Parole Brandi: Warum ich nicht zum Abi-Treffen gehe

Unser Kolumnistin hat zugesagt: Aber eine Wut, die in einem alten Manuskript schlummert, hält sie ab.

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Auf der Liste meiner Healing Journey stand ganz bestimmt nicht das 20jährige Abi-Treffen 2025. Und bevor jemand ausflippt: Es ist erst morgen, also, ich kann (noch) über nichts Konkretes berichten.

Ich sitze hier, und die Fragen spielen Billard in meiner Birne. Warum hab ich da zugesagt? Warum musste ich von allen Städten eigentlich wieder zurück nach Dortmund ziehen? Nun hab ich meine Freundin Jule schon bei mir einquartiert, jetzt muss ich da morgen auch hin. Was spricht denn eigentlich dagegen, sich eine kleine Gehirnerschütterung auf dem Weg zum Bäcker zuzuziehen? Jeder würde es verstehen… Moment – wirklich jeder?

Gerade bin ich bisschen wortdumm und wäre fast am Erstellen dieser Kolumne verzweifelt, wenn mir da nicht DIE IDEE gekommen wäre, wollt ihr sie hören?

Astrid Lindgrens Wut

Um mein Gefühl zu meiner alten Stufe zu beschreiben, habe ich im Ur-Manuskript von FISCHTAGE (mein Debütroman, draußen seit dem 27. März 2025 bei Park X Ullstein) herumgewühlt und musste richtig lachen, weil, es gab ja, bevor es Pippi Langstrumpf gab, wie wir sie kennen, eine „Ur-Pippi“, die Astrid Lindgren ums Verrecken nicht losgekriegt hat, weil diese Pippi einfach zu krass drauf war. Also wirklich jetzt. Die war noch ausschließlich einfach kacke zu allen, hat jedem einen doofen Spruch gedrückt und hatte noch nicht diesen Robin Hood-mäßigen Beschützerinstinkt ausgebildet, mit dem sie dann nachher brav die bösen Bullies auf die Bäume geworfen oder Polizisten den Weg nach draußen gezeigt hat.

Die Ur-Pippi enthielt noch offenkundig jede Menge von der lodernden Wut einer gewissen Frau Lindgren, die sie dann schnellstens abschleifen durfte, um das Ding überhaupt loszubekommen. The rest is history.

Anwälte! Kurz mal weggucken!

So und sowas ähnliches habe ich hier in meinem Fall auch (bloß ohne Weltruhm, Details!). Ella, die sechzehn Jahre alt ist und in Dortmund lebt, geht auf das Stadtgymnasium. Zufällig ging auch eine gewisse Frau C. Brandi dahin. Und zufällig musste eben diese Frau knapp zwanzig Jahre später ihr komplettes Manuskript umschreiben, damit sie nicht von den mittlerweile-Anwälten aus ihrer Stufe verklagt wird.

Bin in der Zwickmühle. Zeige ich euch jetzt mein Originalmanuskript, werd ich meines Lebens nicht mehr froh und kann das Abitreffen morgen knicken. Aber die Versuchung, wenigstens ein Kapitel zu zeigen, was es nicht in den Roman geschafft hat, ist einfach zu groß und außerdem liegen hier mindestens zwölf davon auf Halde, nicht nur zum Thema Stadtgymnasium, sondern auch zu Themen wie Dortmund oder dem Westfalenpark …

Okay, dann zeige ich euch erstmal als Vorstufe ein Kapitel über den Westfalenpark, das es nicht ins Buch geschafft hat. Es zeigt Ella und ihre Clique, die aus ein paar Außenseitern besteht und einen gewissermaßen „typischen“ Abend im Westfalenpark Dortmund mit dramatischem Ausgang!

Viel Spaß!

Die Sache mit dem Bein

Erinnerungen an den 7. Juli

Eine laue Nacht. Der Westfalenpark liegt still und schwarz vor uns, wie ein gigantisches dunkles Loch in der nächtlich glimmenden Stadt.

Wir klettern alle vier über den Maschendrahtzaun, Kotsche als Letzter, schmeißt noch erst die Pappbecher rüber. Dann wackeln wir in so einer Mischung aus Hocken und Gehen vorsichtig durch das Gebüsch, warten kurz, ob auch kein Aufseher kommt, und dann rennen wir auf Kommando von Felix los über den Gehweg und den Abhang runter auf die nasse Wiese.

Unten in der Senke angekommen, setzen wir uns ins Gras. Es ist zwar hier auch dunkel, aber der Mond und die Lichter vom Fernsehturm sorgen dafür, dass wir unsere Umrisse erkennen können. Felix gießt sich als Erster einen Plastikbecher voll und stellt ihn vor sich ins Gras. Dann macht er die Taschenlampe an seinem iPhone an und lehnt es so schräg an seinen Becher, damit wir immer sehen wo der Korn steht. Dass der ein iPhone hat spricht Bände, denke ich in dem Moment.

Potenzielle Amokläufer

Carla und Felix gehen auch aufs Käthe, wie Kotsche, aber in seine Parallelklasse. In seiner eigenen Klasse spricht Kotsche nur mit den anderen Schülern, wenn er sie sowas fragen muss wie „Was haben wir jetzt?“, oder „Hast du mal ‘n Stift?“. Die gesamte Klasse und er halten sich, glaube ich, gegenseitig für potenzielle Amokläufer.

„Ist einfach sackschwer gutes Material zu finden“, sagt Kotsche immer. Und mit „Material“ meint er „Freunde“. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich es hin und wieder merke, dass Kotsche mich schon als eine Freundin betrachtet. Aber es hilft nichts, ihm reicht wohl das allabendliche Rumgehänge dafür, dass er jemanden zu seinen Freunden zählt. Für mich gehört da eben noch das Anschreien mit dazu. Und das kann ich ihm einfach nicht antun.

Carla und Felix sind nach eigener Aussage Punks. Sie lesen Bücher von Anarchisten und hängen regelmäßig im „Platzhirsch“ rum. Sie chillen dort mit noch älteren Punks, die ihnen so beknackte Punkernamen gegeben haben. Aber die schreib ich hier nicht hin, das ist einfach der Abgrund der Peinlichkeit. Leider heißen sie nun mal Carla Büsche und Felix Perlemann und gehen aufs Gymnasium. Und bis sie das nicht hingeschmissen haben und mitten in der Stadt auf einem Schäferhund pennen, nenne ich sie auch so. Warum sollten sie es da besser haben als Robert Zimmerman.

Carla und Felix

Und so sehen die beiden aus: Carla ist dünn, hat einen leichten Überbiss und neuerdings einen Undercut, über den sie struppige lila Strähnen wachsen lässt.

Felix ist riesengroß, trägt einen straßenköterblonden Iro, den er nie hochstellt, sondern immer schlaff auf einer Seite runterhängen hat, eine Nickelbrille und fleckige, meist helle T-Shirts über einer gleichfarbigen Hose, sodass er um Baugerüste von Malermeistern immer einen großen Bogen macht, weil er sich einbildet, die würden ihm sonst einfach Gerät geben weil sie denken, er arbeitet da. Und er riecht nach ranziger Margarine.

Wir vier sitzen also in der Dunkelheit im nassen Gras, hören über das Schrotthandy von Carla irgendeine von diesen unaussprechlichen Punkbands.

Carla und Felix fangen bei manchen Liedern an, die Strophen erst leise mitzumurmeln, dann grinsen sie sich an, halten sich synchron unsichtbare Mikrofone vors Gesicht und schreien den Refrain mit so Musikvideo-Gesichtern und aufgerissenen Mündern da hinein.

Abhängen

Wir drehen uns eine Kippe nach der anderen und trinken dazu Korn. Ich gucke rüber zu Kotsche. Der sitzt da wie ein alter Mann, ich kann mir nicht helfen. Manchmal erinnert er mich sogar ein bisschen an den alten Eckard. Irgendwas in seinem Körper, der irgendwie friedfertig so genau da sitzt, wo er eben sitzt und nirgendwo anders Luft verdrängen will als genau hier. Und um seine Mundwinkel herum; die sind außen leicht gekräuselt, sodass Kotsche immer irgendwie verschmitzt aussieht. Seine Mutter ist Koreanerin, von ihr hat Kotsche den dicken schwarzen Pferdeschwanz und die schwarzen schmalen Augen geerbt.

So sitzen wir also da im nassen Gras und saufen. Zwischendurch gibt es immer dieses minutenlange, alles zusammenhaltende, weich gedehnte Gummiband aus Schweigen, das eben nicht unangenehm ist. Das nennt man „Abhängen“, für die unter euch, die das noch nicht wussten.

Nur Erwachsene sind so doof, immer irgendwas labern zu müssen, damit sich der Abend nach was anfühlt. Dabei fühlen sich diese Abende am Ende nach gar nichts an. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber in meiner Brust breitet sich über die vergehenden Minuten hinweg die ganze Wucht des Moments aus, wenn ich zwischen den anderen nur so dasitze, rauche und ganze Büschel Grashalme zerrupfe und langsam wie kleine Heuballen vor meinen gekreuzten Beinen stapel. Es entlastet mich, wenn die anderen irgendeinen Scheiß machen und ich mal nur so dabei sitzen kann und nichts zur Unterhaltung beizutragen brauch, außer im richtigen Moment zu grinsen.

Wie Punks streiten

Aber irgendwann fangen Carla und Felix immer zu streiten an. Keine Ahnung, worum es nochmal ging. Die streiten sich nämlich sogar punkermäßig, das ist wirklich behämmert. Normale Menschen streiten sich ja, weil sie irgendwas verdealen wollen, was ihnen wichtig ist oder weil der Streit was über ihre Einstellung zu den Dingen und der Welt aussagt.

Aber weil Punks nichts wichtig ist, streiten sie zum Beispiel darüber, ob man den Unterschied zwischen H-Milch und Frischmilch im Kaffee schmecken kann oder nicht. Und denkt ja nicht, dass diese Streits um ein Haar weniger verbissen geführt würden, als ginge es in anderen Kreisen um sowas wie den Atomausstieg, oho, nein.

Niemals habt ihr zwei Menschen so erbost gesehen, wie wenn der eine Punk zum anderen sagt:

„Sag mal, bist du blöde? Man schmeckt den Unterschied ja wohl total raus, H-Milch schmeckt einfach voll scheisse im Kaffee! Sach ma – hamse dir als Kind feste die Zunge verbrannt oder was??“

Und der andere dann:  „Ey, der Kaffee, den du kochst versaut ja wohl jeden Milchgeschmack, da könntest du mir reinwichsen, ich würd´s nicht merken“ – na und so weiter.

Tabak zündet

Kotsche und ich hatten uns erst weise da rausgehalten. Aber dann, ab einem gewissen Moment, an dem die Diskussion der beiden bereits den Punkt des Erträglichen zu überschreiten droht, fällt Kotsche aus mir unerklärlichen Gründen mit ein in diesen Streit. Ich drehe mir kopfschüttelnd noch eine Zigarette. (Ich glaube, es ging vielleicht um den Preis irgendeiner Tabak-Sorte, aber fragt mich nicht. Ich bin froh, sagen zu können, dass ich auf meiner Festplatte noch Platz für Sinnvolles übrig habe. Da ich pflege derlei Dinge zu vergessen.)

Jedenfalls – ob es am Korn lag oder am Thema, die beiden Jungs verkeilen sich also lautstark immer weiter ineinander. Carla ist irgendwie seit ein paar Minuten weg, ich meine mich zu erinnern, dass sie pinkeln gehen wollte.

Plötzlich steht sie vor mir und streckt mir ihre Hand entgegen.

„Ey komm ma‘ mit, da oben is ’n Karussell!“ Ihr schmales Kobold-Gesicht leuchtet im Mondlicht ganz aufgeregt. Sie zieht mich am Arm und ich denke mir dies: Lieber mit der bekloppten Carla ab aufs Kinderkarussell, als neben den zwei Angebern noch länger in der Nässe hocken.

Das blaue Karussell

Und schon stolpere ich hinter der angetrunkenen Carla her, den Abhang wieder rauf. Ich bin auch blau, stelle ich fest. Und nichts an dieser Erkenntnis gibt mir auch nur irgendwie zu denken. Da sitzt Carla auch schon kichernd in dieser schmucklosen, runden Stahl-Drehscheibe auf einem der eingelassenen Sitze und schreit „Anschubseeeeeen!“

Ich fasse also das kalte Metall an, stemme meine Füße in den Boden und fange an, das Ding zu drehen. Der erste Schwung ist noch schwer, und ich keuche „Geh mal in die Mitte“. Und Carla klettert glucksend von einem der Sitze zur Mitte der Drehscheibe. Woraufhin es mit dem Drehen überhaupt kein Problem mehr ist. Ich drehe und drehe. Und jetzt bekomme ich den kalten Stahl kaum mehr zu fassen, und das Karussell fliegt unter der zusammengekauerten Carla nur so um seine eigene Achse…

Carla stößt einen langen Pfeifton aus, der klingt wie ein Wasserkessel. Und ich stehe schwankend neben dem Karussell und warte ab, bis Carla zuende gepfiffen hat und das Karussell so langsam geworden ist, dass ich das Stahlgeländer wieder zu fassen kriege. Und dann steht das Ding wieder still.

Ein ungewöhnliches Talent

„Jetzt du!“ kann Carla noch in meine Richtung rufen, bevor sie etwas Bemerkenswertes tut:

Wie vom Dreimeterbrett im Freibad springt sie grazil von der Reling ab. Und für den sich in der Ewigkeit von Zeit und Raum ausdehnenden Bruchteil einer Sekunde, für den für immer in meine Netzhaut eingegrabenen Moment, steht vor ihrem Mund im Mondlicht ein langes, helles Band, wie die Flamme eines Feuerschluckers. Es sieht wunderschön aus, wie es im fahlen Schein aufleuchtet. Wie eine Skulptur aus Elfenbein oder Porzellan mit kleinen bunten Sprengseln…

Ich brauche einen Moment, um zu verstehen: Carla kotzt. Und zwar im Strahl.

Sie kommt unsanft auf dem dunklen Rasen auf, fällt halb um und dabei brabbelt sie durch die Kotze in ihrem Mund fortwährend:

„So geil, ey, das war so geil Alta“, und würgt immer wieder ruckartig Erbrochenes hoch, während sie langsam in die Hocke geht. Als würde sie nie etwas anderes tun als kotzen. Als wäre das so ihr Talent, von Sachen runterzuspringen und dabei lange, helle Kotzfahnen in die Luft zu malen.

Ich stehe daneben und halte mir den Bauch vor Lachen, kriege kaum noch Luft. Das darf nicht wahr sein, wie witzig ist das denn!? Mein Lachanfall wird so laut, dass Carla mir aus der Hocke „pscht, die Wärter kommen“ zumurmelt.

Liebe geht durch den Magen

So beben wir minutenlang auf dem nassen Gras vor uns hin wie die Bekloppten: Eine hockt und spuckt Essensreste aus (dem Geruch nach zu urteilen hat Carla sich eines BVB-Baguettes schuldig gemacht). Und die Andere steht daneben und kann nicht mehr vor Lachen.

„Ok los! Aber du musst mich auch anschubsen!“ sage ich als mein Zwerchfell und Carlas Magen sich wieder beruhigt haben.

Carla richtet sich auf, wischt sich den Mund mit dem Ärmel ab und grinst mich an. Das ist das Schöne, dass Punks einfach nicht zimperlich sind.
„Na los, Hopp-Hopp!“ sagt sie.

Es ist davor und danach nie wieder vorgekommen, aber ich sag euch was: In diesem Moment war ich richtig ein bisschen verknallt in Carla. Damit kriegt man mich anscheinend: kotzen und sich nicht groß was draus machen, einfach weiter im Text, als wär nichts Schlimmes vorgefallen.

Der harte Aufprall

Meine Gefühle kühlen sich allerdings schlagartig ab, als sie dann beim Anschubsen auf ihrer eigenen Kotze ausrutscht. Just in dem Moment, als ich gerade abspringen will, und es mich in voller Fahrt aus dem Karussell haut.

Ich weiß noch, mitten im Flug, im hohen Bogen, wie in einem dieser Träume, in denen es einen hoch in die Luft hebt und man das heftigste Kribbeln in der Magengrube spürt – genau auf diesem hyperrealistischen Scheitelpunkt meiner Flugkurve, schießt mir der blödeste Gedanke ever durch den Kopf. Ich höre plötzlich die Stimme vom alten Eckard, der in mein Ohr raunzt: „Na, is denn heute Fall-entin?“

Oida. Wie bescheuert.

Und dann – ich erinnere mich an keinen Aufprall – liege ich auf dem Boden und einen Atemzug später bricht der Vulkan in mir aus. Mein linkes Bein pumpt Massen glühende Lava durch die Venen. Und durch den aufsteigenden, siedend heißen Druck spritzen mir die Tränen nur so aus den Augen. Unten brennt mein Körper lichterloh, dafür wird er oben zur Fontäne.

Dann geht alles ganz schnell: Carla, spontan ausgenüchtert, rennt auf mich zu, schreit: „Was, was ist passiert? Alles ok?“

Ich versuche gar nicht erst zu antworten. Da ist nichts, aber auch gar nichts an Kraft zum Sprechen übrig. Alles geht vollständig drauf für das Atemholen inmitten der über mir zusammenschlagenden Wogen aus Schmerz und aus Glut.

Carla beugt sich zu mir runter.

„Kannst du aufstehen?“ fragt sie und legt mir die Hand auf die Schulter.

Wie eine Wahnsinnige wiege ich mich auf meiner rechten Arschbacke hin und her und schluchze und stöhne nur. Carla macht große Augen, sie rafft, dass ich mich ernsthaft verletzt habe und rennt zwischen den baumförmigen schwarzen Schatten über die Wiese rüber zu den Jungs.

Magma im Bein

Als ich sie davonrennen sehe, bekomme ich es mit der Angst. Man braucht nicht besonders viel Grips, um sich auszurechnen, dass drei besoffene Jugendliche nicht unbedingt die beste Hilfe in der Not sind. Außerdem sind wir in den Westfalenpark eingebrochen. Jedem von uns steht also eine Anzeige ins Haus, wenn wir jetzt den Krankenwagen rufen.

Ich liege wimmernd im nassen Gras und halte mit der Hand mein linkes Schienbein fest. Unter meiner Hand fühle ich eine eklige Beule, die so gar nicht zu einem Schienbein gehört. Und in dieser Beule pulsiert das Magma. Dann stehen plötzlich Carla, Felix und Kotsche vor mir und Felix murmelt irgendwas von wegen Anzeige und Bullen und ich wäre beinahe komplett ausgerastet, wenn Kotsche nicht nach einem kurzen Blick auf mein Bein wortlos sein Handy gezückt und den Krankenwagen gerufen hätte. Felix gerät daraufhin in leichte Panik.

Kotsche greift ein

„Komm, ich helf‘ dir hoch, komm, das geht schon, pass auf“, meint er nervös, packt mich am Arm und will mich hochziehen. Das hätte er aber lieber bleiben lassen. Mit allem, was ich an Restaggression aufbieten kann, pumpe ich Luft in meine Lungen und brülle ihm direkt ins Ohr: „LASS MICH!“

Aber Felix will, wenn er einmal groß ist, auf Schäferhunden in der Gosse schlafen. Und so jemanden verschreckt man nicht so leicht. Er zerrt jetzt an mir. Und ich schlage verzweifelt nach seiner Hand. Ich darf auf gar keinen Fall auch nur das kleinste bisschen Gewicht auf mein linkes Bein verlagern, sonst zerspringe ich vor Schmerz.

Da greift ein schwarzer Schatten nach Felix‘ Schultern und sofort lockert sich sein Griff. Kotsche hat ihm von hinten in die Kniekehlen getreten. Und Felix knickt ein. Dann packt Kotsche ihn, dreht ihn zu sich herum, wie man einen runden Kleiderständer dreht und schmiert ihm ziemlich lässig eine. Ich glaube, den ganzen Abend lang war Felix Perlemann ihm schon gehörig auf den Sack gegangen. Felix schreit „Tickst du noch ganz sauber!?“ Hält sich die Backe und starrt Kotsche mit dem Todesblick an.

Es sieht für einen kurzen Moment so aus, als würden sich die beiden jetzt gleich hemmungslos verprügeln. Aber da kreischt Carla irgendwas, das ich nicht mehr weiß und im selben Moment hören wir auch schon die Sirenen des sich nähernden Krankenwagen.

Prinzessin auf der Trage

Die zwei Sanitäter halten direkt neben uns auf der Wiese, steigen aus und wuchten eine Trage aus dem Kofferraum. Der Eine von ihnen ist jung und hat ein verschmitztes Gesicht. Der andere ist alt, hat staubgraue Locken und sieht teigig, unrasiert und müde aus.

Der Jüngere übernimmt das Reden:
„Na, was ham wa denn hier wieder angestellt, hm?“
„Bin. Vom. Karussell. Gefallen“, presse ich aus zwei Schmerzwehen mühsam heraus.
„Soso, gefallen“, meint der junge Sanitäter. Er und sein Kollege stehen jetzt direkt vor mir und blicken runter auf mein Bein.
„Auch Karussellfahren will gelernt sein“, meint der Junge müde grinsend. Man kann nicht sagen, dass ich in diesem Moment sonderlich empfänglich für blöde Sprüche bin.
„Kannst du aufstehen?“ spult der Ältere von beiden ab.
„Nei-en“, stöhne ich.
„Gut, dann tragen wir dich jetzt mal in unsere Kutsche und dann ab ins Krankenhaus, Prinzessin“, sagt der Junge.

Abreise

Die Zwei heben mich hoch und nachdem ich ihnen unter Löwengebrüll versichert habe, dass mein linkes Bein für sie absolut tabu ist, hieven sie mich mit kräftigen, routinierten Griffen auf die Trage und dann in ihren grell erleuchteten Kofferraum. Kurz bevor sie die Tür hinter mir schließen, sehe ich noch drei dunkle, ratlose Silhouetten in einer Reihe auf der Wiese stehen. Kotsche hebt noch die Hand zum Gruß, dann rummst die hintere Autotür zu.

Der ältere Sanitäter ist vorne eingestiegen und lässt den Motor an, der Jüngere sitzt hinten neben mir. Der Krankenwagen fährt mit Blaulicht durch den großen, dunklen Park. Runter zum Eingang „Buschmühle“. Je näher wir dem Eingang kommen, desto lauter hört man Musik dröhnen und Menschen grölen und lachen.

„Das Daddy Blatzheim“, denke ich auf einmal und richte mich etwas auf, als der Krankenwagen langsam durch die enge Ausfahrt manövriert, vorbei an lauter betrunkenen Teenies. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich in diesem Moment denke: „Der scheiß Park war die ganze Zeit über geöffnet!“

Face Palm.