Parole Brandi: Die stille Weltrevolution aus Rücksichtnahme

Wir brauchen in unserer Welt mehr leise und weniger laut, findet unsere Kolumnistin

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Im Grunde bin ich ein liberaler Typ. Echt jetzt. Live and let live, jeder soll machen, was er will. Aber dann gibt es diese Phänomene, die kriegen mich dann doch klein.

Zum Beispiel auf dieser ehemaligen Bahntrasse in Dortmund, die heute ein Spazierweg ist. Da kann man gefühlt stundenlang unter vermoosten Bäumen (in Dortmund ist ja alles vermoost, das liegt unter anderem an den „gebenden Südwestwinden“, aber das ist eine andere Geschichte) geradeaus wandern und sich einbilden, das hier wäre Natur.

Schlüsselkinder und Drogendealer

Neben kleinen alten Frauen, die wie Schlüsselkinder lächelnd über den Weg schlurfen, ihren Haustürschlüssel sicher an einem neonfarbenen Uhrenband um den Hals, und gelangweilten Jugendlichen, die auf der Bank lungern und breitbeinig ins Handy stieren, gibt es noch einen dritten Typ Mensch, der mir hier aufgefallen ist: der mittelalte weiße Mann mit Boombox auf dem Rad.

Das verstehe ich nicht: Warum setzen sich Typen um die 50 auf ein Elektrofahrrad, schieben sich eine Drogendealer-Hooligan-Sonnenbrille auf die geäderte Nase und sind offenbar der Meinung, dass uns alle brennend interessiert, was sie in ihrer Freizeit für Musik hören? Wie kann man es erklären, dass sich jemand so dermaßen entitled vorkommt, dass derjenige seinen geschmacklosen Schallschmutz auf unschuldige SpaziergängerInnen ablädt?

Schockwellen aus Scheiße

Ich sehe keine Frauen, die das machen. Obwohl es sie sicher geben muss, denn irgendjemanden werden solche Ekelpakete auf Rädern schon daten. Wenn es wenigstens gute Musik wäre! Aber das ist sie nie. Immer ist es entweder stampfender Schlager, der an einem vorbeiweht wie eine akustische Schockwelle aus Scheiße. Oder wirklich tief beängstigender Elektro-Nazi-Rock-Schranz-Punk, der nur noch die Bedeutung „alles kaputtmachen“ zu haben scheint.

So oft wäre ich auch gerne ein Mann. Meine Einsamkeit würde ich einfach mit Bier runterspülen, mein kleines Selbstwertgefühl würde ich mit Touren auf meinem Elektrorad aufmöbeln, bei denen ich laut meine Lieblingsmusik für alle hörbar aus einer mobilen Box dröhnen lasse. Zusammen mit meiner ultracoolen Sonnenbrille, meinem grauen, fleckigen Fleece-Pullover und meinen speckig gewordenen, schlecht sitzenden Jeans würde ich mich ganz allgemein als kernigen Typen präsentieren, für alle, die es einfach noch nicht gecheckt haben.

Meredith Monk als Köder

Nur glaube ich, dass ich (genau wie bei den meisten männlichen Privilegien) der Sache noch einen Twist geben würde. Hätte ich wirklich nicht von klein auf die Unsicherheit in mir aufgesaugt, dass ich mein Umfeld in Sicherheit zu wiegen habe und von anderen Menschen nicht gemocht, dann wenigstens nicht beachtet werden darf, dann würde ich mich nämlich noch ganz andere Sachen trauen.

Oben ohne, mit einer Torte als Hut und einem Hahn auf der Schulter, würde ich auf einem Araberhengst den Spazierweg entlang traben. Auf dem Rücken als Rucksack eine Aktivbox, aus der Meredith Monk ertönt, zwischen meinen Schenkeln ein Vibrator, unter beiden Füßen anstelle von Schuhen je ein Massagegerät. So würde ich provozierend langsam durch die Straßen reiten, laut mitsingen, am besten durch ein Headset-Mikrofon, das direkt mit in die Box geht, und dann einfach darauf vertrauen, dass Gleiches Gleiches anzieht, lol.

Ein Zukunftsregime weiser alter Damen

Gibt es wohl nennenswert viele Frauen, die dermaßen entitled durch die Stadt fahren und allen ihren Lärm aufdrücken? Dachte auch nach dieser Begegnung wirklich: Könnten wir halt echt mal machen, oder?

Oder auch einfach: nicht!

Denn: In dieser langsam aber sicher in die globale Pathologie abrutschenden Welt wird gerade die gute alte höfliche Zurückhaltung und die Rücksichtnahme auf andere zur eigentlichen Revolution. Was ich wiederum sehr poetisch finde.

Jemand Kluges hat in einem Interview, was mir kürzlich reingespült wurde mal auf die Frage, was glauben Sie, was ist das, was die Welt jetzt noch retten kann, gesagt: „Nur noch der flächendeckende Skill, die eigenen Emotionen selbstständig zu regulieren. Das können die wenigsten und darum ist jetzt alles wie es ist.“

Die Zukunft gehört vielleicht doch den still lächelnden, alten, weisen Damen, die mir beim Spazierengehen nicht direkt auffallen, die einen aber an der Kasse vorlassen und im Garten liebevoll ihre Blumen gießen.

Let’s be one of those, rather.

Love,

Charly

 

 

 

 

Charlotte Brandi schreibt freiberuflich unter anderem für ROLLING STONE. Weitere Artikel und das Autorenprofil gibt es hier.