Phänomenologie des Absurden: 20 Jahre „Infinite Jest“ von David Foster Wallace

David Foster Wallace zählte zu den meistgefeierten amerikanischen Autoren seiner Generation – und „Infinite Jest“ ist das Werk, auf dem dieser Ruhm fußt. Der 1200 Seiten starke Roman ist ein Geduldstest, vor allem aber: ein unvergleichliches, endlos faszinierendes Leseerlebnis. Zum 20. Jubiläum.

Es beginnt wie eine Versuchsanordnung. Der junge Hal Incandenza sitzt angstumschlungen vor einem Auswahlkomitee älterer Herren. Es ist ein Bewerbungsgespräch fürs College, das, wie wir später erfahren, Hal schon länger den Schlaf raubt und seinen Marihuanakonsum in außerordentliche Höhen treibt.

Angst, Konkurrenzdruck, Sucht, die Absurdität des Alltäglichen: All das findet sich bereits auf der ersten Seite von „Infinite Jest“. Vorstellen muss man sich Hals Gedankenwelt z.B. so: „There is silence. DeLint shifts his back against the room‘s panelling and recenters his weight. My uncle beams and straightens a straight watchband. 62,5% of the room‘s faces are directed my way, pleasantly expectant. My chest bumps like a dryer with shoes in it. I compose what I project will be seen as a smile.“ Liest man Sätze wie diesen, dann besteht kein Zweifel, dass man sich im Kosmos von David Foster Wallace befindet.

David Foster Wallace
David Foster Wallace 2006

1962 als Sohn einer Englisch-Professorin und eines Philosophie-Professors im Staat New York geboren und im ländlichen Illinois aufgewachsen, genießt David Foster Wallace auch heute, acht Jahre nach seinem Selbstmord, noch immer einen Status wie kein zweiter amerikanischer Autor seiner Generation. Seine Romane, Kurzgeschichten und Essays werden ebenso kultisch verehrt wie endlos studiert und gedeutet. „Infinite Jest“, sein monumentales Hauptwerk, trägt auch zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen noch immer eine rätselhafte Faszination in sich; und erscheint mit seinem exzessiv vorgeführten Scheitern am Informationsüberfluss der Welt aktueller denn je.

Zwischen Suchtklinik und Tennis-Akademie

Schauplatz von „Infinite Jest“ ist das Boston der nahen Zukunft. Die USA, Kanada und Mexiko haben sich zum Superstaat Organization of North American Nations (O.N.A.N.) zusammengeschlossen, in dem die politische und wirtschaftliche Kontrolle mehr oder weniger von Großkonzernen ausgeübt wird. Der Roman verfolgt zwei zunächst separate Handlungsstränge. Da ist zum einen der bereits erwähnte Hal Incandenza (welcher starke autobiografische Züge trägt), der als Stipendiat an der Enfield Tennis Academy mit seinen Unsicherheiten, seiner Kifferei und der dysfunktionalen Incandenza-Familie zu kämpfen hat.

„Mehr als alles andere ist „Infinite Jest“ das Produkt von Wallace‘ Obsession mit der amerikanischen Entertainmentkultur.“

Wenige hundert Meter entfernt liegt der zweite Hauptschauplatz, die Ennet House Suchtklinik. Zusätzlich zu den vielen Insassen, die im Roman eine Rolle spielen, liegt der Fokus vor allem auf Don Gately, einem ehemaligen Kleingauner und Drogensüchtigen, dessen innere Monologe den Roman in vielen Kapiteln durchziehen. Beiden Handlungsfäden werden sukzessive miteinander verknüpft, aber immer wieder von der großen Rahmenhandlung durchbrochen: Kanadische Separatisten planen nämlich einen Aufstand gegen die O.N.A.N. und versuchen, dafür an eine Videokassette des Experimentalfilms „Infinite Jest“ zu kommen, den einst Hals älterer Bruder James Orin Incandenza gedreht hat. Jener soll als politische Waffe eingesetzt werden, führt er doch Berichten zufolge zu einer derart exzessiven Stimulierung der Zuschauer, dass diese danach zu bloßen Marionetten werden.

Überstimulierung durch Infotainment

An jeder genaueren Ausführung dieses monströsen Plots kann ein Text wie dieser nur scheitern. Sowohl die schiere Menge an Informationen, die im Roman verstreut werden, als auch das lustvolle Unterlaufen kausaler Erzählzusammenhänge spotten einem solchen Versuch. Denn „Infinite Jest“ versperrt sich der allumfassenden Deutung, wird für seine Leser zu keinem Zeitpunkt vollkommen transparent. Und bietet doch gerade durch diese Offenheit jenes Entdeckungspotenzial, das diese Lektüre so reichhaltig macht.

Mehr als alles andere ist „Infinite Jest“ das Produkt von Wallace‘ Obsession mit der amerikanischen Entertainmentkultur. Was den Autor umtrieb, war die Überzeugung, dass die US-Gesellschaft als Ganze eine Süchtige war, deren Währung die Erzeugung von Bedürfnissen nach Eskapismus, Betäubung und Unterhaltung ist, deren Befriedigung in Form von Fernsehen, Drogen und Psychopharmaka gleich mitgeliefert wird.

So ist der Roman ein Hybrid verschiedener Elemente: zugleich Familiensaga und Satire, College-Roman und Suchtpsychogramm, Ohnmachtserklärung angesichts von Überstimulierung und rauschhafte Feier der Sprache. Jede Seite des Romans ist von dem Impuls durchzogen, Bedeutung in eine Welt zu bringen, in der selbige in einer medialen Flut aus Kleinstpartikeln unterzugehen droht. Dafür choreografiert Wallace eine aberwitzige Masse an Wörtern, Sätzen, Figuren, Kapiteln, Fußnoten und Handlungssträngen. Aus diesem Widerspruch – einen Roman zu schreiben, der einen die Absurdität der Welt erfahren lässt und gleichzeitig darüber hinausweist – gewinnt „Infinite Jest“ seine Sogkraft.

Depressionen und Alkoholsucht

„Infinite Jest“ ist dabei auch durchdrungen von Bezügen zu Wallace‘ eigener Biografie. Sein schwieriges Verhältnis zu Eltern und Schwester hallt in den Komplikationen des Incandenza-Clans ebenso nach wie die Depression und Alkoholsucht, mit denen Wallace seit seiner Jugend und Collegezeit zu kämpfen hatte.
Nach diversen Krankenhaus-Aufenthalten (u.a. in einer Klinik in Boston, welche die Vorlage für Ennet House im Roman bot) bekam Wallace nicht zuletzt in Selbsthilfe- und Therapiegruppen jenen minimalen und doch essenziellen Halt, den er in der zersplitterten, betäubten Konsumgesellschaft, als die er die USA wahrnahm, nicht mehr finden konnte. Zu vielen Teilnehmern jener Gruppen unterhielt Wallace auch privat Kontakt, wie D.T. Max in seiner Wallace-Biografie „Every Love Story is a Ghost Story“ erzählt. Er war niemand, der sich gern mit seinesgleichen, mit Menschen aus der literarischen und akademischen Welt umgab, oder sich in den Kulturmetropolen New York und Los Angeles aufhielt. Sein Bezugspunkt würde stets der Mittlere Westen der USA samt seiner unaffektierten Bewohner sein.

So sollte „Infinite Jest“ auch eine geerdete, weniger metafiktionale als wahrhaftige Form annehmen. Wallace‘ Debüt „The Broom of the System“ war noch ein postmoderner Roman par excellence, in dem auf kongeniale Weise Altersheime, neurotische Mittzwanziger, texanische Studentenverbindungen und die Ideen des Philosophen Ludwig Wittgenstein verknüpft werden. Im Dialog befand sich Wallace hier aber vor allem mit seinen literarischen Helden Thomas Pynchon und Don DeLillo. Danach nun wollte Wallace nicht mehr bloß literarische Avantgarde sein, sondern eine empathische Charakterstudie kreieren, die das Pathos wagt.

Überforderte Kritik?

Die Reaktionen auf „Infinite Jest“ waren zunächst durchwachsen. Die US-Kritiker reagierten wohlwollend aber verhalten angesichts von Wallace‘ monumentalem Magnum Opus, außerhalb der englischsprachigen Welt wurde wenig Notiz von dem Roman genommen – die deutsche Übersetzung mit dem Titel „Unendlicher Spaß“ erschien beispielsweise erst 2009. Der Autor selbst hatte auch kein Interesse daran, mehr Aufmerksamkeit als nötig auf sich und sein Buch zu ziehen. Im Rahmen einer dreiwöchigen Tour gab Wallace Lesungen in verschiedenen amerikanischen Städten, dazu ein paar ausgewählte Interviews. Zu mehr war der öffentlichkeitsscheue Autor nicht zu bewegen.

Bildschirmfoto 2016-02-02 um 14.45.10

Nun darf man natürlich fragen, ob dieser Maximalismus, die vielen Fußnoten (nicht weniger als 388), die komplexen, beim ersten Lesen manchmal schier undurchdringlichen Sätze notwendig sind. Was mit dieser genüsslichen Austestung der Grenzen des Erzähl- und Lesbaren gewonnen ist? „Infinite Jest“ verlangt einem ohne Zweifel einiges ab. Der Roman macht seine Wirkung nicht zu letzt davon abhängig, was man bereit ist, an Zeit und Aufmerksamkeit zu investieren.

Und natürlich ist ein gewisses Frustrationspotenzial bewusst angelegt, etwa durch das Spiel mit eben den vielen Fußnoten. Diese enthalten teils wichtige Informationen zum Verständnis des Plots, teils aber auch bloß Kryptisches bis gänzlich Unverständliches. Manchmal sind es nur ein paar Wörter, bei der nächsten Fußnote dann plötzlich fünf Seiten. Die Entscheidung darüber, was wirklich wichtig ist und was nicht, überlässt der Roman in weiten Teilen seinen Lesern. Wallace ursprüngliche Idee, dem Romantitel noch die Zeile „A Failed Entertainment“ hinzuzufügen, wurde auf Bitte seines Verlags Little, Brown verworfen.

Derlei ironische Ideen sind Ausdruck der vielleicht zentralen Frage, die „Infinite Jest“ stellt: Was geht verloren, wenn Menschen die Bereitschaft zu irgendetwas anderem als passiver Unterhaltung verlieren? In einer Existenz, die nur noch durch derlei oberflächliche Stimulation am Laufen gehalten wird, so suggeriert Wallace, wartet die große Einsamkeit. Dagegen anzuschreiben ist der Impuls, aus dem „Infinite Jest“ seine ausufernde Form und zugleich seinen moralischen Anspruch gewonnen hat.

Undurchdringlich und welterklärend zugleich

Denn es gibt Passagen von solch niederschmetternder Traurigkeit in „Infinite Jest“, dass man kaum imstande ist weiterzulesen, ebenso wie solche, die einen genialischen Humoristen auf dem Zenit seiner Kunst zeigen. Ein intensiveres Leseerlebnis wird man selten finden. „Eine Stretchübung fürs Gehirn“ nannte der Autor Dave Eggers „Infinite Jest“. Einschneidender jedenfalls wurde über Depression, Sucht und Kontrollverlust kaum jemals geschrieben. Und mit mehr Scharfsinn und komödiantischem Gusto hat niemand sonst die Widersprüche und Selbsttäuschungen unserer Welt beleuchtet. Mit alledem will „Infinite Jest“ nicht vor den Kopf stoßen, sondern herausfordern, um etwas zu kommunizieren. Literatur müsse, das hat Wallace im Verlauf seiner Karriere immer häufiger betont, ihre Katharsis und Erkenntnis im Dienste der Leser leisten, nicht für den Autor.

Inzwischen hat „Infinite Jest“ natürlich einen festen Platz im Kanon zeitgenössischer Literatur, wird gar mit James Joyce‘ „Ulysses“ oder Thomas Pynchons „Gravity‘s Rainbow“ in einem Atemzug genannt. Für den amerikanischen Kritiker und Autor Chad Harbach, Mitbegründer des nach einer Passage in „Infinite Jest“ benannten n+1 magazine, ist es gar der bedeutendste amerikanische Roman der letzten 30 Jahre. Und die britische Schriftstellerin Zadie Smith merkte einmal an, Wallace sei „so modern, dass er in einer anderen Zeit/Raum-Galaxie existiert, als der Rest von uns“.

„Er hinterließ, geordnet auf einem großen Stapel, das Fragment gebliebene Manuskript seines letzten Romans „The Pale King“.“

Dass dieses kolossale literarische Experiment darüber hinaus auch zu einem veritablen Verkaufserfolg werden konnte, ist da schon paradoxer, straft aber Kulturpessimisten wie etwa Philip Roth Lügen, die Romane schon länger als austerbende Spezies ansehen. Das ist vielleicht das Schönste an „Infinite Jest“: Dass der Roman nicht an seinen eigenen Ambitionen gescheitert ist, sondern so oft passioniert gelesen, gedeutet und diskutiert wurde.

Letztendlich aber blieb Wallace‘ literarisches Projekt widersprüchlich und unvollendet. Auch dadurch lässt sich die enorme Faszination erklären, die von seinen Arbeiten noch immer ausgeht. Man ist dazu eingeladen, in Dialog zu treten mit diesen Werken, die zugleich undurchdringlich scheinen und welterklärend sein wollen.

Zu einer weiteren Gipfelerklimmung sollte es nach „Infinite Jest“ nicht mehr kommen. Am 12. September 2008 nahm sich David Foster Wallace mit 46 Jahren das Leben. Er hinterließ, geordnet auf einem großen Stapel, das Fragment gebliebene Manuskript seines letzten Romans „The Pale King“.

Steve Rhodes picture alliance / dpa
Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates