverhältnisse, wenn überhaupt, dann nur maximal ein halbes Theaterstück. Ganz klar finden sich dort noch die Spice Girls, „Buffy, im Bann der Dämonen“ und außerdem, und das fällt mir jetzt gerade erst wieder ein, eine ganz seltsame Serie namens „Ocean Girl“, die ich echt mal wieder sehen müsste.

Darin ging es um ein Mädchen, das mit einem Wal befreundet war und eine Art Nixenfähigkeit hatte. Sie trug ein zerrissenes Gewand, schwamm minutenlang unter Wasser zusammen mit ihrem riesigen Wal und mit wirkte dabei immer sehr freundlich… An dieser Stelle stockt allerdings meine bedeutungsschwangere Assoziationskette, dazu fällt mir irgendwie gar nichts Gescheites ein.

Aber das macht ja auch nichts.

Am Ende hat vielleicht doch Jim Henson, der Schöpfer der „Muppets“ recht, wenn er sagt: „Kunst ist dann gut, wenn sie unterhält.“

Und diesen Umstand gilt es vielleicht einfach tapfer auszuhalten.